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Während Jane und Tom diese Informationen kommentarlos hinnahmen, zeigte sich Darrow aufgekratzt und beunruhigt. »MI-6? Der Geheimdienst? Wirklich? Sie meinen, Fiona war eine Terroristin?«
Veyron sagte darauf nichts. Erst als die Türen des Fahrstuhls sich hinter ihnen schlossen, antwortete er auf Dannys Frage. »Irrtum. Miss Smith war eine MI-6-Agentin und auf der Suche nach dem Horn des Triton. Unser Geheimdienst versucht zu verhindern, dass dieser ausgesprochen gefährliche Gegenstand in die falschen Hände gerät. Miss Smith war mit der Informationsbeschaffung beauftragt. Ihre Recherchen führten sie an die Universität von Oxford, wo Sie ihr schließlich begegnet sind, Mr. Darrow. Als sie ihre Nachforschungen abgeschlossen hatte, ist sie nach London zurückgekehrt. Da Sie ihr jedoch unerwartet nachgestellt haben, musste sie ihre Identität wechseln und untertauchen. Ihren Auftrag konnte sie jedoch nicht zu Ende führen. Der Zugang nach Elderwelt blieb dem MI-6 verschlossen. Nur deswegen wurde ich kontaktiert, und zwar kurz nachdem Sie bei mir vorstellig wurden, Mr. Darrow. Was schließen Sie daraus?«
»Hey, Mann! Ich bin keiner vom MI-6!«, wehrte sich Danny, der wohl einen Vorwurf in Veyrons blitzschnell vorgetragenen Worten zu erkennen glaubte.
Veyron gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Nein, ganz sicher nicht. Sie wurden die ganze Zeit beschattet, das bedeutet es. Geheimdienste denken paranoid, das gehört zu ihrer Natur. Dass man mich in dieser Sache irgendwann aufsuchen würde, stand für den MI-6 schon länger fest, aber nun sind Sie bei mir erschienen, jener Mann, der so hartnäckig nach Miss Fiona Smith sucht. Was kann das bedeuten? Der MI-6 kann sich keinen Reim darauf machen. Wer kommt schon auf die Idee, dass Sie einen Geist gedatet zu haben glauben! Viel wahrscheinlicher für den Geheimdienst ist dagegen, dass Sie jemand von der Gegenseite sind. Vielleicht sogar von der ZTC. Deshalb wurden Tom und ich kurzfristig vorgeladen. Aus diesem Zusammenhängen konnte ich schließen, dass Ihr Fall und der des MI-6 eng miteinander verwoben sein müssen«, erklärte er.
Jane schüttelte missbilligend den Kopf. »Nicht nur, dass Sie sämtliche Gesetze brechen, Sie arbeiten auch noch gegen den Geheimdienst. Veyron, das ist Hochverrat, was Sie da machen«, warf sie ihm vor.
Er nahm es mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. »Darüber lasse ich die Geschichtsbücher urteilen, wenn es so weit ist.«
Der Aufzug hielt, und sie stiegen aus. Zur gesuchten Wohnungstür war es nicht weit, auch zum Treppenhaus war es von ihr aus nur ein Katzensprung. Genau wie unten an der Klingel trug das Namensschild keine Beschriftung. Veyron sperrte auf, und sie traten ein. Jane schaltete das Licht ein, während Tom und Veyron den Flur durchschritten und sich alles genau ansahen. Die ganze Wohnung war mit einem hellen Teppich ausgelegt; Möbel gab es sehr wenige. Ein Regal an der Wand, eine Kommode samt Telefon daneben, im Wohnzimmer einen Tisch, ein Sofa und zwei Stühle. Alles sehr spartanisch und einfach.
»Aha, hier ist vor Kurzem jemand gewesen. Sieh dir den Teppichboden an. Fußabdrücke; die Teppichfasern konnten sich noch nicht wieder aufrichten«, erklärte Veyron fast flüsternd. »Mr. Driscoll ist ein Lügner. Willkins, kehren Sie bitte nach unten zurück. In ein paar Minuten kommt Besuch ins Haus, den Sie mir in Empfang nehmen müssen.«
Jane nickte und machte sich sofort auf den Weg. Danny Darrow hob in hilfloser Geste die Arme. »Und was soll ich machen? Was tu ich hier eigentlich?«
»Sie folgen Tom und mir in sicherem Abstand. Ich brauche Sie als Rückversicherung.«
»Okay. Und für was?«
»Das, Mr. Darrow, werden Sie gleich sehen.«
Sie kamen ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen mehrere aufgeklappte Bücher. Jemand hatte Seiten herausgerissen und über den einzigen Tisch verteilt. Mit Textmarker waren bestimmte Sätze oder auch nur Wörter markiert. Tom schaute sich die Umschläge der Bücher genauer an. »Die Elfenwelt-Trilogie von Rashton, und das da sind noch weitere Bücher von Professor Daring«, erkannte er. »Veyron, diese Miss Smith hat wirklich versucht, einen Zugang nach Elderwelt zu finden – genau wie Sie damals.«
»Mit einem Unterschied: Sie hatte keinen Erfolg. Ehrlich gesagt, ohne unser erstes gemeinsames Abenteuer wäre wohl auch mir der Zugang zu dieser fantastischen Welt auf ewig verschlossen geblieben. Sehen wir uns weiter um. Moment …« Plötzlich schnupperte Veyron. Er schloss die Augen und sog die Luft deutlich hörbar durch seine Nasenflügel. »Riecht ihr das? Damenparfüm, und es ist nicht das von Willkins. Calvin Klein, wenn ich mich nicht irre. Eine sehr deutliche Note. Unsere Agentin hat Geschmack, legt also großen Wert auf ihr Äußeres und … oh.«
Danny und Tom schauten ihn erwartungsvoll an. Veyrons hagere Gestalt wirkte wie eingefroren.
»Die relativ frischen Fußabdrücke auf dem Teppich, der deutliche Parfümgeruch. Ich Idiot! Tom, wir sind nicht allein in dieser Wohnung.«
Tom sah sich vorsichtig um, auf jeden Schatten genau achtend. Darrow wirkte dagegen vollkommen verdutzt und ahnungslos, was er tun sollte. In hilfloser Geste schnappte er sich einen der dicken Wälzer und hielt ihn mit beiden Händen schlagbereit. »Ist das nicht irgendwie lächerlich«, fragte er leise.
»Ja, ist es.«
Die Antwort kam aus dem angrenzenden Schlafzimmer. Der Raum war verdunkelt, und nur langsam schälten sich die Umrisse einer schlanken jungen Frau aus den Schatten.
»Fiona! Das ist Fiona!«, rief Danny Darrow.
»Nein, das ist Agent Hunter!«, sagte Tom verblüfft.
Einzig Veyron wirkte nicht sonderlich überrascht. »Irrtum, sie ist beide zugleich.«
›Fiona‹, besser gesagt Agent Hunter, kam ins Wohnzimmer, mit einer Pistole abwechselnd auf sie zielend. Darrow hob zögernd die Hände, während Tom die Fäuste ballte und Veyron ganz gelassen stehen blieb.
»Eine nette Überraschung, die Sie uns da bereitet haben, Agent Hunter. Ein neuer Versuch, um mich zu rekrutieren?«, wollte er wissen.
Hunter senkte die Waffe etwas. »Ehrlich gesagt hatten wir Sie ein wenig früher erwartet. Wir haben den da« – sie deutete auf Danny – »beschatten lassen. Er wartete eine geschlagene halbe Stunde auf Ihr Erscheinen. Fast genau so lange wartet auch das SCO-19-Team auf dem Nachbargebäude«, erklärte sie und deutete auf die Fenster.
Veyron sah nicht einmal hin, während sich Tom und Danny neugierige Blicke nicht verkneifen konnten. Plötzlich tänzelten rote Laserpunkte über Toms Jacke und ließen ihn instinktiv zurückspringen. »Scheiße! Scharfschützen!«, schrie er aufgeregt.
Danny machte sich klein, Veyron aber blieb stehen. Obwohl auch auf seinem dunklen Mantel zwei rote Punkte erschienen, zeigte er keinerlei Furcht. Ganz im Gegenteil, er begann sogar breit zu grinsen. »Ich nehme an, Sie erwarteten diesen Einbruch«, fragte er Hunter.
»Erst seit Darrows Auftauchen. Da war für mich der Fall klar. Driscoll hat alles rechtzeitig gemeldet. Wir waren auf Ihre Ankunft vorbereitet.«
»Und Ihr Plan? Terroristen?«
»Ja, Geiselnahme. Mich«, sagte sie mit einer Eiseskälte, die Tom frösteln ließ.
»Und der Preis, um alles unter den Teppich zu kehren?«, hakte Veyron ebenso kalt nach.
»Ihre Kooperation. Im Gegenzug behalten Sie das Sorgerecht für Tom und wandern nicht in den Knast.«
Tom warf seinem Paten einen entsetzten Blick zu, als er das hörte. Wut kochte in ihm auf, er machte einen Schritt auf Agent Hunter zu, die sofort wieder auf ihn zielte.
»Das ist ja die reinste Erpressung!«, protestierte er.
»Tut mir leid, das Schicksal der Welt steht auf dem Spiel. In diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel«, gab sie zurück.
Tom schnaubte höhnisch. »In Ihrem Fall aber ziemlich oft, was? Veyron, da machen wir nicht mit! Sollen die uns doch einsperren!«, rief er und stemmte die Fäuste in die Hüften.
Veyron hob beruhigend die Hände. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Plan, Agent Hunter. Aber mir war von Anfang an klar, dass wir in Teufels Küche kommen, wenn wir in eine Unterkunft – oder sagen wir besser: Außenstelle – des MI-6 einbrechen. Aus diesem Grund habe ich auch eine Rückversicherung mitgebracht und auf Position geschickt. Mr. Darrow wird Ihre Aussagen vor der Polizei und sicher auch vor Gericht bestätigen«, erklärte er.
Agent Hunter schaute ihn verständnislos an.
»Was ist denn jetzt wieder los?«, klang plötzlich Janes Stimme durch den Flur herein. Tom wandte sich ihr zu und atmete erschrocken aus.
In Janes Begleitung befand sich ein Uniformierter mit kugelsicherer Weste, hinterdrein kamen zwei vermummte Männer der SCO-19-Abteilung der Polizei, mit Schnellfeuergewehren, Helmen und Atemmasken. Hinter ihnen stand Hausmeister Driscoll mit ausdrucksloser Miene.
»Veyron, Ihr Besuch ist eingetroffen. Angeblich gibt es hier Terroristen. Wissen Sie davon?« Jane wirkte sichtlich irritiert. Ihr Blick huschte von Veyron zu Agent Hunter.
Veyron begann zu lachen. »Hier gibt es keine Terroristen, Willkins. Miss Hunter hier hat offensichtlich falschen Alarm geschlagen.«
Der Anführer des SCO-19-Teams wollte sich damit jedoch nicht abfinden. »Bei uns ging ein Anruf ein, dass es hier zu einer Geiselnahme gekommen sei. Wir beobachten das Gebäude seit fast einer Viertelstunde. Was ist nun mit den drei Männern? Sind das Verdächtige oder nicht? Und sind Sie Amanda Farrow? Werfen Sie die Waffe weg, Lady«, sagte er, deutlichen Zorn in der Stimme.
Agent Hunter schien allmählich zu begreifen, dass die Falle für Veyron soeben zu ihrer eigenen wurde. Janes schwer bewaffnete Begleiter zielten nun auf sie. Hunter warf ihre Waffe zu Boden und hob langsam die Hände.
»Sie ist Miss Farrow, Sergeant«, bestätigte Veyron an ihrer Stelle. »Sie hat wohl auch die Polizei über die vermeintliche Geiselnahme informiert. Oder war es Mr. Driscoll da hinten? Wie ich schon sagte: falscher Alarm.«
»Ein Glück, dass Sie mich runtergeschickt haben, Swift. Ich hatte kaum das Erdgeschoss erreicht, als mich Sergeant Hooper auch schon in Empfang nahm. Er und seine Leute wollten eben die Wohnung stürmen. Ich konnte das Missverständnis dank des Durchsuchungsbefehls schnell aufklären«, erläuterte Jane.
Tom war richtig stolz auf sie. Einmal mehr hatte Jane die Nerven behalten und sich für Tom und Veyron ins Zeug gelegt.
»Sie haben eine Polizistin mitgebracht?«, fragte Hunter ungläubig.
Veyron schenkte ihr ein süffisantes Lächeln. »In der Tat. Constable Willkins ist meine erwähnte Rückversicherung. Mir war von vornherein klar, dass unser Eindringen in Ihr Geheimquartier eine Reaktion Ihrerseits nach sich ziehen würde, sehr wahrscheinlich mit Sondereinsatzkommando. Um zu verhindern, dass wir in die Schusslinien der Scharfschützen der Polizei geraten, schickte ich Willkins wieder nach unten. Ich fürchte, Ihre Karriere, Agent Hunter, wird in Zukunft auf den Innendienst beschränkt bleiben, wenn das hier vorbei ist.«
Trotzig reckte sie das Kinn vor, was Tom ehrlich amüsierte. »Tja«, meinte er. »Wer anderen eine Grube gräbt …«
Sergeant Hooper trat vor, packte Hunters rechten Arm und riss sie grob herum.
»Sie werden sich wegen Vortäuschung einer Straftat verantworten müssen, Miss! Sowie Irreführung der Behörden, und ich versichere Ihnen …«
Weiter kam er nicht. Ein lauter Knall zerriss die Luft. Tom bemerkte noch, wie Sergeant Hooper sich auf Jane warf, um ihr Deckung zu geben. Darrow, zum ersten Mal vollkommen geistesgegenwärtig, packte Hunter und zog sie in den Schatten seiner breiten Schultern. Bevor er selbst reagieren konnte, schleuderte ihn eine Druckwelle zu Boden. Alle Lampen erloschen schlagartig. Die Fenster zersprangen, Splitter fetzten wie Geschosse durch die Wohnung. Tom spürte, wie er hart auf dem Boden aufschlug. Blut lief ihm über das Gesicht, alles drehte sich, Dunkelheit drohte ihn zu übermannen. Plötzlich sah er schattenhafte Gestalten, die durch die zerstörten Fenster hereinsprangen. Das waren keine Sondereinsatzkräfte, es waren Vampire!
Den Knall und das Zersplittern der Fenster vernahmen auch die übrigen Mitglieder des SCO-19-Teams auf dem Nachbargebäude.
»Was war das?«, schallte es aus den Kopfhörern der Polizisten. »Eine Explosion?«
»Also doch Terroristen?«
»Nein, Hooper hat doch Entwarnung gegeben!«
Dann bemerkten sie die Männer. Schwarz gekleidet kletterten sie die Fassade des Wohnblocks hoch – so schnell, als wäre das die leichteste Übung der Welt.
»Seht ihr das? Seht ihr das? Wer sind die?«
»Haben wir Feuererlaubnis?«
»Rob, knall die Kerle ab!«
Der angesprochene Scharfschütze konzentrierte sich auf sein Zielfernrohr. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Er blickte auf, doch außer einem Schatten, den er für seinen eigenen hielt, war da rein gar nichts. Nun fing dieser Schatten jedoch an, sich zu bewegen, aufzustehen und Gestalt und Form anzunehmen. Zunächst schien sie ihm wie eine Wolke aus schwarzem Dampf, doch noch ehe er sich darüber klar werden konnte, wurde er auf einmal von einem Mann in Schwarz überragt. Das Gesicht konnte er unter der Kapuze nicht erkennen, nur zwei leuchtende Punkte an der Stelle, wo die Augen sein müssten. Dafür sah er das lange, Schwert des Fremden um so besser. Die Klinge war schartig und schwarz wie die Nacht.
»Heilige Scheiße!«, stieß er aus, wollte aufspringen und die Waffe herumreißen. Zu spät! Der Fremde holte aus und hieb zu.
Robs drei Kollegen, Miller, Anderson und Lacey, wirbelten herum, als sie seinen Schrei hörten, konnten gerade noch sehen, wie sein kopfloser Leichnam zu Boden ging. Sein Mörder schien dagegen spurlos verschwunden. Das Dach war so leer wie schon den ganzen Abend. Keiner verstand, was da vor sich ging.
»Wir werden angegriffen«, war alles, was Sergeant Miller noch feststellen konnte. Einen Herzschlag später spürte er, wie er etwas glühend heißes seinen Rücken durchstieß. Den Aufschrei seiner Kameraden hörte er noch, dann wurde die Welt für ihn schwarz.
»Sergeant Miller, sofortige Meldung! Anderson, Lacey? Irgendjemand! Miller, melden Sie sich, verdammt noch mal! Was ist da oben los?«, herrschte der Teamleiter, Inspector Lester, durchs Mikro. Er saß zusammen mit einem Kollegen im gepanzerten ARV-Einsatzfahrzeug, um das Vorgehen seines Teams zu koordinieren. Durch die zehn Helmkameras des Teams hätte er das Gefechtsfeld überblicken können sollen. Was er jedoch zu Gesicht bekam, überstieg sein Fassungsvermögen. Aus dem Schatten eines seiner Männer stieg eine Dampfwolke hervor, schwärzer als die Nacht. Im Nu manifestierte sie sich als riesiger Krieger, in etwas wie eine schwarze Kutte gehüllt, die Kapuze tief über den Kopf gezogen, in der einen Hand ein dunkles Schwert, in der anderen einen Dolch. Mit einem einzigen Streich hatte er den einen Mann halbiert und einem anderen die Kehle durchgeschnitten. Der dritte Kollege verlor zuerst den Arm, der das Sturmgewehr hielt, dann seinen Kopf. Der letzte Überlebende seines Teams – Marve – wirbelte als noch rechtzeitig herum, um einen Schuss abzugeben, doch der Fremde hatte sich bereits wieder in Dampf aufgelöst. Im gleichen Augenblick wuchs er hinter Marve aus dessen Schatten in die Höhe. Das Poltern und Rollen der Helmkamera ließ keine Frage offen, auf welche Weise der arme Marve sein Ende fand.
»Vier Mann am Boden! Oh mein Gott, vier Mann am Boden!«, brüllte eine weibliche Stimme – Sue – in der Leitung. Schüsse knallten. Lester blickte von Monitor zu Monitor. Der schwarze Krieger tauchte überall auf, nur um gleich wieder zu verschwinden.
Lesters Stellvertreter schrie entsetzt: »Das ist doch kein Mensch! Nie und nimmer ist das ein Mensch!« Er schleuderte den Kopfhörer fort, schnappte sich ein Schnellfeuergewehr und stürmte nach draußen. Durch die Lautsprecher schallten die Schreie des Todeskampfs seines Teams. Lesters konnte nur fassungslos zuschauen. Die Kameras Sechs, Sieben und Acht zeigten verwackelte Bilder vom Fallen, Stürzen und Davonrollen. Das ganze Team, dachte Lester entsetzt, allesamt enthauptet und geschlachtet wie eine Herde wehrloser Schafe. Die weltbeste Spezialeinheit der Polizei innerhalb von Sekunden vernichtet!
»Nein, nicht! Wir ergeben uns«, hörte Lester die Rufe seines Stellvertreters draußen vor dem Wagen. Im nächsten Moment war er still, viel zu still. Etwas polterte zu Boden. Lester wurde schwindlig. Schüsse knallten, prallten pfeifend am Metall des Einsatzfahrzeugs ab.
»Die gehen durch ihn durch«, kreischte Sue, das letzte noch lebende Mitglied des SCO-19-Teams. »Er ist wie ein Schatten!«
Schwarzes Metall sirrte durch die Nacht, Sues Keuchen erklang, dann war es still. Lester spürte, wie ihm feucht und warm im Schritt wurde. Oh mein Gott, ich mach in die Hose, dachte er. Er blickte durch die gepanzerte Scheibe nach draußen. Da stand er, der Fremde. Wie der Tod persönlich sah er aus, doch in das gepanzerte ARV könnte er kaum eindringen. Lester spielte mit dem Gedanken, Gas zu geben und den Kerl einfach über den Haufen zu fahren. In diesem Moment hob der Fremde sein schwarzes Schwert; Flammen züngelten die Klinge entlang und ballten sich an der Spitze zu einer Kugel aus Feuer. Dann schoss der Flammenball auf das ARV zu, hüllte es ein. Lester schrie auf und hob die Arme vors Gesicht.
Wenige Augenblicke später explodierte das ARV, wurde vom magischen Feuer des Angreifers in sämtliche Einzelteile auseinandergerissen – zusammen mit Inspector Lester und allem technischen Schnickschnack, den die Polizei gegen Kriminelle und Terroristen aufzubieten wusste.
Tom kämpfte darum, am Bewusstsein zu bleiben, während die Vampire – er zählte drei – vom Fensterbrett in die Wohnung sprangen. Es waren große Männer mit breiten Schultern, von Kopf bis Fuß in schwarze Lederkombis gehüllt. Waffen trugen sie keine bei sich, aber die brauchte ein Vampir auch nicht. Ihre Kraft, die das Fünf-, vielleicht sogar Zehnfache eines Mannes betrug, reichte völlig.
Als Erstes packten sie die beiden SCO-19-Polizisten, hoben sie mit Leichtigkeit vom Boden und schmetterten sie gegen die Wände. Dann rissen die Vampirattentäter ihre Münder auf und bleckten ihre langen, weißen Fangzähne. Tom ahnte bereits, was kommen würde, denn ihre Fingernägel waren messerscharfe Krallen. Ohne Schwierigkeiten zerfetzten sie die schusssicheren Westen der Polizisten, schlugen ihnen die Zähne in den Hals und brachen ihnen mit einer Handbewegung das Genick. Sergeant Hooper erging es nicht besser. Ein Vampir packte ihn an der Weste und schleuderte ihn durch den Raum, sodass das Wandregal unter seinem Aufprall auseinanderbrach. Dann sprang ihn der Unhold in hohem Bogen an. Das Letzte, was Tom von Hooper hörte, war ein armseliges Keuchen, danach das schaurige Knacken und Brechen von dessen Halswirbeln.
Plötzlich knallten zwei Schüsse. Der Vampir brüllte auf, ein schauderhafter Schrei, eines wahren Monsters würdig. Er wirbelte herum und starrte sein nächstes Opfer an: Agent Hunter.
Zitternd hatte sie sich erhoben und auf den Vampir gefeuert. Der fasste sich jetzt an den Rücken und sah fasziniert zu, wie ihm das Blut von den Fingern tropfte.
»Du bist als Nächstes dran – und lecker siehst du auch noch aus!«, brüllte der Vampir. Mit einem einzigen Satz war er bei ihr, packte sie mit der Rechten und hob sie an. Mit der Linken verdrehte er ihr das Handgelenk, sodass sie die Waffe fallen lassen musste. Hilflos zappelte sie in der Pranke des Vampirs, der diesen Moment mit boshaftem Vergnügen auskostete.
Tom konnte nicht hinsehen. Sie saßen in der Falle, alle am Boden, bewusstlos oder zumindest orientierungslos. Es gab nur eine einzige Hilfe, nur eine einzige Chance auf Rettung. Er konzentrierte sich und schrie: »Helfen Sie uns, Professor Daring! Bitte, helfen Sie uns! Bei der Macht der Simanui, bei den Kräften des Lichts, HELFEN SIE UNS!«
Wie aus dem Nichts durchschnitt plötzlich ein Lichtstrahl den spärlich beleuchteten Raum. Ein Schwert, ein langes zweischneidiges Rapier, erschien in der Luft, die Klinge mit einem Muster aus hell leuchtenden Saphiren besetzt. Das Daring-Schwert, die magische Waffe aus Elderwelt, die Tom gehorchte. Sie war erfüllt vom Geist des mächtigen Zauberers und Simanui, Professor Lewis Daring. Vampire wie Menschen erstarrten angesichts der Erscheinung. Tom war geistesgegenwärtig genug, vorzuspringen und die Waffe zu packen. Sofort fühlte er sich stärker, durchströmt von Zuversicht und Mut. Ehe der Vampir begriff, wie ihm geschah, hieb Tom auch schon mit aller Kraft zu, trennte dem Monster die Hand ab, mit der er Hunters Gurgel umklammerte. Der Vampir zischte und wich zurück. Doch das half ihm wenig. Tom stieß ein wütendes Brüllen aus, zog das Schwert von unten nach oben, spaltete den Vampir mit einem einzigen Streich von Schritt bis Stirn. Rauchend stürzten die leblosen Hälften zu Boden, Fleisch und Muskeln vergingen augenblicklich zu Asche, schwarzer Qualm stieg auf. Tom war, als vernähme er ein armseliges Wimmern jenes dämonenhaften Geistes, von dem alle Vampire besessen waren und der ihnen das schier ewige Leben und ihre enorme Stärke verlieh. Jetzt schied er dahin und verflüchtigte sich ins Nichts.
»Gut gemacht, Tom. Aber da sind noch zwei von denen unterwegs. Wo sind sie hin?«, hörte er Veyron hinter sich rufen. Sein Patenonkel rappelte sich eben auf die Füße und half dann Jane beim Aufstehen.
»Raus ins Treppenhaus, ich konnte es gerade noch sehen«, keuchte Jane und wischte sich Staub und Splitter von ihrem Blazer. Sie hatte einige blutige Kratzer im Gesicht, genau wie Veyron. Tom vermutete, dass er ähnlich lädiert war. Während sie den Überfall relativ gut weggesteckt hatten, zitterte Agentin Hunter am ganzen Körper. Sie schien drauf und dran, einfach wegzurennen.
Veyron berührte sie an der Schulter. »Es ist wohl besser, Sie bleiben vorerst in unserer Nähe, Miss Hunter«, meinte er zu der jungen Agentin. »Willkins, helfen Sie Darrow. Ich glaube, er ist noch bewusstlos.«
»Nein, ist er nicht«, erklang gleich darauf die Stimme des jungen Playboys. Im Gegensatz zu allen anderen hatte er nicht einen Kratzer abbekommen. Erstaunt sah er sich in der verwüsteten Wohnung um. »Wow! Ist ja wie in einem richtigen Actionfilm«, sagte er und begann zu kichern.
Willkins packte ihn am Arm und schüttelte ihn. »Das ist die Wirklichkeit, Danny! Reißen Sie sich zusammen. Und jetzt raus hier!«, schimpfte sie und stieß ihn vor sich her. Darrow verzichtete auf eine Erwiderung, sondern tat, wie ihm befohlen. Tom, wild entschlossen, allen Kreaturen der dunklen Seite den Garaus zu machen, schritt voran. Den drei Männern von SCO-19 konnten sie nicht mehr helfen. Hausmeister Driscoll war es nicht besser ergangen. Die Vampire hatten sich zu zweit auf ihn gestürzt, ihm das Genick gebrochen und anschließend sein Blut gekostet.
»Hoffentlich schließen die sich ihren Mördern nicht später noch an«, bemerkte Jane beim Vorbeilaufen.
Veyron schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Vampirismus überträgt sich nicht durch den Biss; das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Dafür müssten Menschen schon das Blut eines Vampirs trinken oder ein konzentriertes Serum, das die Meister der dunklen Künste herzustellen verstanden. Das geht bei Leichen jedoch schlecht. Los, weiter – und haltet euch von den Aufzügen fern. Wir gehen über die Treppe.«
Tom eilte voran, das Daring-Schwert erhoben. Die leuchtenden Juwelen warfen einen hellen Schimmer an die Wände. Wachsam blickte er sich nach allen Seiten um. Es waren immer noch zwei Vampir-Attentäter unterwegs; sie konnten ihnen überall auflauern.
»Ich hab meine Waffe vergessen, ich hab meine Waffe vergessen«, hörte er Agent Hunter immer wieder rufen.
Jane erwiderte darauf, dass Hunter froh sein könne, nicht ihr Leben verloren zu haben.
Stufe für Stufe eilten sie voran, und obwohl es nur vom vierten Stock nach unten ging, hatte Tom das Gefühl, sie folgten einer nicht enden wollenden Treppe. Allmählich setzten auch bei ihm Schock und Angst ein. Er musste jedoch einen kühlen Kopf bewahren und durfte sich nicht zur Panik verleiten lassen.
Endlich kamen sie unten an. Tom vergewisserte sich, dass draußen kein Gegner lauerte. Dann schlüpften sie vorsichtig zur Haustür hinaus. Draußen sah es nicht besser aus als oben in Hunters Wohnung. Leichen lagen überall herum, die brennenden Trümmer eines Einsatzfahrzeugs der Polizei rauchten auf der Straße, wie von einer Panzerfaust gesprengt.
»Heiliger Strohsack«, keuchte Tom, »waren das auch die Vampire?«