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»Morgen Mittag, sobald Tom von der Schule nach Hause kommt. Packen Sie schon einmal Ihren Rucksack. Ich empfehle auf jeden Fall festes Schuhwerk und eine sehr warme Jacke, wenn’s geht wasserdicht. Ich muss zuvor noch ein paar Kleinigkeiten erledigen, wir sehen uns also morgen. Halten Sie sich bereit, seien Sie auf alles gefasst. Möglicherweise werden wir sehr rasch aufbrechen müssen«, erklärte er.
Jane war einverstanden, Stimme und Gestik voller Trotz. Veyron ignorierte ihr Gebaren einfach, verabschiedete sich mit halbwegs freundlichen Worten und verschwand wieder in das finstere Treppenhaus. Jane warf die Tür zu. Mit der Faust hieb sie gegen das Türblatt.
»Warum muss er mich andauernd provozieren? Er ist ein richtiges Aas, dein Patenonkel«, schimpfte sie.
Tom zuckte mit den Schultern. »Manchmal schon. Ich bin sicher, dass er dich eigentlich recht gern mag. Er kann es nur nicht so zeigen«, versuchte er Veyron in Schutz nehmen. Jetzt, wo er ihn endlich wieder nach Elderwelt mitnehmen würde, wollte er Veyron das unmögliche Verhalten der letzten Wochen nachsehen. Jane war jedoch anderer Meinung.
»Nein, der einzige Mensch, der Platz in seinem Herzen hat, ist er selbst – und vielleicht du noch. Mich kann er nicht ausstehen, das kannst du mir glauben. Ich hoffe nur, wir bringen uns nicht gegenseitig um.«
Tom sagte darauf lieber nichts. Er hoffte, seinen Paten in dieser Sache besser zu kennen als Jane, anderenfalls würde das kein sonderlich angenehmer Ausflug werden.
Eine halbe Stunde später trat Veyron Swift durch den Eingang von Galvin at Windows, dem sagenhaften Restaurant im 28. Stockwerk des Londoner Hilton Hotels an der Park Lane. Hier oben, von wo man einen fantastischen 360 Grad Blick über ganz London hatte, würde sich ein weiteres Puzzlestück finden, das mit seinem aktuellen Fall in Zusammenhang stand.
Tom wusste nichts davon, er ahnte es nicht einmal. Veyron hatte den Jungen für cleverer gehalten, aber vielleicht war es auch besser so. Immerhin war er erst fünfzehn Jahre alt und für Geschäfte dieser Art eindeutig zu jung. Sicherlich würde er mit Panik reagieren. Das war etwas, das Veyron überhaupt nicht brauchen konnte.
Er setzte kaum den Fuß durch die Eingangstür, als auch schon ein Kellner seinen Weg kreuzte und freundlich fragte, wie ihm weiterzuhelfen sei. Veyron hatte sein bestes Hemd angezogen, dunkelblau, nur ganz selten getragen, dazu seine feinste Hose und den teuersten Satz Schuhe, den er auftreiben konnte. Geschniegelte Geschäftsessen waren nicht seine Art. Er bevorzugte es, seine Klienten – und auch seine Feinde – in der Wisteria Road zu empfangen. In diesem Fall wollte er jedoch eine Ausnahme machen. Sein jetziger Gegenspieler war ihm in den letzten zwei Wochen nahe genug gekommen.
»Ich werde erwartet, Veyron Swift«, ließ er den Kellner wissen. Der nickte sofort und deutete nach hinten zu den Fenstern. Von dort hatte man einen großartigen Blick auf das gewaltige, blau beleuchtete London Eye und auf die dahinter liegende Waterloo Station.
Veyron bedankte sich mit einem Nicken und setzte sich in Bewegung, wurde aber plötzlich von einem Gast angerempelt – nur ganz kurz. Der Mann entschuldigte sich sofort. Veyron aber spürte, wie blitzschnelle Finger seine Hosentaschen abtasteten, seine Brust streiften und sogar sein Hinterteil. Im Nu war die Begegnung vorbei. Ohne sich umzusehen setzte er den Weg fort.
Selbstverständlich ist mein Gesprächspartner nicht allein gekommen, dachte er mit einem Schmunzeln. Er hat ein paar Helfer mitgebracht und natürlich wurde ich professionell gefilzt. Alles andere wäre auch eine Enttäuschung gewesen.
Am besagten Tisch saß ein Mann, gut zehn Jahre älter als Veyron, das schwarze Haar mit reichlich Gel nach hinten geschleckt, die Gesichtszüge ausdruckslos und ohne markante Eigenheiten. Charles Fellows. Bisher hatte Veyron nur indirekt mit ihm zu tun gehabt, kannte ihn nur von Beschreibungen. Das, was er von diesem Mann jedoch wusste, ließ Abscheu in ihm aufkeimen.
Fellows brachte reiche Finanziers und mittellose Terrororganisationen zusammen, organisierte Waffenschmuggel, plante Überfälle und Anschläge, Entführungen und Erpressungen. Einen skrupelloseren Menschen gab es wahrscheinlich nirgendwo auf der ganzen Welt. Jetzt saß er vor ihm, gekleidet in einem maßgeschneiderten Anzug, viele tausend Pfund wert, und bedachte ihn mit einem kalten Lächeln. Veyron setzte sich.
»Ihre Männer sind sehr gründlich. Haben Sie Angst, ich bringe eine Waffe mit, oder ein Abhörgerät? Sie kennen offenbar meine Methoden nicht«, begrüßte er Fellows mit dem freundlichsten Lächeln, zu dem er imstande war.
Fellows erwiderte die Geste beiläufig. »Reine Routine, Mr. Swift. Keine Sorge, meine Männer haben diesen Ort untersucht und infiltriert, seit ich ihn in meiner Email als Treffpunkt angab.«
Ein Kellner kam, servierte jedem eine Tasse Kaffee, dazu Gebäck. Fellows nickte dem Mann bestätigend zu, kühl, fast maschinell. Veyron achtete genau auf die Reaktion des Kellners. Sie fiel ebenso kühl aus. Noch einer von Fellows Männern? Sehr wahrscheinlich, Fellows überließ sicher nichts dem Zufall.
»Französischer Kaffee, der beste der Welt. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden?«, fragte Fellows und klang dabei so gelassen, als wäre dies hier nur ein gemütliches Plauderstündchen.
»Eine vortreffliche Wahl. Sie arbeiten hochprofessionell, das war mir von Anfang an klar. Ihre Söldner beobachten mein Haus jetzt schon seit zwei Wochen, recht unauffällig, getarnt als Handwerker, welche die 120 Wisteria Road renovieren, ein leerstehendes Haus. Perfekte Tarnung, aber nicht, wenn man es mit Veyron Swift zu tun hat«, sagte Veyron. Er schnappte sich die beiden Zuckerpäckchen am Tassenrand.
Fellows gestattete sich ein geschäftsmäßiges Lächeln in seinem weichen, nichtssagenden Gesicht.
»Alle Achtung, nicht schlecht für einen Provinzdetektiv aus Harrow. Ist das der Anlass, warum Sie gerade jetzt um dieses Treffen baten? Ich nehme an, Sie wissen sehr wohl, warum Sie in mein Zielvisier geraten sind?«
»Selbstverständlich. Es geht um Prinzessin Iulia aus Maresia und Ihre sichere Heimkehr nach Elderwelt. Schauen Sie nicht so verblüfft drein, Sie wissen ganz genau was ich meine«, erwiderte Veyron und riss die Zuckerpäckchen auf. Ungeschickt ließ er eines fallen. Der ganze Zucker verteilte sich über die Tischdecke. Veyron entschuldigte sich und wischte das Malheur weg. Seine Hände zitterten, er räusperte sich und ballte kurz die Faust. Ein flüchtiger Moment der Konzentration, ein langes Ausatmen. Das Zittern hörte auf. Er schenkte Fellows ein verlegenes Lächeln, riss anschließend das zweite Zuckerpäckchen auf und schüttete es in seine Tasse.
Fellows quittierte die Nervosität seines Gegenspielers mit eisiger Genugtuung.
»Mein Auftraggeber macht sich große Sorgen um die Prinzessin. Ehrlich gesagt, ich verstehe das Warum nicht so ganz. Eigentlich ist es in meinen Augen eine Lappalie. Aber Geschäft ist Geschäft«, meinte er.
Veyron rieb sich die Hände und nickte zustimmend.
»Nur, das diesmal Ihr Auftraggeber nicht den Namen H.G.W. Morgan benutzt, oder sollte ich besser sagen: Lord Nemesis? Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Klient den Namen Consilian trägt? Also, was genau erwartet Mr. Consilian nun von mir?«
Das herablassende Lächeln auf Fellows Lippen verschwand augenblicklich. Sein eh schon recht blasses Antlitz wurde noch um eine Stufe bleicher. Wortlos starrte er Veyron einige Sekunden an, dann schien er seine Fassung zurückgewonnen zu haben.
»Auf der ganzen Welt gibt es niemanden, der davon weiß«, raunte er, unterschwelligen Zorn in der Stimme, und auch einen Hauch von Furcht.
Veyron gestattete sich ein kurzes Triumphgefühl.
»Ich schon, Mr. Fellows, ich schon. Also, zurück zu Ihrem Klienten, den ehrenwerten Mr. Consilian.«
Fellows atmete tief durch, der Spaß war ihm vergangen.
»Mein Klient erwartet, dass Sie sich vollkommen aus der weiteren Entwicklung der Ereignisse heraushalten – ganz besonders die Prinzessin betreffend. Die Geschehnisse in Gloria Maresia sind nicht Ihre Sache, so soll ich es Ihnen ausrichten. Ach ja, ich soll zudem sicherstellen, dass Sie unter gar keinen Umständen Ihr sonst übliches Chaos anrichten. Die Sicherheit eines ganzen Imperiums steht auf dem Spiel.«
»Sie meinten wohl, die Sicherheit einer ganzen Welt. Ich fürchte, es ist zu spät. Ich habe der Prinzessin bereits zugesagt, mich ihres kleinen Problems anzunehmen.«
Fellows rührte einen Moment lang mit dem Löffel den Kaffee um.
»Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung, mit wem Sie sich hier anlegen, Mr. Swift«, warnte er, nun um einen deutlich bedrohlicheren Tonfall bemüht.
Veyron schüttelte mit einer Geste der Enttäuschung den Kopf. »Ich fürchte, Sie sind derjenige, der nicht die geringste Ahnung hat, mit wem er sich anlegt.«
Er maß den Blick mit Fellows. Sein Gesicht nahm einen Schein von Belustigung an, als er über Veyrons Worte nachdachte. In der Tat: Mit jemand seines Kalibers hatte es Fellows in seiner ganzen Karriere wohl noch nie zu tun. Veyron konnte erkennen, dass sie beide zu vollkommen gegensätzlichen Einschätzungen bezüglich seiner Fähigkeiten gelangt waren. Für Fellows war Veyron nichts weiter, als ein Spinner; ein wenig größenwahnsinnig und unberechenbar vielleicht, aber im Grunde nur ein harmloser Wicht.
»Mich interessiert nur die Summe, die man mir auf den Tisch legt. Alle meine Klienten bezahlen gut, Morgan ebenso wie jetzt Consilian. Vielleicht werfen Sie einmal einen Blick auf das hier«, sagte er und legte einige Fotos von Tom auf den Tisch; aufgenommen auf dem Schulweg.
»Mein Klient meinte bereits, dass Sie sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Aber Sie sollten immer daran denken, dass es bei Zuwiderhandlung nicht zuerst Sie erwischen wird, sondern Ihre Freunde, Ihre Nachbarn. Einfach jeden, nur nicht Sie.«
Er drohte mit einem derartig kaltschnäuzigen Ton, dass Veyron sich ernsthaft zu fragen begann wie viel von Fellows Menschlichkeit noch übrig war.
»Ich weiß nicht, ob Sie wirklich richtig ticken, Mr. Swift, aber vielleicht sollten Sie anfangen es herauszufinden. Wie viel bedeutet Ihnen Toms Sicherheit, wie viel empfinden Sie für Ihre Freunde bei der Polizei, zum Beispiel diese nette Miss Willkins? Sie hat Probleme mit ihrem Freund, wussten Sie das? Vielleicht sollte ich sie von dieser Qual befreien, was meinen Sie? Oder Ihre rührige Nachbarin, wie war doch wieder ihr Name … Sarah Fuller, nicht wahr? Glauben Sie, es würde ihr gefallen, mit zwei gebrochenen Beinen im Krankenhaus aufzuwachen«, fragte er im gemütlichsten Plauderton, freche Lachfältchen um die Augen.
Veyron sagte dazu gar nichts, nickte nur, griff nach vorne und nahm Fellows Kaffeetasse in Hand. Demonstrativ trank einen er einen Schluck daraus. Sein Gegenspieler war ob dieses Misstrauens ehrlich amüsiert. Er lachte verhalten, nahm seinerseits Veyrons Tasse und nahm einen kräftigen Schluck. Dann stellte er die Tasse wieder ab und zuckte mit den Schultern.
»Kein Gift, sehen Sie? Machen Sie sich nicht in die Hosen, Swift. Ich habe nicht vor, Sie auszuschalten – zumindest jetzt noch nicht«, versicherte er. »Wie lautet also jetzt Ihre Entscheidung?«
Unbewegt saß Veyron da, ebenso berechnend wie Fellows. Alle möglichen Szenarien geisterten durch seinen Verstand, Pläne und Schachzüge, die er allesamt wieder verwarf. Es gab kein Zurück mehr, die Schlachtlinien waren gezogen. Das Spiel hatte begonnen, jetzt war Veyron am Zug.
»Bei einer finanziellen Entschädigung könnte ich mir ein Stillsitzen durchaus vorstellen. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit«, sagte er, sichtlich bedrückt ob der chancenlosen Alternativen.
Fellows schien endlich zufrieden. Er hob noch einmal Veyrons Tasse an, der die Geste unwillig erwiderte. Sie stießen an, jeder nahm noch einen kräftigen Schluck.
»Goodbye, Mr. Swift. Ich denke, wir sehen uns bald wieder«, meinte Fellows. Er stand auf und schickte sich zum Gehen.
»Nein, werden wir nicht«, erwiderte Veyron finster. Das entlockte seinem Gegner ein weiteres, amüsiertes Lächeln. Veyron wartete, bis Fellows verschwunden war, dann bezahlte er die Rechnung. Fellows würde zuschlagen, genau wie befürchtet. Er würde ihm keine vierundzwanzig Stunden lassen.
Der Schulgong konnte gar nicht früh genug kommen. Endlich Freitagmittag, endlich Wochenende, endlich zurück nach Elderwelt. Blitzschnell hatte Tom seine Sachen zusammengepackt. Rasch verabschiedete er sich noch von seinen Freunden, dann flitzte er auch schon hinaus auf die Straße.
Er stopfte sich die kleinen Kopfhörer seines Smartphones in die Ohren und aktivierte die Musikdateien, so wie jeden Tag. Gangnam Style, zurzeit sein absoluter Favorit. Der Nachhauseweg führte die Straße runter, vorbei an ein paar gepflegten Gärten und alten Backsteingebäuden, bis zur nächsten Bushaltestelle. Von dort schnurstracks in die Wisteria Road, alles in allem etwa zwanzig Minuten – zwanzig Minuten, die ihn noch von Elderwelt trennten.
Er bog gerade um die Ecke in die High Street, als er für einen Moment nicht aufpasste und mit drei anderen Jugendlichen zusammenprallte. Sie waren ungefähr ein bis zwei Jahre älter als er, einer von ihnen auch bedeutend größer.
»Hey, hast du Penner keine Augen im Kopf?«, herrschte ihn der Große an und stieß ihn grob in den alten Maschendrahtzaun gegenüber. Tom zuckte vor Schmerz zusammen und wich zurück.
»Hast ja ein nettes Telefon. So eins will ich auch«, meinte der Große. Seine beiden Kumpels lachten. Sie begannen Tom einzukreisen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich in ernsten Schwierigkeiten befand. Vor ihm standen drei schulbekannte Schläger – und er hatte nicht aufgepasst. Weglaufen war jedoch schon lange nicht mehr sein Vorgehen, nicht mehr seit seinem Elderwelt-Besuch. Dort hatte er sich mit schlimmeren Kreaturen geprügelt, als es diese drei je sein könnten. Er ballte die Fäuste, bereit seine Haut teuer zu verkaufen.
Plötzlich übertönte Veyrons Stimme den Gangam Style in den Ohrstöpseln.
»Greif nach hinten in deinen Rucksack«, wies er ihn streng an.
Toms Gedanken schwirrten wirr herum. Wie um alles in der Welt kam Veyron in seine Musikdateien? Was sollte er mit seinem Rucksack?
»Nun greif schon nach hinten, oder die drei nehmen dich auseinander«, drängte die Stimme. Tom befolgte die Anweisung instinktiv. Tatsächlich spürte er plötzlich einen kühlen, runden Griff. Etwas steckte in seinem Rucksack, unsichtbar, aber zweifellos vorhanden. Er erkannte diesen Griff, spürte, wie er unter seinen Fingern wärmer wurde. Er fühlte den verschnörkelten, metallenen Schutzkorb drum herum. Das Daring-Schwert, das Zauberschwert aus Elderwelt!
»He, Kleiner, ich rede mit dir«, grölte der Große wütend. »Hörst du mir nicht zu? Rück dein Telefon raus! Ich will’s haben!«
»Das da kannst du haben!«, gab Tom zurück und zog den Griff aus seinem Rucksack. Vor den Augen der verblüfften Schläger wuchs eine fast ein Meter lange, funkelnde Schwertklinge aus dem Griff, beschlagen mit blauen Juwelen.
»Scheiße! Nichts wie weg! Der Typ ist ja krank!«, schrien die drei Banditen um die Wette und rannten davon. Tom wollte nachsetzen und ihnen die Hosen aufschlitzen, besann sich aber sofort wieder. Erstaunt starrte er das Zauberschwert an. Wie um alles in der Welt, war es überhaupt in seinen Rucksack gekommen?
»Gut gemacht, die bist du los. Aber jetzt ist Eile angesagt. Steck das Schwert weg und sieh dich um. Etwa zwanzig Meter entfernt siehst du ein schwarzes Auto, einen brandneuen Jaguar. Der folgt dir schon, seit du das Schulgebäude verlassen hast. Siehst du ihn?«, dröhnte Veyrons Stimme in seinen Ohren.
Tom steckte das Schwert in den Gürtel. Ohne Vorwarnung löste es sich in Nichts auf. Für einen Moment war er verblüfft, doch das war Teil jenes Zaubers, der auf dieser Waffe lag. Er drehte sich um und entdeckte die besagte Limousine.
»Siehst du die beiden Fahrer?«, fragte Veyrons Stimme.
»Ja, zwei Anzugträger, sehen wichtig aus. Was ist mit denen?«
»Sie sind hier um dich zu entführen. Eventuell sogar um dich zu foltern, im schlimmsten Fall um dich zu töten. Lauf um dein Leben! Lauf, lauf, lauf!«
Toms Herz schlug bis zum Hals. So schnell er konnte, warf er sich herum und rannte. Hinter ihm wurde ein Motor gestartet, er hörte ihn aufbrüllen. Sie waren wirklich hinter ihm her!
»Verfluchter Mist, verfluchter Mist, verfluchter Mist.«
Er rannte noch schneller, immer noch die Häuserzeile entlang. Wo sollte er hin? Zur Bushaltestelle, oder zurück zur Schule?
»Stopp! Da ist ein Fahrrad an dem Haus da drüben, silbergrau mit rotem Lenker. Siehst du es? Schnapp es dir«, gab ihm Veyron neue Anweisungen.
Tom entdeckte das Fahrrad, ein altes Mountainbike. »Das ist Diebstahl«, schnappte er keuchend.
»Unfug! Das Rad habe ich dort abstellen lassen. Los jetzt, tritt in die Pedale! Du überquerst die Straße und fährst in die entgegengesetzte Richtung.«
Tom packte besagtes Fahrrad, schwang sich auf den Sattel und tat wie Veyron ihm geheißen. Ohne nachzudenken oder hinzuschauen, jagte er quer über die Straße, wurde vom Kühlergrill seiner Verfolger nur knapp verfehlt. So schnell er konnte, radelte er die Straße zurück, wieder in Richtung Schule.
»Bieg links ab, dann die Waldron Road runter, bis zur nächsten Kreuzung.«
Tom musste eine Vollbremsung hinlegen, um die Kurve noch zu schaffen, seine Verfolger fuhren hinter ihm geradeaus weiter. Er hörte Reifen quietschen. Schon sauste er die Straße entlang, vorbei an eng geparkten Autos und Motorrollern. Obwohl er selbstmörderisch schnell war, trat er weiter mit aller Kraft in die Pedale. Er hörte wie sein Atem vor Anstrengung rasselte. Seine Kidnapper waren wieder dicht hinter ihm.
»Auf den Bürgersteig, Tom, schnell!«, dröhnte Veyrons Anweisung in den Ohrstöpseln.
Tom riss das Fahrrad zur Seite, mit einem Satz war er auf dem Bürgersteig, raste weiter die Straße entlang – vorbei an den direkt angrenzenden Hausfassaden und empörten Einwohnern, die im letzten Moment zur Seite sprangen.
»Gleich kommt ein großes Tor, es steht offen. Dort siehst du Mr. Puttner, ein älterer Mann mit Glatze. Fahr dort hinein und auf der anderen Seite wieder raus. Wenn du ihn siehst, winke ihm mal kurz.«
Tom glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er radelte hier um sein Leben und Veyron war zu Späßen aufgelegt? Ohne dem alten Mann, der dort tatsächlich stand, zu winken, schoss er in die große Hofeinfahrt. Im Nu befand er sich auf der anderen Seite des Grundstücks, wo ein weiteres, kleines Tor wieder auf die Straße führte. Auch dieses stand offen. Seine Verfolger schien er abgehängt zu haben.
»Du hättest ihm wirklich winken sollen. Das war sehr unhöflich von dir«, beschwerte sich Veyrons Stimme. Tom stieß einen lauten Fluch aus.
»Schön, dann eben nicht. Du bist jetzt in der Crown Street, fahr sie rauf bis zum Kreisverkehr, wo sie mit der Weststreet zusammentrifft. Sie sind wieder hinter dir! Gib Gas!«
Tom warf einen Blick zurück. Schon tauchte der schwarze Jaguar in seinem Blickfeld auf und beschleunigte. Tom stieg in die Pedale, spürte wie sich all seine Muskeln zu verkrampfen begannen. Er fürchtete schon, er würde jeden Moment zusammenbrechen. Aber die Furcht um sein Leben, verlieh ihm schier übermenschliche Kräfte. Wie eine Rakete jagte er die Straße entlang, selbst ein Rennradprofi wäre beeindruckt gewesen.
Tom achtete gar nicht auf die Menschen, die ihm auf dem Bürgersteig hinterher starrten. Er ignorierte auch die alte Lady, die vor ihm mit ihrem Rollator am Straßenrand stand. Es war ein altes, krummes Hausmütterchen mit Kopftuch und selbstgestrickter Jacke. Gerade wollte sie die Straße überqueren. Erschrocken sprang sie mit einem gellenden Aufschrei zurück – in letzter Sekunde. Tom wäre fast mit ihr zusammengeprallt.
»Ihr jungen Rowdies!«, hörte er sie wütend schimpfen. Tom wollte sie gerade verfluchen und drehte leicht den Kopf nach hinten. Die Alte schob ihren Rollator auf die Straße. Er hielt die Luft an. Der schwarze Jaguar kam mit brüllendem Motor herangeschossen. Reifen quietschten, ein gellender Aufschrei folgte.
Der Aufprall war entsetzlich, ein Knall wie bei einer Explosion. Der Rollator, oder besser gesagt, seine Einzelteile, flogen in alle Richtungen davon. Der Jaguar kam zwanzig Meter weiter zum Stehen, der linke Scheinwerfer kaputt, der Kotflügel eingedrückt, die Windschutzscheibe gesprungen. Von der alten Lady war nichts mehr zu sehen.
»Mein Gott, sie haben sie umgebracht! Sie haben sie einfach über den Haufen gefahren«, schrie Tom schockiert.
Dies wurde wohl gerade auch den beiden Fahrern bewusst. Er sah sie fluchend und wild gestikulierend streiten. Dann öffnete der Fahrer die Tür, um auszusteigen. Tom glaubte zu sehen, wie er unter sein schwarzes Sakko griff – zweifellos um dort eine Pistole herauszuziehen.
Auf einmal stand die alte Lady in der Tür, in der Hand eine Spraydose. Noch ehe der verblüffte Fahrer reagieren konnte, verpasste sie ihm eine Ladung Reizgas mitten ins Gesicht. Das schmerzerfüllte Gebrüll des Mannes ließ Tom regelrecht zusammenfahren. Der Typ krallte sich mit beiden Händen ins Gesicht, warf sich heulend hin und her, stürzte aus dem Fahrzeug. Der Beifahrer zog fluchend seine Waffe, doch die Lady war schon wieder verschwunden.
Tom wollte sich die Augen reiben, er verstand nicht, was da überhaupt geschah. Plötzlich war die alte Schachtel wieder da, diesmal auf der anderen Seite des Wagens. Sie riss die Tür auf, packte den Waffenarm des Beifahrers, drehte ihn mit einem schaurigen Knacken herum, entwand dem Mann die Waffe. Sie zog den brüllenden Mistkerl aus dem Wagen und hieb ihm den Kopf heftig gegen das Wagendach. Ohne weiteren Widerstand brach der Mann zusammen. Wie aus dem Nichts hielt die Lady plötzlich zwei Handschellen in der Hand, fesselte dem Mann die Arme an seine Beinknöchel; überkreuz. Danach huschte sie blitzschnell um das Auto herum und verfuhr mit dem Boden liegenden, vor Schmerz heulenden Fahrer genauso. Sie zog den Mann hoch und stieß ihn hinüber zu seinem bewusstlosen Kameraden.
Tom hörte bereits Polizeisirenen und das prägnante Heulen eines Krankenwagen. Die alte Lady, die gerade zwei gemeingefährliche Verbrecher ausgeschaltet hatte, kümmerte das nicht weiter. Sie setzte sich hinter das Steuer des Jaguars, machte die Türen zu und fuhr los. War das zu fassen? Die Alte klaute gerade das Auto der Schurken!
»Ich glaub, ich bin im falschen Film«, japste Tom fassungslos.
Der Wagen hielt neben ihm, die Lady öffnete die Beifahrertür.
»Einsteigen, junger Mann, sonst gibt’s den Hosenboden voll!«, krächzte sie ihn herrisch an. Tom fielen fast die Augen aus dem Kopf.
Unter dem albernen, violetten Lidschatten und dem knallroten Lippenstift, weiß geschminkt, übersät mit Altersflecken und der zottligen grauen Perücke, hätte er sie fast gar nicht erkannt.
Die wehrhafte Dame war niemand anderes als sein Patenonkel, Veyron Swift!
Tom sprang sofort ins Auto, schnallte sich an und Veyron fuhr los.
»Was ist da eben passiert? Was soll das alles? Warum sind Sie als Großmutter verkleidet«, fragte Tom. »Was wollten diese Typen überhaupt von mir?«
»Von dir? Gar nichts. Sie wollten etwas von mir. Wegen Prinzessin Iulia. Ich sagte ja bereits, dass sich die junge Dame in Gefahr befindet. Ich fürchte, wir wurden in diese Sache gegen unseren Willen hineingezogen. Aber ich habe alles genauestes geplant«, erklärte Veyron. Tom schaute durch die Heckscheibe hinaus. Zahlreiche Passanten hatten sich nun um die ausgeschalteten Kidnapper versammelt, Polizei und Krankenwagen waren auch schon da. Veyron bog in eine Seitenstraße ab.
»Gregsons Männer. Zum ersten Mal pünktlich. Der Mann macht sich noch«, sagte er und beschleunigte.
»Wo wollen Sie überhaupt hin?«, wollte Tom wissen.
»Nach Elderwelt. Aber jetzt müssen wir erst einmal Willkins abholen. Die Sache ist noch nicht gänzlich ausgestanden, Tom.«
Zwanzig Minuten später hielten sie vor 270b Reigate Street. Tom und Veyron stiegen aus und klingelten. Willkins ließ die beiden ein. Mit dem Lift fuhren sie hoch in den vierten Stock, wo Jane sie bereits erwartete. Sie trug wieder nur Jeans und Bluse, an den Füßen Turnschuhe. Neben ihr stand ein mächtig bepackter Rucksack, an dem ein Paar Bergschuhe und eine dicke Jacke baumelten. Jane fiel die Kinnlade nach unten, als sie Veyron in seinem Großmutter-Aufzug erkannte. Sie begann zu lachen, wundervoll hell und befreit.