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Sie verabschiedeten sich, und Danny schlenderte zu seinem Porsche, während Tom die gereichte Visitenkarte einsteckte und ins Wohnzimmer zurückkehrte.
Veyron saß immer noch in seinem alten Ohrensessel. »Was für ein Reinfall. Schade, ich hatte mir mehr erhofft, als einen liebeskranken Narren. Die Liebe, mein lieber Tom, ist in der Tat eine Krankheit, der man nur durch einen disziplinierten Verstand vorbeugen kann. Sie zerstört die Logik des Geistes und verhindert ein klares, rationales Denken. Kurzum: Sie macht Idioten aus uns allen«, seufzte er, als Tom wieder eintrat und sich auf die Couch fallen ließ.
»So ein Mist kann auch nur von Ihnen kommen. Mensch, Veyron! Haben Sie nicht aufgepasst? Die Lady, diese Fiona, hat in einem Buch von Professor Daring gelesen. Wie wir wissen, war der Mann ein Simanui, ein Zauberer. Sein Geist steckt in dem Schwert, das oben in Ihrem Arbeitszimmer hängt. Das muss doch was bedeuten!«, rief Tom aufgeregt.
Veyron winkte jedoch ab. »Zutreffend. Professor Daring war jedoch auch genau dies: ein Professor, und zwar für Geschichte, Vorgeschichte, Kunst und Germanistik. Er hat eine Vielzahl von Büchern geschrieben, die du heute alle noch kaufen oder dir in Bibliotheken ausleihen kannst. Tausende von Studenten haben schon in seinen Werken geblättert, ohne dass eine tiefer gehende Bedeutung darin läge. Google einfach mal, dann wirst du staunen. Darings Werke zur ägyptischen, griechischen und römischen Mythologie zählen zu den besten der Welt, wenngleich es unter den Experten Dispute über seine Interpretationen gibt. Das ist also absolut nichts Ungewöhnliches. Wenn uns der Darrow-Fall eines lehrt, dann vielleicht ein wenig Demut bezüglich unserer eigenen Erwartungshaltung. Und Mr. Darrow hat hoffentlich ebenso eine Lektion erhalten, die seinem Ego sicherlich nicht schaden wird. Übrigens: Wolltest du dich heute nicht mit deinen Freunden treffen, um sinnlos die Zeit zu vertändeln?« Damit war das Thema für seinen Patenonkel abgehakt. Plötzliche Themenwechsel bedeuteten ganz klar: keine weitere Diskussion.
Tom schüttelte ob dieses Unverständnisses noch einmal den Kopf, stand auf und ging hinauf in sein Dachbodenzimmer. Die Aussicht, wieder in einen interessanten Fall verwickelt zu werden, war für dieses Wochenende erst einmal dahin.
Kurze Zeit später hing Tom mit seinen Kumpels Bert und Bill am Spielplatz ab. Natürlich nicht, um im Sandkasten zu spielen oder zu rutschen. Für drei Sechzehnjährige kam so was nicht mehr infrage. Sie hätten auch zu Bert gehen können, der hatte ein paar neue Spiele für seine Konsole. Oder zu Bill, dessen Vater sie öfter mal auf ein Bier einlud. Veyron sah es zwar nicht gern (und das Auge des Gesetzes auch nicht); letztlich ließ er es Tom immer durchgehen, genauso wie die eine oder andere Zigarette. Aber auf dem Spielplatz war es gemütlich, und sie hatten ihre Ruhe. Tom fand, dass es keinen besseren Platz zum Abhängen gab. So saßen die drei auf dem verlassenen Karussell, warteten auf den Rest ihrer Clique und schickten sich unterdessen lustige YouTube-Videos oder WhatsApp-Nachrichten.
»Herumhängen und chillen ist echt das Beste«, sagte Bert Ramsey, den Tom als seinen besten Kumpel bezeichnete.
Sie hatten sich kennengelernt, als Tom von Ealing nach Harrow wechseln musste, und sich sofort gut verstanden. Bill Huggins hatte sich ihnen etwas später angeschlossen. Ein paar weitere Jungs ihres Alters kamen für gewöhnlich dazu, wenn sie auf dem Morshower-Spielplatz abhingen. Der bestand nur aus einem teils von Gras überwachsenen Sandkasten, einer rostigen Schaukel und einem quietschenden Kinderkarussell. Tom konnte sich nicht erinnern, hier jemals Kinder gesehen zu haben. Seit zwei Jahren war dies ihr regelmäßiger Treffpunkt.
»Genau, Alter. Wir könnten runter in die Stadt. Ich hab langsam Hunger«, schloss sich Bill der Auffassung seines Freundes an.
Tom grunzte verächtlich. »Du hast doch immer Hunger«, meinte er.
Bert kicherte; Bill stemmte in gespielter Empörung die Fäuste in die Hüften. »Hey«, protestierte er. »Nur weil ich kein solcher Hungerhaken sein will wie du? Schau dich doch mal an – jeder könnte dich einfach umnieten, wenn er wollte. Stimmt’s, Tom?«
Bert musste wieder kichern. Bill war gegen ihn ›fest gebaut‹, wie er das nannte – andere hätten wohl eher rundlich gesagt.
Tom zuckte mit den Schultern. »Soll doch jeder machen, wie er glücklich ist.« Insgeheim war er froh, weder so dick wie Bill noch so klapperdürr wie Bert zu sein.
»Du hast gut reden, dabei bist du auf dem besten Weg, dem Idioten Rodgers Konkurrenz zu machen. Als Held der Schule stehen alle Mädchen auf dich«, maulte Bert.
Tom verdrehte die Augen und winkte ab. »Falls du auf diese Sache mit dem Polizeischutz letztes Jahr anspielst: Das wird völlig überbewertet.« Seinen Freunden konnte er – trotz aller Vertrautheit – ja schlecht erzählen, dass er damals in Wahrheit Elderwelt besucht hatte.
»Ach ja? Und was ist mit der Polizei, die bei euch ständig ein- und ausgeht? Von den ganzen anderen Leuten reden wir gar nicht. Nein, Tom, da kommst du nicht mehr raus! Du hast ja keine Ahnung, was so alles erzählt wird. Du und dein Onkel, ihr wärt Terroristen auf den Schlips getreten. Und diese Typen, die vor der Schule immer allen aufgelauert haben? Die hast du im Alleingang fertiggemacht – mit einem Schwert!«, hielt Bill dagegen.
Tom knirschte mit den Zähnen. Von einem gewissen Standpunkt aus war das alles richtig – wenngleich ein klein wenig übertrieben.
»Genau, und vor zwei Jahren waren du und dein Onkel die einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes«, steuerte Bert bei.
Tom lachte und stieß das Karussell an, auf dem seine beiden Freunde saßen. »Ja, ja. Und wenn schon. Hey, ihr könnt ja damit angeben, dass ihr mit einem echten Superhelden befreundet seid. Ich könnte ja Autogrammstunden organisieren. Vielleicht beißt bei euch dann auch mal ein Mädel an«, gab er zurück.
»Idiot«, raunzte Bert, und Bill fügte an: »Du Arsch.«
Tom lachte noch lauter und bremste das Karussell so ruckartig ab, dass die beiden fast aus den Sitzen geschleudert wurden und die beiden aufschrien und sich festklammern mussten. Sobald sie sich gefangen hatten, brummelte Bill vor sich hin, während Bert in Toms Gelächter einfiel.
Gemeinsam schlenderten sie dann ein paar Meter über den verlassenen Spielplatz, ohne recht zu wissen, wohin oder was sie tun sollten. Normalerweise wären längst Norman, John und Marc zu ihnen gestoßen, doch heute ließen die anderen Kumpels auf sich warten.
»Wo bleiben die denn bloß? Seit Marc die Schule geschmissen hat und in der Tankstelle jobbt, hat er fast nie mehr Zeit«, beschwerte sich Bill.
Tom seufzte beim Gedanken daran, dass auch für sie bald eine neue Zeitrechnung beginnen würde. Nächstes Jahr standen die ersten Examina an. Bert wollte aufs College wechseln und studieren, Bill wusste noch gar nicht, was er danach tun sollte – und Tom? Journalismus, dachte er, wie so oft in diesen Tagen. Ich will Journalist werden, genau wie mein Vater.
Bill zupfte ihn am Ärmel und riss ihn aus den Gedanken. »Schau, da ist unser Schatten. Ernie ist wieder da«, sagte er und nickte hinüber zu einer Gruppe Sträucher. Dahinter war deutlich eine Gestalt zu erkennen.
»Der schon wieder«, stöhnte Tom.
Ernie Fraud, ein schüchterner Junge aus der Parallelklasse, verfolgte sie jetzt schon seit zwei Wochen fast jeden Tag. Er war hochgewachsen und hager, das Gesicht stets ernst. Tom hatte ihn noch nie lächeln sehen. Erst vor Kurzem war er an die Schule gekommen und, soweit Tom wusste, ein hochintelligenter Junge, aber irgendwie seltsam. Niemand in seiner Klasse wollte sich mit ihm anfreunden, was auch kein Wunder war, da sich Ernie allem verweigerte. Er machte beim Sport nicht mit, redete mit niemandem und wenn, dann nur Gemeinheiten und Beleidigungen. Nur zu Toms Clique schien er sich neuerdings hingezogen zu fühlen. Stets beobachtete er sie aus sicherer Entfernung, und solange sie nur zu zweit oder zu dritt waren, traute er sich sogar zu ihnen rüber. Für gewöhnlich kam es nur zu einer kurzen Begrüßung, dann umkreiste Fraud sie wie ein Haifisch auf Beutefang oder saß einfach nur abseits und suchte Aufmerksamkeit. Tom tat der schüchterne Junge fast ein wenig leid. Ernie besaß keine Freunde – außer einer Facebook-Freundin, die sich Judy nannte. Er hatte Tom mal so was erzählt, als sie sich kurz unterhalten hatten. Soweit Tom wusste, war diese Judy auch Ernies einzige Facebook-Freundin. Ein armer Kerl.
»Und da kommt Ärger anmarschiert. Rodgers ist da«, sagte Bert und nickte in die entgegengesetzte Richtung.
Toms Fäuste ballten sich fast instinktiv, als er diesen Namen hörte.
Stevie Rodgers, einen halben Kopf größer als Tom und annähernd doppelt so breit in den Schultern, stolzierte heran, gefolgt von seinen vier üblichen Handlangern – deren Namen Tom immer wieder entfielen.
»Gleich setzt es was. Der arme Ernie«, meinte Bill.
Tatsächlich umstellten Rodgers und seine Jungs Fraud, kaum dass sie ihn erspäht hatten. Tom konnte die gewechselten Worte nicht genau verstehen, aber es waren ohne jeden Zweifel üble Drohungen und Gemeinheiten. Normalerweise machten sich Rodgers und seine Leute einen Spaß daraus, Ernie das Fürchten zu lehren und ihn dann wegrennen zu lassen. Doch diesmal war es anders – die Burschen waren auf Stunk aus. Rodgers, Rugbymeister der Schule, war bekannt für sein hämisches Grinsen und sein herablassendes Gehabe. Das war ihm heute abhandengekommen.
»Was hat Ernie denn ausgefressen?«, wollte Tom wissen und deutete auf Rodgers’ knallrot angelaufenes Mopsgesicht.
Seine beiden Freunde schauten ihn dermaßen verwundert an, als würde das die ganze Welt wissen, mit Ausnahme von Tom. »Weißt du das gar nicht? Fraud ist verknallt. Und zwar in Lilly«, klärte ihn Bill auf.
Tom machte große Augen. »In Stevie Rodgers Schwester? Okay, wer ist das nicht? Sie ist aber auch wirklich heiß.«
Bert stimmte ihm zu. »Gute Gene in der Rodgers-Familie: die Schönheit für die Mädels und die Muckis für die Jungs. Der arme Ernie.«
»Der Idiot hat Lilly einen Liebesbrief geschrieben. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, so viel Traute«, ergänzte Bill.
»Hat sie das etwa ihrem Bruder gesagt?« Tom war entsetzt.
Doch Bill schüttelte sofort den Kopf. »Nein, hat sie nicht. Lilly hat es aber ihre Freundinnen wissen lassen. Zu denen gehört ja auch Vanessa, die mit Stevie geht. Die hat es ihm dann gesteckt. Und Stevie ist der Meinung, dass Ernie Fraud nicht zu seiner Schwester passt.«
Tom nickte nur. Seine Aufmerksamkeit galt dem Geschehen rund um Fraud und Rodgers. Gerade fingen dessen Kumpel an, Ernie hin und her zu schubsen. »Okay, das reicht. Ich greif ein«, entschied er und machte einen Schritt nach vorn.
Bert packte ihn am Arm. »Lass das! Das geht uns nichts an. Die sind zu fünft und wir nur zu dritt. Und Fraud wird davonlaufen. Hör bloß auf, Tom!«
Tom riss sich los und ging weiter, nur Bill folgte ihm zögernd. »Warten wir doch lieber auf Norman und John. Dann ist es ausgeglichen«, versuchte Bill ihn zu bremsen.
In diesem Moment sah Tom Ernie zu Boden gehen und die Fäuste von Stevies Kumpeln fliegen. Nein, er würde nicht mehr länger warten. Die Entscheidung war gefallen.
In Elderwelt hab ich mich mit Schraten, Kobolden, Trollen und Fenriswölfen angelegt, dachte er. Ich werde jetzt bestimmt nicht vor einem Rugbymeister und seinen Schlägern kneifen.
»Hey! Hört auf, ihr Idioten«, rief er in Rodgers Richtung und begann zu rennen.
Sofort wirbelte der zu ihm herum, blanken Zorn im Gesicht.
»Oh Mann, da kommen die drei Trolle«, hörte Tom einen der Handlanger (George oder so ähnlich) höhnen.
Drei? Tom schaute kurz über die Schulter. Ja, Bert hatte seine Furcht überwunden und nahte heran.
»Halt dich da raus, Packard!«, drohte Rodgers.
Doch Tom wurde kein bisschen langsamer. Das schien zumindest die vier Handlanger etwas zu verunsichern.
»Lasst Ernie in Ruhe. Der arme Kerl hat es schwer genug. Was seid ihr nur für Feiglinge?«, schalt Tom sie.
Die Bande lachte, allein Rodgers fand das gar nicht lustig. »Verzieh dich, Packard – oder du bist derjenige, der ein paar aufs Maul kriegt!«
»Kannst es ja mal versuchen, Rodgers. Ich bin schon mit schlimmeren Typen fertig geworden. Lass Ernie in Ruhe, dann brauchst du morgen auch nicht zu erklären, wo du die gebrochene Nase herhast.«
Tom stand seinem Kontrahenten jetzt direkt gegenüber, war nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Rodgers bebte vor Zorn; seine Kumpels begannen, Tom, Bill und Bert einzukreisen.
»Kannst du wenigstens Karate?«, raunte Bill leise zu Bert.
»Hey, ich bin Intellektueller! Meine Waffe ist die Feder, nicht das Schwert«, versuchte der einen Witz daraus zu machen. Rodgers Kumpel fanden ihn nicht besonders lustig.
Anspannung lag in der Luft wie ein straff gezogenes Seil. Jeden Moment würde es reißen. Tom kannte dieses Gefühl zur Genüge und war auf alles gefasst; er war ein Kämpfer, trainiert durch die Abenteuer in Elderwelt. Rodgers würde es gleich zu spüren bekommen.
Doch dann sprangen dessen vier Kumpels vor und stürzten sich auf ihn, Bill und Bert. Es entbrannte ein Gerangel. Aus dem Augenwinkel sah Tom seine beiden Freunde mit je einem der Schläger kämpfen, dann packten die anderen beiden ihn von hinten an den Armen und hielten ihn fest. Tom trat wütend um sich und erwischte ein ums andere Mal ihre Schienbeine. Schreiend ließ der eine los, sodass Tom sich auch aus dem Griff des anderen winden und seinen Gegner stellen konnte. Er spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Adern schoss, wie es seine Reaktionen beschleunigte, wie er fast wie von allein Schläge parierte und selbst welche austeilte. Er wollte es nicht zugeben, doch ein kleiner Teil von ihm genoss es. Einer von Rodgers Kumpels sackte zu Boden, keuchte und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Brustkorb. Tom wusste, wo er hinschlagen musste. Veyron Swift war ein meisterhafter Lehrer gewesen. Seit ihrem ersten Abenteuer hatten sie immer wieder mal ein wenig trainiert – und noch mehr nach ihrem zweiten.
Doch auch auf ihrer Seite gab es Verluste. Bert lag schon am Boden, und Bill rang mit gleich zwei Gegnern. Da griff auch Rodgers ein, schneller und stärker als seine Spießgesellen. Sein Faustschlag erwischte Tom mitten im Gesicht. Er schmeckte warmes Blut, das ihm aus der aufgeplatzten Lippe übers Kinn lief. Den nächsten Schlag konnte er gerade noch abwehren, aber nicht den Tritt in die Kniekehle, den ihm einer von Rodgers’ Handlangern verpasste. Noch ein Schlag von Rodgers, den er parierte. Aus den Augenwinkeln sah Tom, wie Ernie Fraud flüchtete und lauthals um Hilfe rief. Der eine Schläger wollte ihm nachsetzen, doch Tom holte ihn mit gestrecktem Bein von den Füßen. Mit wütendem Gebrüll warf sich Rodgers nun auf Tom, doch der verpasste dem Kerl einen dermaßen harten Kinnhaken, dass dessen Zähne knirschten. Den entfesselten Zorn seines Feindes konnte Tom damit jedoch nicht eindämmen. Rodgers war nicht umsonst Rugbymeister. Schmerz machte ihn nur noch wilder.
»Ich bring dich um, Packard!«, brüllte er.
Plötzlich quietschten Autoreifen, lautes Hupen ließ zum Schlag erhobene Fäuste in der Luft verharren. Ein schwarzer Range Rover preschte mitten auf den Spielplatz. Rodgers Kumpels suchten sofort das Weite. Er selbst versuchte ebenfalls zu fliehen, doch Tom hielt ihn fest.
Jetzt flogen die Wagentüren auf, und zwei kräftige Männer in Anzügen sprangen heraus. Sie stürmten vor, packten Rodgers und schleuderten ihn zur Seite.
»Mr. Packard?«
Tom nickte benommen.
»Sie müssen mit uns mitkommen«, befahl der eine streng, während der andere Bill und Bert auf die Beine half.
»Warum«, fragte Tom und wischte sich Blut aus dem Gesicht.
Der Mann zückte seine Dienstmarke. »CID. Wir haben ein paar wichtige Fragen«, sagte er.
Tom wollte protestieren, aber dann kam ihm in den Sinn, dass Veyron vielleicht einen neuen Fall ergattert hatte. Die Neugier ließ seine Kampfeslust schlagartig verpuffen. Er stand auf, warf Stevie Rodgers einen letzten zornigen Blick zu und folgte den beiden Männern zum Wagen.
»Ich meld mich später, wenn ich weiß, was los ist«, rief er Bill und Bert zu.
Rodgers’ Zorn war dagegen noch lange nicht verflogen. »Das ist noch nicht zu Ende, Packard!«, brüllte er, dann sprang er auf und rannte davon.
Bill und Bert riefen ihm ein paar sehr unflätige Namen hinterher. Mehr bekam Tom nicht mehr mit. Die Männer schoben ihn auf die Rückbank, machten die Tür zu und stiegen vorn ein. Eine verdunkelte Scheibe trennte das hintere Abteil von den Fahrersitzen. Die Fahrt ging los.
Tom war nicht allein. Neben ihm saß eine junge Frau, sie mochte wohl Mitte zwanzig sein, relativ hübsch und in einen ähnlich teuren Anzug gekleidet wie die beiden Männer vorn. Ihr langes Haar trug sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengeknotet. Das gänzlich ungeschminkte Gesicht ließ sie ein wenig burschikos wirken.
»Wie ich sehe, kamen wir keinen Moment zu spät. Tut mir leid, dass wir nicht schneller waren. Wir erhielten die Nachricht über Ihren Aufenthaltsort erst vor zehn Minuten«, erklärte die Frau und reichte Tom ein Taschentuch.
Er nahm es dankend an und tupfte sich Blut von der aufgeplatzten Lippe. Erst jetzt spürte er die Schmerzen in der Brust, an den Armen und im Gesicht. »Kein Problem. Aber wir hätten das schon geschafft. Ich hatte diesen Rodgers schon fast am Boden«, log Tom.
Die Frau kicherte. »Natürlich«, meinte sie nur.
Tom schaute sie genauer an. »Sie sind nicht vom CID. Gregson schickt normalerweise Willkins, Brown oder den Idioten Palmer«, stellte er fest.
Sie nickte. »Nein, das war nur die Story, die wir Ihren Freunden erzählen mussten, Mr. Packard. Sie haben ja einen gewissen Ruf an Ihrer Schule, darum schien uns das glaubhaft. Ich bin Agent Hunter vom MI-6.«
Jetzt war Tom wirklich sprachlos. Es verging fast eine Minute, bis ihm etwas einfiel, das ihm weder blöd noch peinlich vorkam. »Wow.«
Und sofort war es ihm peinlich. »’Tschuldigung. Aber das ist echt … wow! Dürfen Sie mir das überhaupt sagen?«
»Natürlich. Wir fahren zum MI-6-Hauptquartier, darum wäre es wohl sinnlos, das geheim zu halten. Das kennt eh schon die ganze Welt«, erklärte Hunter. Sie lächelte, als sie Toms verdutztes Gesicht bemerkte. »Der Direktor will Ihren Patenonkel treffen, doch der bestand darauf, dass auch Sie an diesem Treffen teilnehmen«, führte sie weiter aus, als erriete sie seine vielen unausgesprochenen Fragen.
»Okay. Wie haben Sie mich überhaupt gefunden? Beobachten Sie mich schon länger?«
»Ja – zumindest, seit der Direktor mit Ihrem Patenonkel Kontakt aufgenommen hat. Das war vor zwei Wochen. Ich bin Judy.«
»Wie Ernie Frauds Facebook-Freundin«, murmelte Tom. Dann wurde ihm die Bedeutung dieser Tatsache bewusst. »Na klar, Sie sind es! Darum hat Ernie die Nähe zu meinen Kumpels und mir gesucht. Sie haben ihn als Spion eingesetzt! Also, das ist gemein, richtig gemein sogar.«
Hunter zuckte beiläufig mit den Schultern. »Der Zweck heiligt die Mittel, Mr. Packard. Ernie hält große Stücke auf Sie. Es war also recht leicht, ihn zu rekrutieren. Als Gegenleistung erhielt er ein wenig Verständnis und Freundschaft. Hat ihm nicht geschadet – und uns geholfen. Ohne diese kleine Maßnahme hätte dieser Rodgers Sie wohl zu Mus verarbeitet.«
Tom kam nicht darum herum, dem zuzustimmen. Auf die anschließend Frage, was der MI-6 von Veyron wollte, erhielt er jedoch ebenso wenig eine Antwort wie darauf, zu welcher Abteilung Agent Hunter gehörte. Sie lächelte stets nur, zückte ihr Smartphone, tippte irgendwelche Nachrichten ein und tat so, als existiere er gar nicht. Die Unterhaltung war für sie wohl beendet, und Tom begnügte sich damit, aus dem Fenster zu blicken und den Häuserzeilen zuzusehen, die an den Fenstern vorbei wischten.
Wie lang die Fahrt genau dauerte, vermochte er nicht zu sagen, so aufgeregt, wie er war. Irgendwann tauchte jedoch das unverwechselbare Hauptquartier des Special Intelligence Service am Vauxhall Cross auf. Tom war von der majestätischen Erscheinung des riesigen Gebäudes beeindruckt, das Elemente einer antiken Zikkurat mit moderner Architektur in sich vereinte. Von Mitarbeitern wurde es daher auch ›Babylon an der Themse‹ oder scherzhaft ›Legoland‹ genannt.
Der Range Rover hielt vor dem Haupteingang. Hunter und Tom stiegen aus, während die anderen beiden Agenten weiterfuhren. Die Agentin führte Tom ins Gebäude, vorbei an Sicherheitskontrollen und einige Korridore entlang, bis sie zu einem Aufzug kamen. Tom erblickte viele Mitarbeiter in teuren Anzügen und kam sich selbst schon fast ein wenig wie James Bond vor. Das war alles so aufregend!
Er stieg mit Hunter in den Aufzug und versuchte, sich so viele Details einzuprägen wie möglich. Wer konnte schon sagen, ob er jemals wieder ins Hauptquartier des MI-6 käme.
Ein paar Augenblicke langten sie in einem der oberen Stockwerke an, gingen einen weiteren Korridor hinunter und betraten ein geräumiges Vorzimmer. Das ist ja wirklich so ähnlich wie im Kino, dachte er.
Sie wurden ins Büro des Direktors vorgelassen, wo Veyron bereits in einem der Besuchersessel lümmelte. Tom fand es fast ein wenig peinlich, dass sich sein Pate nicht einmal jetzt anständig hinsetzen wollte.
Hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters. »Ah ja, Mr. Packard. Setz dich, mein Junge. Danke, Hunter. Sie können gehen«, sagte er freundlich.
»Keine Ursache, C«, sagte die Agentin und verließ den Raum.
Also wurde der Direktor des MI-6 von seinen Mitarbeitern wirklich C genannt! Tom fand das sehr aufregend. Es verlieh den James-Bond-Filmen doch glatt Authentizität. C deutete auf einen der freien Sessel. Fast ehrfürchtig nahm Tom Platz.
Der Direktor langte über den Tisch und reichte Tom die Hand. »Willkommen beim SIS, Tom. Ich darf doch Tom sagen, oder?«, begrüßte er ihn. »Dein Onkel ist der loyalste Mensch, der mir je begegnet ist. Er weigerte sich partout, ein Wort zu sagen oder mich anzuhören, ehe du nicht dabei wärst.«
»Tom ist mein Assistent und hat mir schon in zahlreichen Fällen beigestanden. Sie können vor ihm absolut frei reden, anderenfalls hätte ich ihn sowieso in alles eingeweiht, was heute hier besprochen wird«, erläuterte Veyron, ohne C oder Tom dabei anzublicken. »Da wir nun vollzählig sind, können wir vielleicht beginnen, ohne noch mehr Zeit zu verschwenden. Ich hoffe nur, Sie können den Streit mit Ihrer Frau beilegen, sowie wir hier fertig sind. Besser wir beeilen uns, Ihre beiden Hunde warten sicher aufs Gassigehen.«
Der Direktor starrte Veyron für einen Moment verblüfft an, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern kam gleich zur Sache. »Mr. Swift, ich wende mich heute in einer dringenden Angelegenheit an Sie, die von nationalem Interesse ist. Sagt Ihnen die Zaltianna Trading Company etwas?«
Tom schaute zu seinem Patenonkel. Natürlich kannten sie die ZTC! Diese Firma war in eine üble Sache verwickelt gewesen, auf die sie im Lauf ihres letzten Abenteuers gestoßen waren.
»Ich bin nur entfernt damit vertraut«, log Veyron zu Toms Überraschung.
»Die ZTC ist die vielleicht größte Transport- und Logistikflotte unserer Zeit. Gegründet von einem gewissen Avron Zaltic, verschifft sie Waren im Milliardenwert. Die Auftraggeber der ZTC gehören zu den kriminellsten Personen und Organisationen auf der ganzen Welt. Waffenschmuggel, Sklavenhandel, es gibt kaum ein schmutziges Geschäft, in das die ZTC nicht verwickelt ist. Nur beweisen kann man es ihr nicht. Natürlich stehen solche Konzerne unter unserer Beobachtung. Wir haben zum Beispiel erfahren, dass die ZTC viele tausend Tonnen vorbehandelter Rohstoffe und Maschinenbauteile hat verschwinden lassen. Das kommt immer wieder vor, und niemand weiß so recht, wie sie das anstellen«, führte C aus.
Veyron zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Ähnliche Sachen sind mir auch zu Ohren gekommen. Ich verstehe jedoch nicht, wieso Sie meine Hilfe benötigen. Der MI-6 besitzt ganz kompetente Agenten; meistens jedenfalls«, meinte er.
Der Direktor hob ob dieser leisen Kritik nur kurz die Augenbrauen. »Wir benötigen Ihre Expertise als Fachmann für unnatürliche Angelegenheiten. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Sie der einzige Mann Englands sind, der für diese Art von Aufgabe infrage kommt. Unsere Agenten haben einige Nachrichten zwischen verschiedenen ZTC-Abteilungen abgefangen, in denen die Rede von Elderwelt ist, womit offensichtlich ein anderer Ort gemeint ist als unsere Erde. Es ging darin auch um einen bestimmten Gegenstand: das Horn des Triton.«