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»Nein«, sagte Veyron. Er war auf den Stufen zum Hauseingang stehen geblieben, die Augen wie in Trance auf das brennende Fahrzeug gerichtet. »Er ist es gewesen. Er ist wieder da«, flüsterte er.
Tom folgte dem Blick seines Paten. Vor dem brennenden Fahrzeug entdeckte er einen Schatten, eine unwirkliche schwarze Gestalt, fast wie ein Geist. Seelenruhig stand sie dort, ein schwarzes Schwert in den schwarzen Panzerhandschuhen haltend. Flammen züngelten an der Klinge entlang.
»Ich glaub, ich spinne«, keuchte Tom. »Ein Flammenschwert! Veyron, wer oder was ist das?«
»Das ist kein Vampir, Tom. Er ist etwas viel Schlimmeres«, erklärte Veyron halblaut.
Als wollte der schwarze Dämon Veyrons Worte unterstreichen, richtete er sein flammendes Schwert auf die Reihe geparkter Autos. Fasziniert und schockiert zugleich sah Tom zu, wie ein Feuerball von der Klinge wegschoss, Darrows Porsche traf und explodieren ließ. Gleich darauf sprang das Feuer über auf Janes Dienstwagen – mit demselben fatalen Ergebnis. Fahrzeug für Fahrzeug explodierte, die ganze Reihe.
Die Wucht der Explosionen schmetterte sie zu Boden; es regnete verbranntes Plastik, glühende Metallspäne und Glassplitter.
»Oh nein, mein Wagen! So eine Scheiße!«, hörte Tom Danny heulen. Der junge Mann war schon wieder auf den Füßen und stolperte auf sein zerstörtes Auto zu. Der mordgierige Schatten setzte sich ebenfalls in Bewegung. Doch im nächsten Moment war er verschwunden, hatte sich aufgelöst in eine schwarze Dampfwolke und war eingetaucht in einen der zahlreichen Schatten.
Tom verstand nicht, was hier passierte, aber Veyron schien wie üblich mehr zu wissen. Er sprang zu Tom, packte das Daring-Schwert und richtete die Klinge nach oben. »Zeit für etwas Zauberei, Professor«, rief er den Geist des Schwerts an. Plötzlich schossen blau leuchtende Blitze aus der Klinge, trafen die Straßenlaternen und ließen die Lampen aufleuchten. Heller und heller wurde das Licht, gleißend weiß, bis es Tom in den Augen brannte. Auf der False Lane wurde es taghell.
»Rennt um euer Leben, das wird ihn aufhalten – und die Vampire auch«, rief Veyron. Er stieß Tom voran, während Jane Darrow am Arm packte und mitzerrte. Hunter folgte ihnen wie ein angeleinter Hund. Von dem schattenhaften Schwertträger und seinen Vampiren war nichts zu sehen. Tom vermutete, dass sie das grelle Licht der Straßenlaternen mieden, weil es in Vampiraugen brannte. Und welche Wirkung es auch immer auf den wandelnden Schatten haben mochte, es hielt ihn zumindest fern.
Sie bogen gerade um die Ecke in die Bishop’s Bridge Road, als hinter ihnen der Simanui-Zauber endete. Die Lampen der Laternen explodierten eine nach der anderen, von der Energie des Zauberschwerts vollkommen überlastet.
Veyron erreichte eine Bushaltestelle, gerade rechtzeitig, um einen der roten Stadtbusse zu erwischen. Er sprang vor dem Doppeldecker auf die Straße und behinderte seine Weiterfahrt. Wütend öffnete der Fahrer die Tür und bedachte ihn mit einigen üblen Beleidigungen.
Veyron zögerte keinen Moment, sprang in den Bus, packte den Fahrer am Kragen und zerrte ihn nach draußen. »Tut mir leid, aber wir requirieren Ihr Dienstfahrzeug. Bitte rufen Sie umgehend Polizei, Feuerwehr und Krankenwägen in die False Lane. Vielen Dank«, sagte er dem Mann, dann wandte er sich an die wenigen Fahrgäste. »Alles aussteigen, dies ist ein Notfall!«
Die Leute schlichen eingeschüchtert zum Ausgang. Innerhalb von Sekunden war der Bus leer, dafür flüchteten nun Jane, Hunter, Darrow und Tom hinein. Veyron setzte sich hinter das Steuer, schloss die Türen und drückte das Gaspedal durch.
»Wir fliehen wirklich mit einem Bus?«, rief Hunter ungläubig.
Jane schubste die Agentin in den nächsten Sitz. »Gut erkannt«, raunzte sie. »Und jetzt halten Sie endlich mal den Rand. Veyron, wo fahren wir eigentlich hin?«
Er gab ihr keine Antwort, sondern raste mit Höchstgeschwindigkeit die Bishop’s Bridge Road hinunter, überholte andere Autos, wo immer es ging. Auf der Gegenfahrbahn wichen die Fahrzeuge hupend aus, rumpelten teils sogar auf die Gehsteige. Zum Glück waren um diese Uhrzeit kaum noch Fußgänger unterwegs.
Tom blickte in das Gesicht seines Paten. Veyron wirkte wie in Panik. Zum allerersten Mal, seit er ihn kannte, zeigte sein Patenonkel Nerven. »Veyron, wo fahren wir hin? Reden Sie mit mir!«
Veyron kurbelte wie verrückt am Lenkrad, zwang den großen, roten Bus eng um die Kurve, bog nach rechts in die nächste Straße ein. Tom, Danny und die beiden Frauen wurden in die Sitze gepresst.
»Wir müssen in Bewegung bleiben. Porchester Road, da haben wir jetzt grüne Welle, wenn wir die Geschwindigkeit halten. Auf allen anderen Abbiegungen kommen wir bei Rot zum Stehen«, erklärte Veyron hastig.
»Die haben uns so oder so. Da, schauen Sie mal!«, rief Danny und zeigte nach draußen.
Tom traute seinen Augen nicht. Ein Vampir rannte neben ihnen auf der Straße her, so unglaublich schnell, dass er alle Fahrzeuge überholte.
Eben rumpelten sie die Lord Hills Bridge rauf, eine alte Eisenbahnbrücke, als der Vampir an die Seite des Busses sprang und sich festkrallte. Veyron riss das Lenkrad nach links, ließ den Bus in das Brückengeländer krachen. Funken flogen, Metall barst, der Bus kam gefährlich ins Schlingern. Aber Veyron behielt die Kontrolle, ruderte hin und her, und im Nu waren sie wieder auf geradem Weg unterwegs. Den Vampir hatte es zwischen den Metallträgern des Brückengeländers in mehrere Stücke gerissen, die jetzt dampfend am Boden lagen und zu Asche zerfielen – das Schicksal eines jeden toten Blutsaugers.
Wie versprochen kamen sie bei Grün über die Ampel, bogen links in die Harrow Road ab, unter der Westway-Schnellstraße hindurch. Tom schüttelte den Kopf und sah sich im Bus um. Jane lag am Boden, während sich Hunter in die Rückenlehne des Sitzes vor ihr geklammert hatte.
Danny war dagegen auf den Beinen und kämpfte sich zur Heckscheibe nach hinten. »Wow! Junge, den hat’s erwischt! Super, Mr. Swift! Aber da ist noch einer, und der Kerl holt auf!«, rief er aufgeregt.
Veyron warf einen Blick in den Rückspiegel, trat das Gaspedal voll durch und ließ den Bus vorwärtsschießen. »Halt dich bereit, Tom. Mal sehen, was für Reaktionen der Kerl hat«, sagte Veyron mit einer Spur seiner üblichen Gelassenheit.
Als Veyron den Bus nach rechts riss und in Borune Terrace einbiegen ließ, schwammen sie noch immer auf der grünen Welle. Er schrammte an einem geparkten Auto vorbei, dass es herumwirbelte, sich überschlug und dem Vampir in den Weg polterte. Doch der Unhold war ein trainierter Killer, sprang einfach über Fahrzeug hinweg und holte weiter auf. Er sprang hoch durch die Luft, genau auf die Heckscheibe zu. Sie zersplitterte unter dem Aufprall und schleuderte Danny zu Boden. Der Vampir schwang sich in den Fahrgastraum, die Zähne gefletscht und seine Klauen bereit zum Zuschlagen.
Danny hob abwehrend die Hände. »Bleib mir bloß vom Hals, du Monster!«, schrie er.
Tom packte das Daring-Schwert und hechtete nach hinten. Zu spät! Er würde zu spät kommen! Doch dann traute er seinen Augen nicht. Als der Vampir sich auf den armen Danny stürzte, packte eine unsichtbare Kraft den Attentäter und beförderte ihn rücklings wieder aus dem Fenster hinaus. Danny schlug in Panik die Arme vors Gesicht, und auch Tom lief weiter auf ihn zu, aber der Vampir blieb verschwunden. Tom eilte zur zerstörten Heckscheibe und blickte nach draußen. Der Attentäter lag ein ganzes Stück hinter ihnen am Boden – jedoch noch immer lebendig. Während sie sich immer weiter von ihm entfernten, schüttelte er den Kopf, erhob sich wankend und nahm die Verfolgung wieder auf.
Tom wandte sich erstaunt an Danny. »Was war das eben? Haben Sie den Mistkerl etwa gerade hinauskatapultiert?«
Danny setzte sich auf und kratzte sich verwundert am Kopf. »Also, ich hab nichts gemacht. Vielleicht war’s dein cooles Zauberschwert?«
Tom warf einen nachdenklichen Blick auf das Daring-Schwert. Ihm war nicht aufgefallen, dass der Geist des Professors einen Zauber gewirkt hätte. Aber das war jetzt auch unwichtig. Der Vampir hatte sie bereits wieder eingeholt. Bevor der Unhold erneut in den Bus eindringen konnte, packte Tom Dannys Hand und zog ihn mit sich nach vorn.
Hilfe suchend schaute er zu Veyron. Der hatte den herannahenden Vampir offenbar bemerkt, denn der Gesichtsausdruck seines Paten zeigte allerhöchste Konzentration. So, wie dessen Blicke hin und her sprangen, mussten seine Gedanken rasen.
»Riskant, aber könnte klappen«, murmelte Veyron gerade.
Der Bus schoss auf die nächste Kreuzung zu. Veyron riss das Lenkrad herum, zog die Handbremse und gab gleichzeitig Gas. Auf Höhe Chichester Road schleuderte der Bus um die Kurve; das Heck schlug aus und kam gefährlich ins Kippen. Veyron gab noch mehr Gas, sodass die Drehung immer schneller wurde, bis die Reifen qualmten. Im nächsten Moment wurde der Vampir vom Heck erfasst. Der Aufschlag ging durch die ganze Fahrgastzelle, ein ohrenbetäubender Knall. Einer Kanonenkugel gleich schoss eine schwarze Masse davon, gegen die Wand des nächsten Hauses. Veyron ruderte am Lenkrad, gab Bremsen und Gas frei, und der Bus jagte nach links in die Chichester Road davon.
»Der steht nicht mehr auf«, meinte er lapidar.
Danny klatschte begeistert in die Hände. »Haben Sie gerade einen Drift gemacht? Mit einem London City Bus? Mit einem Bus?«
Veyron zuckte nur beiläufig mit den Schultern. »Mathematisch war es machbar und physikalisch nicht unmöglich, da wir nicht voll besetzt sind. Wichtig war nur, einmal komplett herumzukommen, um die kritische Masse zu erreichen, einem Vampir auch wirklich alle Knochen zu brechen. Das sind verdammt zähe Burschen«, dozierte er gelassen.
Die Freude über den Triumph währte nur kurz. Tom bemerkte es als Erster. Aus seinem eigenen Schatten trat plötzlich schwarzer Dampf hervor. Schon im nächsten Moment manifestierte sich der verhüllte Dämon inmitten der Reisekabine, in den Händen sein schwarzes Schwert. Sofort war Tom auf den Beinen, das Daring-Schwert zum Kampf erhoben. Die Juwelen glühten hell. Der Fremde zögerte keinen Moment, machte einen Ausfallschritt, schlug mit seinem Schwert zu. Tom parierte den Hieb und musste sich anstrengen, seine Waffe nicht sofort fallen zu lassen. Normalerweise focht das Daring-Schwert fast von allein, er brauchte es eigentlich nur festzuhalten.
Diesmal war sein Gegenüber jedoch kein vorwitziger Schrat, sondern ein Dämon von unglaublicher Macht. Eine ganz andere Energie lag in seinen Hieben, eine, die es mit dem Geist des Daring-Schwerts aufnehmen konnte. Tom ächzte unter dem zweiten Schlag seines Feindes, unter dem Dritten wich er zurück. Der Schattendämon setzte ihm nach, und mit nur einer einzigen geschickten Drehung seiner Klinge hebelte er Tom die Waffe aus der Hand. Das Daring-Schwert wirbelte davon, zum allerersten Mal im Duell besiegt. Tom ließ sich rücklings fallen und entging einem vierten Hieb, der ihn ansonsten enthauptet hätte. Er rutschte ein Stück über den Boden. Als er aufblickte, ragte der Schatten über ihm auf, das Schwert zum Stich erhoben.
»Tom!«, hörte er Jane rufen. Sofort war die Polizistin bei ihm, stieß ihn mit dem Fuß zur Seite und hob die Hände. Der Schatten zögerte jedoch nicht; es schien ihm nicht einmal in den Sinn zu kommen, dass man sich ergebende Feinde verschonen könnte. Er stach Jane in die Hüfte.
»VEYRON«, kreischte sie verzweifelt.
Tom riss entsetzt die Augen auf, als er Jane Willkins zusammenbrechen sah. Er stürzte zu ihr, nahm sie in die Arme und versuchte sie in Sicherheit zu schleppen. Der Schatten war ihm egal, und es kümmerte ihn auch nicht, als dieser erneut sein schwarzes Schwert hob, um sie beide zu töten.
Doch dazu kam es nicht. Eine unsichtbare Macht packte den Schatten und katapultierte ihn zwischen die Sitzreihen.
Veyron ließ den Bus von einer Seite zur anderen schwanken, indem er pausenlos am Lenkrad kurbelte. Chichester Road neigte sich dem Ende zu, ging über in Delamare Terrace – und gleich dahinter lag der Paddington Branch, ein für die Schifffahrt freigegebener Kanal. Veyron hielt mit Vollgas darauf zu.
Mit einem markerschütternden Knall durchbrach der Bus das stählerne Geländer und stürzte zwischen den verankerten Kuttern und Hausbooten in den Kanal. Tom sah noch, wie der Schattendämon in schwarzen Dampf vaporisierte und im Dunkel zwischen den Sitzlehnen verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Im nächsten Moment erfolgte der Aufprall, der Tom nach hinten gegen die letzte Sitzreihe schleuderte, Jane noch immer fest in den Armen. Wasser begann, durch die zerborstene Heckscheibe in den Bus zu strömen.
Danny Darrow kam zu ihm geklettert, zog Tom auf die Füße. Gemeinsam hoben sie Jane hoch und schoben sie vorsichtig durch die Heckscheibe nach draußen. Inzwischen lag sie auf einer Linie mit der Wasseroberfläche. Nicht mehr lang und sie würden komplett untergehen.
»Raus, oder wir sitzen da drin in einer Mausefalle«, sagte Danny.
Nachdem Tom sich vergewissert hatte, dass Veyron und Hunter ihnen folgten, kletterte er hinter Danny nach draußen. Sie schwammen mit Jane auf die Kaimauer zu. Die Polizistin hatte zwischenzeitlich das Bewusstsein verloren, doch jetzt erlangte sie es wieder. Sie schrie auf und begann, um sich zu schlagen. Tom hielt sie fest und erklärte ihr, dass alles in Ordnung sei, sie wären in Sicherheit.
Er schaute sich um. Hinter ihnen tanzten die Köpfe von Agent Hunter und Veyron auf dem Wasser.
»Da hin!«, rief er und steuerte mit Jane das nächste Hausboot an.
Leute säumten plötzlich den Kai, leuchteten mit Taschenlampen in Richtung des halb versunkenen Busses. Einige warfen ihnen von den Hausbooten aus Leinen zu und zogen sie an Land.
Tom und Danny kümmerten sich sofort um Jane, die sich kaum aufsetzen konnte. Sie streifte sich den Blazer ab und zerriss ihr Hemd an der Stelle, wo das Schwert des Schattendämons sie getroffen hatte. Tom wollte den Blick von der scheußlichen, tiefen Wunde abwenden und konnte es nicht. Das Blut floss in regelrechten Strömen, bis Jane ihre Hand mit dem Stofffetzen darauf presste.
»Ruft einen Notarzt! Ruft irgendwer den Notarzt! Hilfe!«, schrie Tom die herumstehenden Leute an.
Jane sank zusammen. Hunter riss einem Schaulustigen das Smartphone aus den Fingern und tippte eine Nummer.
»Wir bleiben am Wasser, bis der Krankenwagen kommt. Im Wasser greift seine Magie nicht. Hier sind wir sicher«, erklärte Veyron halblaut.
Tom packte seinen Paten am Arm. »Wer um alles in der Welt war das? Von einer solchen Kreatur habe ich noch nie zuvor gehört.«
Veyron atmete tief durch. »Er war einmal ein Mensch, jetzt ist er der schrecklichste Dämon, den die Welt je gesehen hat. Er ist einer der Sieben Schatten, der engsten Vertrauten des Dunklen Meisters, absolut loyal und vollkommen gewissenlos«, erklärte er.
Tom schaute zu Jane, die am Boden lag und zitterte.
»Mir ist kalt. Das ist der Schock, schnell, deckt mich zu und sorgt dafür, dass ich nicht das Bewusstsein verliere«, befahl sie ihren beiden Freunden.
Veyron nahm von einem der Umstehenden eine Decke entgegen und breitete sie über Jane. Tom, der nichts weiter tun konnte, dachte über die Worte seines Paten nach. Der Dunkle Meister! Schon zweimal hatten sie es mit seinen Anhängern, einmal sogar mit seinem Geist zu tun bekommen, nun also auch noch mit seinen obersten Handlangern. »Wer ist er, dieser Dämon? Und woher kennen Sie ihn?«
Veyron prüfte Janes Puls, und der ernste Gesichtsausdruck, den er machte, gefiel Tom gar nicht.
»Er ist der Schattenkönig, die rechte Hand des Dunklen Meisters. Ich hatte schon einmal mit ihm zu tun«, sagte Veyron leise. Er beugte sich über Jane und redete auf sie ein, wach zu bleiben.
»Was ist passiert?«, hakte Tom nach.
Es verging ein Moment, ehe Veyron antwortete. »Ich habe verloren.«
3. Kapitel: Ganz neue Wege
Veyron sollte recht behalten: Zu weiteren Angriffen des Schattenkönigs und seiner Vampire kam es diese Nacht nicht mehr. Es verging eine halbe Stunde, ehe Rettungskräfte und die Polizei eintrafen. Jane wurde sofort in den Rettungswagen verfrachtet und mit Höchstgeschwindigkeit ins Saint Mary’s Hospital gefahren. Nach einer kurzen Befragung durch die Polizei verlangte Veyron, dass Tom, Danny, Agent Hunter und er selbst ebenfalls medizinisch erstversorgt wurden. Bevor die Beamten sich wieder auf sie stürzen konnten, um ihnen Fragen zu stellen, auf die Tom keine Antwort zu geben gewusst hätte, brausten auch sie mit Blaulicht davon Richtung Notaufnahme. Sollte die Polizei doch den versenkten Bus fotografieren und andere Zeugen befragen – es standen ja genügend Leute rum. Unterwegs kamen ihnen Einheiten der Feuerwehr und noch mehr Polizei und Rettungskräfte mit Sirenen und Blaulicht entgegen. Die Medien hatten ebenfalls nicht lange auf sich warten lassen. Als sie im Krankenhaus eintrafen, beugten sich die Patienten im Empfangsbereich über ihre Smartphones und unterhielten sich über das, was bereits auf YouTube die Runde machte: Videoaufnahmen der brennenden Fahrzeuge und des versenkten Busses im Paddington Branch. Es wurde gemutmaßt und spekuliert, was geschehen war. Von der Wahrheit, da war Tom sicher, waren jedoch alle Theorien meilenweit entfernt.
Im Behandlungsraum entfernten ein Arzt und eine Schwester ihm zahlreiche Splitter, die sich praktisch überall in seine Haut gebohrt hatten. Noch nie in seinem Leben war er derart verpflastert gewesen. Als er endlich fertig verarztet war, schickten sie ihn hinaus in den Warteraum. Dort traf er auf Detective-Chief-Inspector Gregson, Janes Vorgesetzten und engen Vertrauten Veyrons. Der hünenhafte Inspector eine absolute Respektsperson, der man nichts zu verheimlichen traute, und normalerweise sehr besonnen. Doch heute wirkte der silberhaarige Gregson besorgt und aufgeregt. Er sprach gerade mit Danny, der ihm Details ihrer haarsträubenden Flucht berichtete. Agent Hunter sah Tom nicht. Er glaubte, dass sie sich nach der ärztlichen Behandlung in aller Stille abgesetzt hatte – vermutlich, um sich in irgendeinem MI-6-Versteck zu verkriechen. Wahrscheinlich musste sie sich vor C verantworten und ihm ausführlich Bericht erstatten. Veyron war ebenfalls nicht anwesend.
Nachdem Gregson ihn kurz begrüßt hatte, fragte Tom nach dem Verbleib seines Paten.
»Er ist bei Willkins, oben auf der Intensivstation. Komm, ich bring dich hin«, erklärte der Inspector, fasste Tom an der Schulter und führte ihn hinaus.
Schweigend gingen sie den Korridor hinunter, vorbei an hin- und herhuschenden Krankenschwestern und Pflegern. Die aufsehenerregenden Ereignisse dieser Nacht beeinflussten sie offenbar nicht. Für sie waren alle Patienten gleich.
»Hat es weitere Verletzte gegeben?«, wollte Tom wissen.
Gregson schüttelte den Kopf. »Nur ein paar erschrockene Passanten, die neugierigen Fernsehjournalisten von einem ›wild gewordenen Busfahrer‹ berichtet haben. Einige behaupteten, zwei riesige Kerle gesehen zu haben, die dem Bus nachliefen und ihn sogar einholten.« Der Inspector lächelte säuerlich. »Zum Glück hat ihnen niemand geglaubt, sonst wär jetzt die Hölle los. Die Explosionen in der False Lane halten die meisten Medien derzeit für Terroranschläge, manche denken aber auch an Unruhen.«
In Toms Kopf drehte es sich, als er versuchte, die Vielzahl an Informationen aufzunehmen und in den richtigen Kontext zu bringen.
»Das wird die nächsten Tage viel Ärger geben. Ein ganzes Team der Polizei wurde ermordet. Wir haben keinen Täter, keine Terroristen, keinen Amokläufer«, raunte Gregson neben ihm.
»Es war der Schattenkönig. Ich hab ihn selbst gesehen«, erwiderte Tom, worauf Gregson seine linke Schulter kurz drückte.
»Ja, das hat Veyron auch schon berichtet«, sagte er. »Doch das können wir der Presse wohl kaum erzählen, oder? Diese Sache sieht einfach zu sehr nach einem Terroranschlag aus, und das wird dann letztlich auch die Runde machen. Die ganze Stadt wird in Furcht geraten, Politiker werden diskutieren, und wir, die Polizei, werden wie Idioten dastehen. Weil wir nicht in der Lage waren, diesen Angriff zu verhindern oder die Schuldigen festzunehmen.«
Mit dem Lift ging es ein paar Stockwerke hinauf. Die Intensivstation wurde von zwei uniformierten Constables bewacht. Gregson zeigte seine Marke, und man ließ ihn hinein. Tom durfte ebenfalls passieren.
»Polizeischutz«, erklärte Gregson. »Intern gehen wir von einem gezielten Anschlag aus, darum steht Willkins jetzt unter Bewachung. Niemand, der nicht autorisiert ist, darf zu ihr – nicht einmal das Personal des Krankenhauses.«
»Das wird den Schattenkönig nicht aufhalten. Ich hab gesehen, dass er sich teleportieren kann«, raunte Tom halblaut.
Gregson kniff kurz die Lippen zusammen – ein stilles Eingestehen der eigenen Hilflosigkeit.
Sie kamen in den Vorraum, wo sie Veyron fanden. Einsam und allein saß er auf einem Stuhl. Dass ihn das Ganze ebenfalls sehr mitnahm, konnte Tom an seiner finsteren Miene erkennen – und sein Pate ließ sogar den Kopf etwas hängen. Das erschreckte ihn mehr als vieles andere in dieser Nacht. Hinter einer großen Scheibe erblickte er Jane. Leichenblass lag sie auf einem Krankenbett, an zahlreiche Schläuche angeschlossen. Ein furchtbarer Anblick.
Ein Arzt kam soeben aus dem Raum und nickte ihnen zu.
»Wie geht es meiner Kollegin?«, fragte Gregson sofort.
»Sie ist stabil, aber sie hat viel Blut verloren«, antwortete der junge Mediziner. Er warf Tom einen abschätzenden Blick zu, nahm Gregson etwas beiseite und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Und da ist noch etwas, das uns Sorgen bereitet. Ihr Herz ist angegriffen, und sie zeigt alle Anzeichen einer Vergiftung. Wir kennen aber das Gift nicht und wissen nicht, wie wir sie behandeln sollen. Wir wollen sie vorerst in ein künstliches Koma versetzen, um die Ausbreitung des Gifts zu verlangsamen.«
Wenn er glaubte, Tom würde ihn nicht verstehen, irrte er. Er hörte es deutlich genug und schluckte. Veyron blieb allerdings ungerührt sitzen.
»Danke, Doktor. Würden Sie uns einen Moment allein lassen?«, bat Gregson und nickte nach draußen.
Der junge Arzt nickte. Kurz darauf waren sie unter sich.
»Sie wird es doch überleben, oder Veyron?«, fragte Gregson besorgt.
Zunächst reagierte Veyron gar nicht. Dann seufzte er und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich bezweifle, dass unsere Medizin in der Lage ist, sich mit dem Gift des Schattenkönigs zu messen«, sagte er ausdruckslos.
Sein Mangel an Emotionen machte Tom gleich wieder wütend. Jane lag im Todeskampf, und Veyron war nicht einmal jetzt in der Lage, ein wenig Mitgefühl und Wärme zu zeigen. »Moment mal! Sie reden da von Jane, Mann! Es muss doch etwas geben. Was ist mit den Elben? Königin Girians Heiler, die können sicher helfen. Den Heilungstrank der Elben habe ich schon mit ganz anderen Verletzungen fertig werden gesehen«, protestierte er – lauter, als er es beabsichtigte. Inspector Gregson bedeutete ihm, ruhig zu bleiben, doch er beachtete ihn gar nicht. »Lassen Sie uns nach Wisperton fahren und nach Elderwelt gehen. Bis spätestens morgen Abend können wir Hilfe für Jane organisiert haben und …«
Veyron schnitt ihm das Wort ab. »Wir können nicht nach Wisperton reisen. Die Agenten des Schattenkönigs beobachten uns, sie würden uns verfolgen und angreifen.«
Tom blieben die Argumente im Hals stecken. Ratlos blickte er auf die reglose Jane, schaute eine Weile dem hüpfenden Punkt auf dem EKG zu. »Es muss doch etwas geben, das wir tun können. Wir dürfen Jane nicht einfach sterben lassen«, meinte er leise und wischte sich die Augen. Der Kloß in seinem Rachen ließ seine Stimme versiegen. So durfte es auf keinen Fall enden.
»Wir können gar nichts tun.« Veyrons Stimme war entschieden und, wie Tom fand, absolut eisig. Sein Pate stand auf und ging, ohne dabei Gregson oder Tom noch einmal anzusehen, Richtung Tür.
Bevor er sie erreichte, trat ihm jedoch der Inspector in den Weg und packte ihn am Arm. »Sie dürfen ihn nicht gewinnen lassen, Veyron. Nicht noch einmal! Wenn jemand in der Lage ist, den Schattenkönig zu schlagen, dann sind Sie das«, herrschte er ihn ungewöhnlich scharf an.
Veyron wand sich aus Gregsons Griff. »Nein, das bin nicht«, gab er zurück und verließ den Raum.