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Veyron legte die Fingerspitzen aneinander, als er das hörte. Seine eisblauen Augen strahlen neu entfachte Neugier aus. »Fahren Sie bitte fort.«
»Soweit wir es entschlüsseln können, scheint die ZTC daran interessiert, jenes Horn des Triton zu finden und aus dieser Elderwelt in die Unsrige zu bringen.«
Veyron richtete sich kerzengerade auf, seine Blicke huschten hin und her. »Sie wissen natürlich, um was es sich bei dem Horn des Triton handelt?«, wollte er vom SIS-Direktor wissen.
Dieser zeigte ein schräges Lächeln. »Natürlich. Unsere Agenten haben alle erhältlichen Informationsquellen konsultiert. Es handelt sich dabei um das Gehäuse einer Meeresschnecke, das Tritonshorn«, sagte er und blickte kurz auf seine Schreibtischplatte und las von einem Zettel ab: »Charonia tritonis. Beheimatet in subtropischen und tropischen Gewässern. Die Art ernährt sich von Seesternen und Muscheln. Das Gehäuse des Tritonshorns wird gelegentlich als Trompete benutzt, ähnlich dem japanischen horagai. Auch von anderen Kulturen ist das bekannt. Australien bemüht sich schon länger, das Tritonshorn auf die Rote Liste zu bekommen, denn an manchen Riffen ist diese Riesenschnecke vom Aussterben bedroht.«
Tom seufzte enttäuscht. »Das klingt ja wirklich nach einer lohnenden Mission für den MI-6. Rettet die Schnecken! Was ist nun das Problem? Dass die ZTC illegale Tritonshörner schmuggelt?«, meinte er sarkastisch.
C schmunzelte über seine offensichtliche Ungeduld. »Nein, Tom. Ich war mit meinen Ausführungen noch nicht ganz fertig. Unsere weiteren Recherchen haben ergeben, dass der Name auf einer alten griechischen Sage beruht. Nach ihr soll der griechische Meeresgott Triton ein derartiges Schneckengehäuse als Signalhorn benutzt haben. Er konnte damit Stürme heraufbeschwören oder die See ruhig und friedlich halten. Unsere Agenten sind der Überzeugung, dass dies nicht einfach nur ein Mythos ist, sondern, dass es dieses Horn tatsächlich gibt. In Elderwelt. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass Sie, Mr. Swift, Elderwelt schon mindestens einmal besucht haben.«
Veyron sagte lange nichts. Es schien fast so, als wäre er zur Statue erstarrt. Schließlich stand er auf und schüttelte den Kopf. »Ich bedaure, ich muss ablehnen. Gehen wir einmal davon aus, dass das Horn des Triton tatsächlich existiert, so bezweifle ich doch massiv, dass die Menschheit schon so weit ist, mit dem Werkzeug einer Gottheit vernünftig zu hantieren«, sagte er, die Stimme tief und ernst.
»Was?«, entfuhr es Tom ungläubig. »Aber Veyron! Die ZTC ist hinter diesem Horn her!«
»Mag sein. Sie besitzt es jedoch nicht, ansonsten hätte sich die Zahl der Schiffsunglücke bereits dramatisch erhöht«, konterte Veyron. »Ich wiederhole es noch einmal: Ich lehne diesen Auftrag ab. Komm Tom, wir sind hier fertig.«
Der Direktor seufzte, erhob sich und öffnete ihnen die Tür. »Es ist sehr schade, dass Sie Ihrem Land keinen Dienst erweisen wollen«, meinte er.
Veyron stopfte seine Hände in die Hosentaschen und schlenderte auf den Ausgang zu. »Ich stehe nicht im Dienste Ihrer Majestät, Direktor. Des Weiteren bin ich davon überzeugt, dass England – und der ganzen Welt – besser damit gedient wäre, das Horn des Triton nicht aufzuspüren. Goodbye.«
C zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen. Gestatten Sie mir noch eine abschließende Frage?«
»Selbstverständlich.«
»Woher wissen Sie, dass der Haussegen bei mir und meiner Frau schief hängt? Das weiß niemand.«
Veyron deutete auf Cs Krawatte. »Der Knoten wurde miserabel gebunden. Hinzu kommen die Hundehaare an Ihrer Hose – von zwei verschiedenen Schäferhundrassen, eine Gelbbacke und ein Tiger, wenn ich mit nicht irre. Nicht zu vergessen die Falten Ihres Hemds. Sie haben wohl auf der Couch übernachtet, wenn ich mir die zerknitterten Stellen auf der rechten Seite und dem Rücken ansehe. Dass Sie in einem derart schlampigen Aufzug zur Arbeit fahren, ist ungewöhnlich für Sie. Auf sämtlichen Fotos in Ihrem Büro sind Anzug und Krawatte nämlich in tadellosem Zustand. Folglich legen Sie weitaus weniger Wert auf Ihr Äußeres als Ihre Frau. Auf den Familienfotos auf Ihrem Schreibtisch kann man sehen, wie stolz sie auf Sie ist. Ihre Frau ist also diejenige, die Ihre Krawatten bindet, die Hosen bürstet und dafür sorgt, dass Sie jeden Morgen frisch gebügelte Hemden tragen. Nur heute nicht. Warum? Ein Streit mit Ihrer Frau erschien mir da als Grund nur logisch.«
Tom war ebenso sprachlos wie der Direktor. Er konnte nicht sagen, ob der Chef der Spione wütend darüber war, innerhalb von Sekunden all seiner privaten Geheimnisse beraubt zu sein. Wenn ja, dann verbarg er es geschickt. Immerhin gelang ihm ein höfliches Lächeln.
»Hunter hatte schon recht: Sie wären unser Mann gewesen, Mr. Swift. Vielleicht überlegen Sie es sich noch anders? Hier ist die Karte von Agent Hunter; sie ist Ihre Ansprechpartnerin. Goodbye«, sagte C und reichte Veyron eine Visitenkarte.
Der gab sie sofort an Tom weiter. »Danke, kein Interesse«, meinte er kalt und trat ins Vorzimmer.
Tom folgte seinem Patenonkel zögernd. Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Zwei Klienten an einem Tag, und beide Male hatte Veyron abgelehnt. War er denn total übergeschnappt?
Sie hatten das MI-6-Gebäude noch keine hundert Meter hinter sich gelassen, als Veyron in die Hände klatschte und kurz auflachte. »Volltreffer, mein lieber Tom! Ruf Mr. Darrow an und sag ihm Bescheid, dass ich seinen Fall annehme.«
Tom konnte nur verwirrt dreinschauen. »Ach? Jetzt also doch? Was hat Ihre Meinung geändert? Und warum helfen wir Danny Darrow, seine verschwundene Freundin zu finden, anstatt den MI-6 zu unterstützen? Der will immerhin verhindern, dass die ZTC das Horn des Triton in die Finger bekommt. Erinnern Sie sich noch, was wir über diesen Verein in Elderwelt herausgefunden haben? Das sind Gangster der übelsten Sorte.«
»Ich habe nichts vergessen, Tom. Und wir helfen Mr. Darrow nicht, seine Freundin zu finden, sondern das Horn des Triton.«
Tom riss die Augen auf. Jetzt verstand er gar nichts mehr. »Ja, wie? Sie sagen Nein zu C, wollen aber das Horn trotzdem suchen? Ihnen geht’s schon noch gut, oder? Ich glaub, Sie reden wirres Zeug.«
»Ganz und gar nicht, mein lieber Tom. Es war die ganze Zeit meine Absicht, das Horn zu finden, nur nicht für den MI-6 oder sonst irgendeine Organisation dieser Erde. Die Menschheit ist nicht reif für solche Wunderwerkzeuge. Wir erweisen der Welt einen Dienst, indem wir dieses Horn finden und sicherstellen, dass es niemand anderes tut«, erklärte Veyron. Er marschierte mit so schnellen Schritten weiter, dass Tom Mühe hatte, mitzuhalten.
»Aber was hat Danny Darrow damit zu tun? Das versteh ich nicht«, sagte er fast schon verzweifelt. Mit den raketenschnellen Überlegungen seines Patenonkels konnte er nicht mithalten. Er brauchte Informationen – und wie üblich geizte Veyron damit.
Dieser lachte höhnisch auf. »Mr. Darrow? Nichts – aber seine vermisste Freundin. Ich war blind, Tom! Natürlich waren mir zu dem Zeitpunkt nicht alle Fakten bekannt, ansonsten wäre ich schon viel eher darauf gekommen. Du hattest recht, als du sagtest, dass das Buch über griechische Mythologie von Professor Daring etwas bedeuten müsse. Natürlich wusstest du nicht, was. Aber ich vermag es jetzt zu erkennen. Darrows verschwundene Freundin war eine Agentin des MI-6. Nur das erklärt ihr plötzliches Erscheinen und ihr ebenso geheimnisvolles, spurloses Verschwinden, als habe sie nie existiert. Miss Fiona Smith. Sie war zwar imstande, das Horn des Triton zu identifizieren, aber nicht, es zu finden. Der MI-6 weiß nicht, wie er seine Agenten nach Elderwelt schaffen soll, darum wollte man mich engagieren. Ruf Willkins an und bestell sie ins Harrisson’s Café. Sag ihr, sie soll das Formular für einen Hausdurchsuchungsbefehl mitbringen.«
Tom zückte sein Smartphone und begann die entsprechende Nummer zu suchen. Dann hielt er noch einmal inne. »Was haben Sie denn überhaupt vor?«
»Wir verüben heute Nacht einen kleinen Einbruch, Tom.«
2. Kapitel: Einbruch mit Folgen
Harrisson’s Café war nichts weiter als ein kleiner Schuppen, einquartiert in einer Ecke eines größeren Wohnblocks in Paddington. Durch zwei große Fenster hatte man einen schönen Blick auf die Straße. Neben der Theke fanden in dem Raum noch drei kleine Tische Platz. Die einzige Toilette musste sich das Café mit zwei angrenzenden Geschäften teilen. Tom war noch nie hier gewesen, aber der Eigentümer, Walter Harrisson, schien Veyron recht gut zu kennen.
»Geht alles aufs Haus«, ließ er die beiden wissen, als er ihnen zwei Tassen Cappuccino hinstellte.
»Bringen Sie uns bitte noch eine dritte Tasse, Walter. Wir bekommen Besuch«, bat Veyron freundlich. Harrisson nickte und machte sich gleich an die Arbeit. Veyron lächelte kurz, als er Toms fragenden Blick bemerkte. »Ich hab ihm einmal aus der Patsche geholfen, als sich eine Bande Kobolde in seinem Keller einnisten wollte«, erklärte er.
Tom machte große Augen. »Von dem Fall haben Sie mir noch nie was erzählt.«
»Es gibt viele Fälle, von denen du nichts weißt, Tom. Ich war acht Jahre lang als Berater für unnatürliche Angelegenheiten und Wesen tätig, bevor wir uns kennenlernten. Ah, sieh nur: Willkins kommt.«
Tom, der mit dem Rücken zur Tür saß, musste sich umdrehen, um ihren Gast zu erblicken.
Detective Constable Jane Willkins betrat das Café und entdeckte die beiden sofort. Seit ihrem Wechsel von der Metropolitan Police zum CID, trug sie anstelle ihrer Uniform Hosenanzüge, die ihr nach Toms Meinung auch weitaus besser standen. Er kannte die dunkelhaarige, hübsche Polizistin jetzt schon seit fast zwei Jahren. Für ihn war sie so etwas wie eine große Schwester, zu der er gehen konnte, wenn Veyron wieder mal unausstehlich war. Für Veyron schien Jane dagegen nichts anderes als eine Erfüllungsgehilfin zu sein, ein Werkzeug zum Erreichen seiner Ziele. Nur manchmal – Tom war sich da nie ganz sicher – zeigte er ihr gegenüber ein wenig Herzlichkeit.
Sie setzte sich zu ihnen und begrüßte sie knapp. »Sie sagten, es sei dringend. Also los, auf was für eine Spur sind Sie diesmal gestoßen?«, kam sie sofort zur Sache.
Walter Harrisson stellte ihr eine Tasse Cappuccino vor die Nase und brachte sie damit kurz aus dem Konzept. »Geht alles aufs Haus, Miss«, sagte er und zwinkerte Veyron zu, die Situation vollkommen missverstehend.
Jane war zweifellos hübsch und – soweit Tom es wusste – zurzeit ohne Freund. Doch Veyron würde nie auf die Idee kommen, irgendetwas daraus zu machen. Er lehnte ja jede Form von Beziehung ab – mit der Tom unverständlichen Begründung, dass dadurch die Freiheit seines Geistes in Gefahr geriete und unabhängiges Denken nicht mehr möglich sei. Diese Verweigerungshaltung hatte schon einige hitzige Debatten ausgelöst, denn Veyron zögerte nicht, anderen seine eigenwillige Vorstellung menschlichen Miteinanders aufzuzwingen. Regelmäßig wurden dabei Jane oder Tom Opfer seiner kaltherzigen Beziehungsanalysen. Erst heute Morgen hatte er die Liebe ja generell als Krankheit abgetan.
»Haben Sie dabei, worum ich Sie gebeten habe?«, wollte Veyron soeben wissen und riss Tom damit aus den Gedanken.
Jane griff unter ihren Blazer und holte ein Kuvert heraus, das sie mitten auf den Tisch legte. »Wie verlangt, das Formular eines Hausdurchsuchungsbefehls. Gregson hat große Augen gemacht, als ich ihm sagte, was Sie diesmal wieder wollten. Werden Sie mir auch verraten, wofür der gut sein soll?«, fragte sie.
Veyron antwortete nicht gleich, sondern schnappte sich das Kuvert, nahm den Papierbogen heraus und fischte einen Kugelschreiber aus seiner Manteltasche. »Wir werden heute Nacht in Miss Fiona Smiths Wohnung in der False Lane einbrechen«, erklärte er, während er begann, das Formular auszufüllen.
Jane schnappte kurz nach Luft. »Haben Sie einen Knall? Veyron, das geht zu weit!«, protestierte sie. »Warum müssen Sie dort einbrechen und was hoffen Sie dort zu finden?«
Tom biss sich auf die Lippe, als die anderen Gäste – es waren nicht viele – sie mit neugierigen Blicken bedachten.
»Ein Nein, zu Ihrer ersten Frage und zu Ihrer zweiten dies als Antwort: Weil ich dort anders keinen Zutritt erhalte, der jedoch zwingend erforderlich ist. Auch Ihre dritte Frage will ich beantworten, Willkins. Ich hoffe, dort wichtige Hinweise auf Miss Smiths Aktivitäten bezüglich der Suche nach dem Horn des Triton zu finden, ein Gegenstand von entsetzlicher Macht«, erklärte Veyron so ruhig und gelassen, als hielte er einen harmlosen Schulvortrag.
Jane schüttelte den Kopf. Sie war damit ganz und gar nicht einverstanden. »Deswegen können Sie doch nicht das Gesetz brechen. Veyron, kommen Sie wieder zur Vernunft! Ich muss Sie verhaften, wenn Sie das wirklich durchziehen wollen. Tom, rede ihm diesen Unsinn aus.« Sie sprach nun deutlich leiser, und in ihrer Stimme klang ehrliche Sorge mit. Fast flehentlich waren ihre Augen auf Tom gerichtet.
Der konnte nur tief einatmen und dann die Schultern zucken. »Na ja, es ist für die Rettung der Welt oder so«, erwiderte er schließlich, was ihm einen bösen Blick von Jane einbrachte.
»Sie kennen meine Methoden, Willkins. Erinnern Sie sich an unser letztes gemeinsames Abenteuer in Elderwelt: Ich weiß ganz genau, was ich tue. Haben Sie Vertrauen«, sagte Veyron. Er lehnte sich kurz zurück und überflog die Felder des Formulars. Es fehlte nur noch die Unterschrift. Streng musterte er Jane. »Wer ist der zuständige Bezirksrichter für Paddington?«
Sie zuckte mit den Schultern, was Veyron nicht gerade zufriedenstellte.
»Dann googeln Sie es. Sie haben von Ihrem Telefon aus sicherlich Zugriff auf das Netzwerk des CID, da muss sich doch was finden lassen. Wir haben keine Zeit zu verlieren«, befahl er.
Jane verdrehte entnervt die Augen, zückte ihr Smartphone und gab die entsprechenden Daten ein. »Sonst wissen Sie doch auch alles«, maulte sie.
Veyron hob kurz die Augenbrauen. »Ich konnte das Netzwerk des CID noch nicht hacken. Das vom F.B.I. war nicht so schwer«, erläuterte er lapidar.
Tom warf seinem Patenonkel einen überraschten Blick zu. »Sie haben das Netzwerk des F.B.I. geknackt?«
»Nein«, gab Veyron zurück. »Aber Wimille.«
»Wer ist Wimille?«
»Mein Bruder.«
Tom und Jane starrten Veyron vollkommen entgeistert an. »Sie haben einen Bruder«, fragten beide wie aus einem Mund.
Veyron kniff entnervt die Augen zusammen. »Natürlich. Viele Menschen haben Brüder. Was ist daran so erstaunlich?«
Jane schmunzelte kurz, ehe sie sich wieder ihrem Telefon widmete. »Und ich dachte immer, man hätte Sie bei Wellstorm Automatics zusammengeschraubt, dem Roboterhersteller aus Ealing«, flachste sie.
Tom gestattete sich ein kurzes Auflachen, aber Veyron blieb todernst.
»Machen Sie keine Witze über meinen Bruder, Willkins«, sagte er mit finsterer Stimme.
»Können wir ihn kennenlernen? Ich wüsste gerne, wie Wimille so ist. Immerhin ist er Ihr Bruder«, fragte Tom, doch Veyron verneinte es entschieden.
»Wimille ist anders, und wir können ihn nicht besuchen. Nicht heute und auch morgen nicht. Schluss jetzt mit diesem Thema! Nun, Willkins, wie sieht es aus? Haben Sie endlich den Richter?«
Triumphierend schaltete sie ihr Telefon ab. »Sir Robert Scott.«
Veyron bedankte sich, dann schloss er die Augen und lehnte sich zurück. Mehrmals atmete er tief durch, seine Haltung wurde krumm und angespannt, seine Mundwinkel zogen sich tief nach unten, die Augenbrauen sträubten sich.
Jane staunte nicht schlecht. »Was wird das, wenn’s fertig ist?«, fragte sie flüsternd in Toms Richtung.
»Er konzentriert sich und taucht in die Persönlichkeit von Richter Scott ein – soweit er ihn kennt. Ich hab das schon ein paar Mal erlebt«, erklärte Tom stolz darauf, Jane einmal in einer Sache voraus zu sein.
Als Veyron die Augen wieder aufschlug, nahm er den Kugelschreiber entschlossen zwischen die Finger und setzte eine krakelige Unterschrift unter den Durchsuchungsbefehl, gänzlich anders als seine ansonsten schwungvollen Buchstaben. »Voilà«, verkündete er und legte Stift und Papier zufrieden beiseite. »Das wäre geschafft. Jetzt können wir im Prinzip loslegen.«
Jane war jedoch immer noch dagegen. »Das ist Urkundenfälschung, was Sie da machen«, wandte sie ein.
Veyron winkte ab. »Das soll nur den Hausmeister beschäftigen und uns Zugang zur Wohnung verschaffen. Einer gewissenhaften Prüfung wird die Unterschrift zwar nicht standhalten, aber sie sollte authentisch genug wirken, um auf den ersten Blick zu überzeugen.«
Jane schnaubte wütend und wandte kurz den Kopf zur Seite. »Ich frag mich wirklich, wozu Sie mich eigentlich brauchen«, murrte sie.
Veyron schaute sie überrascht an. »Genau genommen brauche ich Sie auch nicht, lediglich Ihre Dienstmarke«, erklärte er trocken.
Tom duckte sich instinktiv. Hätten Janes Blicke töten können, Veyron wäre nur mehr ein Häuflein Asche. Ohne Zögern sprang sie auf. »Okay, das reicht! Ich gehe!«
Veyron fasste Jane am Handgelenk, um sie wieder zu beruhigen. »Willkins«, begann er, »ich verstehe Ihre Skepsis und auch, dass es Ihnen als Polizistin zuwider ist, das Gesetz zu brechen. Aber ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ganz Elderwelt schwebt in Gefahr. Und die unsere auch, falls es der Zaltianna Trading Company – oder der Regierung – gelingt, das Horn des Triton vor mir zu finden. Ich sage Ihnen, dass wir dann Naturkatastrophen erleben werden, gegen die jeder Tsunami wie ein übergelaufenes Waschbecken wirkt. Ich bin gerne bereit, ein paar Gesetze zu übertreten, um das zu verhindern.«
Jane musterte ihn für einen Augenblick, rang sichtlich mit ihrem Gewissen und wägte ab, was mehr Gewicht hatte. Sie seufzte und setzte sich wieder. »In Ordnung, ich bin dabei. Aber es ist das allerletzte Mal, das schwör ich! Wann wollen Sie loslegen?«
»Gleich nach Einbruch der Nacht. Tom, hast du Mr. Darrow erreicht?«
»Ja. Er trifft sich zu angegebener Zeit mit uns in der False Lane.«
Veyron rieb sich zufrieden die Hände. »Sehr gut. Wir haben noch etwas Zeit, trinken wir also unseren Kaffee aus. Walter macht den besten Cappuccino in der ganzen Stadt. Es wäre ein Jammer, ihn kalt werden zu lassen«, sagte er, schnappte sich seine Tasse und nippte daran. Ein zufriedenes Lächeln huschte über seine Lippen.
Tom war nicht ganz sicher, ob es am Geschmack des Kaffees lag oder mehr an der Tatsache, dass alles nach Plan verlief.
Den restlichen Nachmittag über unterhielt Veyron sie mit ein paar Geschichten von Fällen, die weder Tom noch Jane kannten. Als es schließlich dunkel wurde, gingen sie zu Janes Dienstwagen und machten sich auf den Weg in die False Lane.
Eine typische Wohngegend war ihr Ziel. Große Wohnblöcke standen Reihenhäusern aus dem vorletzten Jahrhundert gegenüber. Die kalten, rechteckigen Betonklötze der Neuzeit konkurrierten mit den roten Backsteinfassaden und typischen Kaminen der viktorianischen Ära. An den Bürgersteigen dieser Straßenseite parkten teure, oftmals funkelnagelneue Limousinen und Sportwagen, auf der anderen standen die älteren, billigen Vehikel der Hochhausbewohner.
42b False Lane war einer der großen Wohnblöcke, die wohl auf der ganzen Welt annähernd gleich aussahen. Sie parkten den Wagen direkt vor dem Eingang, gleich hinter dem teuren Porsche von Danny Darrow. Der lehnte am Wagen und rauchte. Als Veyron, Jane und Tom ausstiegen, schnippte er seine Zigarette weg.
»Wurde aber auch Zeit. Ich hab schon gemeint, ich wart mir die Füße platt«, begrüßte Darrow sie. Als er Jane bemerkte, setzte er ein Lächeln auf und stellte sich vor. »Hallo, wen haben wir denn da? Ich bin Danny Darrow. Aber sagen Sie ruhig Danny zu mir.«
»Hi, Detective-Constable Jane Willkins, CID. Aber sagen Sie ruhig Constable Willkins zu mir.«
»Scheiße …«
Jane gestattete sich ein triumphierendes Lächeln, während sich Danny verlegen am Hinterkopf kratzte.
»Ich wusste ja nicht, dass die Situation dermaßen ernst ist. Die Polizei hat sich doch gar nicht für meinen Fall interessiert«, plapperte er, aber Veyron brachte ihn mit einem blitzartig erhobenen Zeigefinger zum Schweigen.
»Nur die Ruhe, Danny. Willkins ist hier, um unser Vorgehen zu bezeugen. Nichts weiter. Wer ist der Hausmeister?«
»Peter Driscoll, die Klingel ganz unten«, erklärte Danny. Zu viert schritten sie zur Haustür. Veyron inspizierte die Klingelanlage für einen Moment, tippte dann mit dem Fingernagel unter die einzige unbeschriftete Klingel.
»Aha, vierter Stock, Westseite zur Straße. Das Namensschild wurde erst vor Kurzem entfernt, und zwar recht hektisch. Sehen Sie nur, die kleinen Kratzspuren rund um das Schild. Der Kunststoff ist an einer Ecke angebrochen. Es musste schnell gehen, offensichtlich in der Absicht, Sie, Mr. Darrow, zu täuschen«, erklärte Veyron. Er drückte die Klingel der Hausmeisterwohnung.
Eine verschlafene Männerstimme meldete sich per Sprechanlage und Veyron stellte sich kurz vor.
»Guten Abend, Mr. Driscoll. Ich bin Detective-Inspector Veyron Swift. Können wir Sie für einen Moment sprechen?«
Auf der anderen Seite der Sprechanlage wurde gemurrt und aufgelegt. Der Türöffner summte, und sie traten ein.
Im Treppenhaus war es stockdunkel; erst nach und nach sprangen die Lichter an. Peter Driscoll, ein Mann mittleren Alters mit schlaffen Muskeln und hagerem Gesicht, dem man den übermäßigen Genuss von Zigaretten ebenso ansah wie den unzureichenden Sport, erwartete sie vor seiner Wohnungstür.
»Was liegt an, Inspector«, fragte er. Tom glaubte, deutliche Skepsis in seiner Stimme zu hören.
Ohne Vorwarnung packte Veyron Tom am Kragen und schleppte ihn vor Driscoll. »Dieser junge Mann da behauptet, dass er heute Morgen von einer jungen Dame angegriffen und verprügelt worden ist. Einer gewissen Miss Fiona Smith«, erklärte Veyron streng.
Tom musste die Zähne zusammenbeißen. Es war schier unglaublich, mit welcher Unverschämtheit Veyron die Kampfspuren in Toms Gesicht für seine eigenen Zwecke missbrauchte. Aber es ging immerhin um die Rettung der Welt, drum spielte Tom ohne Protest mit.
Veyron drehte sich zu Jane um. »Willkins, zeigen Sie dem Herrn Ihre Marke, damit er Bescheid weiß.«
Jane tat, wie ihr geheißen, verdrehte dabei jedoch verärgert die Augen. Sie zeigte Driscoll ihre Dienstmarke, der sie zu Toms Überraschung ausgiebig studierte. So sehr Driscoll seinen Körper auch vernachlässigen mochte, sein Verstand schien messerscharf.
»Hier gibt’s keine Fiona Smith, hat es noch nie gegeben. Das habe ich diesem Mann da«, er deutete mit ausgestrecktem Finger auf Danny, »schon mehrfach versichert.«
Veyron nickte. »Unsere Ermittlungen bestätigen das. Wir wissen jedoch, dass die junge Dame zuweilen unter falschem Namen zu wohnen pflegt. Deswegen möchten wir uns gern die Westwohnung im vierten Stock ansehen, um weitere Hinweise zu erhalten.«
»Die Wohnung steht leer. Schon lange«, konterte Driscoll scharf.
»Das bezweifle ich. Constable Willkins, zeigen Sie dem Herrn den Hausdurchsuchungsbefehl.«
Veyron schnippte mit den Fingern, und Jane fischte das gefälschte Formular unter ihrem Blazer hervor. Driscoll nahm es mit sichtlichem Widerwillen entgegen, studierte das Papier allerdings ebenfalls eingehend. Tom biss sich auf die Lippen, was ihm wegen der Wunde nicht gut bekam.
Zum Glück war der Hausmeister nicht imstande, die Fälschung zu erkennen – auch wenn ihm das ganz und gar nicht zu schmecken schien. »Tja, dann habe ich wohl keine andere Wahl«, seufzte er entnervt und kehrte in seine Wohnung zurück. Als er wieder auftauchte, händigte er Veyron ohne weiteren Kommentar zwei Schlüssel aus. »Der Große ist für die Tür, der Kleine für den Briefkasten«, knurrte er.
Veyron bedankte sich höflich und bat Driscoll, sich für weitere Befragungen zur Verfügung zu halten. Der Hausmeister grummelte etwas Unverständliches, dann verschwand er in seiner Wohnung und ließ die Tür zufliegen.
Veyron atmete tief durch. »Gut, wir haben zehn Minuten, ehe hier ein Sondereinsatzkommando erscheint und wir richtig Ärger bekommen«, sagte er und machte auf den Absätzen kehrt. Alle starrten ihn schockiert an. Auf dem Weg zum Aufzug erklärte er mehr. »Driscoll wird jetzt seinen Verbindungsmann beim MI-6 kontaktieren und ihn darüber informieren, dass wir uns Zutritt zu Miss Smiths Wohnung verschafft haben. Dieser Verbindungsmann wird dann alles Weitere in die Wege leiten. Es werden E-Mails verschickt und Telefonate geführt. Man wird die Echtheit des Durchsuchungsbeschlusses überprüfen und beim CID nachfragen, welches Team in der False Lane arbeitet. Da wir auch Terroristen sein könnten, wird man ein Spezialkommando losschicken. Alles in allem etwa zehn Minuten, wenn die vom MI-6 schnell sind. Und das werden sie sein.«