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Was sich im Web bereits als Standard etabliert hat, entwickelt sich im Netz der Esoterik 2.0 mit einigen Parallelen: Auch hier steht unser Account schon bereit. Auch hier sind die schönen neuen Selbstbilder bereits hochgeladen. Auch hier erwartet uns eine neue schillernde Identität und mit ihr im Schlepptau viele neue „Freunde“. Auch hier bleibt man online, also immer brav an der Leine. Gruppendruck mit Kuschelfaktor – so formieren sie die Bewegungen der Neuen Zeit. Ob nun im Digitalen oder im Spirituellen: Als Türöffner zum Umworbenen dient da wie dort die Schmeichelei.
Spieglein, Spieglein
Diese entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als die hinter allem stehende treibende Kraft. In einer Gesellschaft, in der Schlagwörter wie „Liebe dich selbst“ beinahe schon wie ein Befehl ertönen, finden esoterische Himmelschlösser ein tragfähiges Fundament. Als Bausubstanz hierfür dient die gegenseitige Selbst-Bespiegelung. Wie in den Foren des Internet vernetzt man sich dabei gegenseitig. Hyper-Verlinken, das nicht nur fühlbar verbindet, sondern auch spirituell aufwertet. Geblendet von unendlichen Reflexionen eigener Selbstverschönerung wird die Scheinwirklichkeit zum Königspalast. Ein Spiegellabyrinth, aus dem man kaum mehr herausfindet. Hermetisch? Ja, nur diesmal nach außen.
Und genau dieses Außen gerät dabei mehr und mehr in Vergessenheit. Die Rede ist von jener sogenannten „Dualität“, sprich der realen Welt, der Welt mit Freud und Leid, der Welt mit den großen Herausforderungen der Menschheit, mit chinesischen Mauern und alljährlichen Ölteppichen. Inmitten unendlicher Reflexionen seiner selbst verliert sich das Ich in Wirklichkeiten, die uns scheinbar noch heiler und noch ganzer machen, aber mit Realität nichts gemein haben.
Wirklichkeit ist das, was wirkt – Verillusionierung
Derart losgelöst vom Irdischen dient die Esoterik 2.0 als groß angelegtes Gemeinschaftsprojekt phantastischer Wirklichkeitsentwürfe. Und wer möchte behaupten, dass die hier beschrittenen Dimensionen nicht erfahrbar, nicht spürbar wären? Kurt Lewin formuliert es treffend: „Wirklichkeit ist, was wirkt.“ [9] Sie kennen doch den Blick in die Unendlichkeit: die Aussicht ins Ewige inmitten der täglichen Rasur oder von mir aus beim alles glatt machenden Peeling? Nur zwei Spiegel genügen und wir leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Optische und seelische Rückkoppelungen schenken das Gefühl kosmischer Ausdehnung. Dem Betrachter seiner eigenen unendlichen Wiederholungen verleihen sie ein Antlitz endlosen Weitblickes und erhabener Weisheit.
Esoterische Communitys dienen sozusagen als Spiegelwelten wechselseitiger Verillusionierung. Man erfüllt sich gegenseitig mit Bedeutung und bestärkt einander beim gemeinsamen Gang aus der Realität in diese neue glanzvolle Wirklichkeit. Und, ob nun für die breite Masse oder nicht: Elitarismus schafft eben Charisma. Kennen Sie derartige Gesichter, die erleuchteten Antlitze selbstbestimmter Liebesbotschafter der Neuen Zeit? Diese Antlitze voll Güte und Fürsorge, diese Sinnbilder von Sanftheit. Ihre Mimik kann bezaubern, sie wirken wirklich. Und das nicht nur auf sich selbst, sondern vor allem auch auf jene, die noch ihre Heimat in der „alten Welt“ glauben. Charisma ist nun mal ansteckend, für seinen Träger geradezu klebend.
Hereinspaziert!
Esoterische Welten sind Wirklichkeiten in der Welt. Was beim ersten Hinschauen so anschmiegsam und auf sanften Pfoten daherkommt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Zerrbild unserer tiefsten Eitelkeiten. Gleich dem Narcissos der griechischen Mythologie verliert man sich auch hier in einem Spiegelkabinett der Selbstliebe. „Narzissmus“ ist eng verwandt mit dem Wörtchen „Narcosis“, also mit Betäubung. Und das, was die amerikanischen Psychologen Jean Twenge und Keith Campbell so treffend als „Narzissmus-Epidemie“ [10] charakterisieren, ereilt uns als Esoterik der Neuen Zeit in seinen schillerndsten Farben. Man muss nur genau hinschauen.
Demzufolge kann das Wohlgefühl, welches eine Welt „unermesslicher Liebe“ versprüht, ganz leicht zu kaltem Schauer am Rücken ausarten – narkotisierendes Opium fürs Volk, Gänsehaut nicht ausgeschlossen. Der Schritt in die unendliche Freiheit des „Neuen Zeitalters“ gleicht so bei Tageslicht eher einem befreienden Sich-Einschließen aus Angst vor allem Realen. Wir lieben nun einmal die geschützten Werkstätten der Selbstumkreisung. Leicht übersehen wir, wie sehr wir uns von der großen weiten Welt wegsperren. Die ganz Tapferen unter uns – selbst ernannte „Lichtpioniere“ des nahenden Himmelreiches – werfen entschlossen den Schlüssel weg. Sie üben sich im Vergessen. Sie finden Erlösung in selbstlosem Sich-selbst-Vergessen.
Nein, goldene Käfige sind nicht mehr das Privileg irdischer Königshäuser. Schließlich erleben wir eine noch nie dagewesene Demokratisierung der Lebensstile. Goldene Gardinen gibt’s heute für jeden. Wir erleben ein Zeitalter des „Cage on demand“: jedem sein Aufgefangensein, jedem seine Wirklichkeit. Je größer der Käfige Glanz, desto eher wird man zur Prinzessin. Aber Achtung, es ist nicht alles Gold, was glänzt, und goldene Legebatterien verhelfen noch lange nicht zu goldenen Eiern. Die Kristallkugel wird zur Heimat, die Wirklichkeitsblase zum Kerker. Doch Zwinger aus Glas sind für ihre Insassen leider unsichtbar. Die wahren Gefängnisse sieht man nicht, die sind im Kopf. Hereinspaziert in das goldene Zeitalter esoterischer Selbstgefälligkeit.
New Age war gestern! Willkommen im New Cage!
Grund und Grundsätzliches
Deshalb dieses Buch
So wie vielleicht auch Sie kenne ich jemanden, der in eine lichtvolle Parallelwelt abdriftete. Taub für alle Zurufe von außen, unerreichbar für Verwandte und Freunde. Man konnte nur zusehen, wie das Bizarre unaufhaltsam seinen Lauf nahm. Jedes Tun, jede gut gemeinte Intervention besorgter Angehöriger machte alles nur noch schlimmer. Und so war es mein eigenes Unvermögen, zu helfen, das einen ungeahnten Wissensdurst in mir nährte. Ich wollte verstehen, welche Dynamiken dahinterstehen, wollte wissen, welche Sogkräfte hier wirken und welche Leute mit Derartigem ihr Geld verdienen.
Und dann passiert es: Sie beschäftigen sich mit einer Sache intensiv und irgendwann kippen Sie rein. Irgendwann sitzen Sie selbst bei einem Engelsfestival, mit Rekorder, Mikrofon und Kamera. Sie entwickeln ein unbändiges Mitteilungsbedürfnis, denn was Sie dort erleben, schreit förmlich zum Himmel. Und ehe sie sich versehen, sitzen sie zu Hause. Zwei Bildschirme und einen Esstisch voller Flyer, Kataloge, Amulette und Sprays – Engelssprays wohlgemerkt. An Ihnen nagt ein beklemmendes Gefühl, denn Sie wissen nun schlichtweg zu viel. Sie haben schon alles probiert, Urlaub machen, Bier trinken, meditieren oder sonstige Formen des Loslassens. Aber dieser klobige Elefant steht mitten in Ihrer Wohnung und geht von alleine nicht mehr weg. Außerdem versperrt er Ihnen die Sicht auf die wundervollen Tiroler Berge da draußen.
Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Sie greifen zur Machete, beginnen das Ungetüm zu filetieren. Hieb um Hieb und Stück für Stück. Das Ergebnis dieses Prozesses bekommen Sie nun serviert, in Buchform, häppchenweise Seite für Seite. Mein Beweggrund war also purer Leidensdruck. Psychohygiene auf eine ganz eigene Art. Triebfeder Geld? Mal ganz unter uns: Gitarre spielen in der Fußgängerzone ist nicht nur lustiger, sondern auch ungleich lukrativer!
Esoterik, die ich meine
Sie umschreibt nicht unbedingt die Welt der Wünschelruten, Wasserbelebung oder Mondphasenkultivierung. Schließlich wird hier immer noch, mal mehr, mal weniger, so etwas wie Verstand angesprochen. Natürlich erweisen sich die dahinter verborgenen Weltsichten und Argumentationen bei näherer Betrachtung oft mehr als scheinlogisch und kurios, dennoch denken die Praktizierenden hier nach wie vor irgendwie mit. Der Vorwurf des Unwissens steht natürlich noch im Raum, doch dieser relativiert sich in Anbetracht einer hyperkomplexen Welt. Wer kann und will schon immer alles wissen?
Nein, die Esoterik, die ich meine, besticht durch eine ganz andere Wirkmacht. Die Rede ist vom magischen Sog abstrusester Entwürfe. Verbunden mit einer fahrplanmäßig inszenierten Dramaturgie ziehen diese ihre Opfer in einen verhängnisvollen Bann und lassen sie nicht mehr los. Das Resultat prägt die eigentümliche Ästhetik esoterischer „Fachzeitschriften“. Sie zeugt vom vollständigen Aufgehen in fiktiven Wirklichkeiten oder schlicht von Absorption. Bilder und Figuren, wie wir sie eher aus Stephen-King-Verfilmungen kennen. Auf die gleiche Weise rufen auch die Verkaufsstände diverser „Bewusstseinsmessen“ tiefste Mulmigkeit hervor. Und wenn man sich nur ein klein wenig mit der deutschen Geschichtsschreibung auseinandergesetzt hat, wird’s bei den da wie dort plakatierten Symboliken nicht besser. Bedenklichste Ideologien, neu und kuschelig verpackt. Nettigkeit, wie sie herzloser nicht sein könnte. Ich spreche von „Hardcore-Esoterik“ – um diese geht es hier.
Was ist Spiritualität?
Keine Angst. Sie können, sofern das ihrem Naturell entspricht, weiterhin meditieren, hyperventilieren oder meinetwegen dem Schwitzhüttenzauber frönen. Spirituelle Praxis an sich ist nicht das Problem. Aber vorab gleich eine Bitte: Bemerken Sie, dass Ihre bewusste Entscheidung, dies oder jenes zu tun, (hoffentlich) Ihrer Ratio entspringt. Bedenken Sie dabei auch, dass die Freiheit, es überhaupt tun zu können, einer rationalen, toleranten Umgebung bedarf. Noch vor einigen Jahrhunderten hätte man uns für unser kultisches Treiben ganz einfach verbrannt.
Gewiss, Allverbundenheit ist etwas Wunderbares. Doch wird sie uns von nichts und niemandem geschenkt – wir öffnen uns ihr. Je nachdem wie wir die Dinge benennen, treiben sie uns entweder in die Enge oder eröffnen uns Möglichkeiten zu mehr Freiheit. Der gravierende Unterschied besteht nämlich in der Interpretation sogenannter „spiritueller Erfahrungen“: Sie entscheidet darüber, welches Weltbild wir uns schlussendlich einkaufen. Ist es ein magisches mit unzähligen Energien da draußen, die uns entweder wohltun oder piesacken, oder ist es ein rationales, das es uns erlaubt, unerschrocken und einigermaßen nüchtern auf die Welt und Mitmenschen zuzugehen?
Für mich persönlich birgt Beethovens „Neunte“ eine transformierende Kraft. „Seid umschlungen Millionen“, Liebe zur Menschheit und zum Dasein an sich. Wer spirituelle Empfindungen aber flatterhaften Feen und Elfen zuschreibt, erntet bestenfalls den Weitblick eines Fünfjährigen.
Noch mehr zur Ratio
Ratio bedeutet für mich mehr als bloß verkopftes Gedankenkreisen. Unter einer rationalen Perspektive verstehe ich eine Weltsicht, die nicht nur größeren Handlungs-, sondern vor allem auch Empathiespielraum bereitstellt. Wesentlich umfassender als beispielsweise innerhalb einer mythologischen Seinswirklichkeit, wo immer nur mein eigener Gott den Wahren und Einzigen markiert. Hieraus resultiert ein Mehr an interkulturellem Verständnis, mehr Sinn für Natur und Umwelt und weitreichendere Anerkennung anderer Bewohner dieses Planeten als Mitmenschen – also weniger ideologischer Separatismus als umfassenderes Verständnis füreinander.
Die Ratio geht also über das bloße Messen von Gehirnströmen hinaus. Sie birgt in sich ein eigenes Weltempfinden, das meines Erachtens wert ist, erschlossen zu werden. Gedanken fassen vormals noch Diffuses in Worte. Worte machen Erfühltes reflektier- und nicht zu vergessen kommunizierbar, schaffen also Kultur. Zur Wirkung kommt hier das dialogische Prinzip. Der rationale Weltenraum schafft dabei eine Art Kommunikationsrahmen, innerhalb dessen auch anderen Weltsichten Respekt zuteil wird. Ein so geteiltes Miteinander bringt einen Zuwachs an gegenseitigem Weltverständnis.
Und, wenn Sie so wollen, auch Mystik bietet das rationale In-der-Welt-Sein. Nur gilt es, diese auch freizulegen. Sich der eigenen Erkenntnisfähigkeit zu öffnen mag zwar etwas Radikales an sich haben, doch findet sich hierin eine ganz eigene Art der Inspiration. Unsere Kulturleistungen diesbezüglich sind enorm, man muss nur den Mut und vor allem die Muße haben, sich darauf einzulassen. Also keine Panik! Rationale Menschen leben nicht zwangsläufig auf einem ausgetrockneten, kahlen Wüstenplaneten. Auch Verfechter der Rationalität verlieben sich. Was Ratio aber schlussendlich ausmacht, kann und will ich Ihnen nicht definitiv beantworten, ich finde es selber jeden Tag aufs Neue heraus. Manchmal ist es ungewohnt und befremdlich, meistens aber befreiend.
Über Rausch und Trance
Um es hier gleich vorwegzunehmen: Trancezustände und außeralltägliche Bewusstseinserfahrungen erachte ich als wichtig. In vernünftigen Dosen eingesetzt ermöglichen sie eine Relativierung starrer Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster und eröffnen einen Zugang zu einem Lebensgefühl, fernab von „mein Haus, mein Auto und meine Bank“.
Mein persönlicher Zugang zu Dimensionen des Nicht-Verstandesmäßigen hingegen bedient sich eher der Ressourcen unseres Kulturkreises. Von Schuberts „Unvollendeter“, Karajan, über berauschende Bergwanderungen bis hin zu Jimi Hendrix: Jeder hat hoffentlich seinen eigenen Zugang! Doch kann ich auch nachvollziehen, dass mitunter auch andere Kulturkreise einen Weg zu neuen Sichtweisen eröffnen. Ja, oft entsteht hieraus auch ein fruchtbarer interkultureller Dialog und das können wir sicher brauchen.
Vom Gefängnis des Ich in die Tyrannei des Selbst
Doch abseits einer Überhöhung unserer Breitengrade sprechen wir hier auch vom selben Kulturkreis, der das Ekstatische seit mehreren Jahrzehnten immer massiver in seine Schranken weist. Soziologen orten eine „Überprivatisierung“ unserer Gesellschaft. Gemeint ist eine Leitkultur, in der jeder nur mehr er selbst sein soll, ja viel eher, regelrecht er selbst sein muss. Damit verbunden ist ein unhinterfragter Authentizitätskult, mit welchem wir jedem Freiraum entsagen, auch einmal jemand anderer sein zu dürfen. Starr und eingeengt im unverfälschten „wahren Selbst“ wird jedes Ausbrechen zum gesellschaftlichen No-Go.
Dabei avanciert die Verwirklichung des sogenannten „Selbst“ zur alles dominierenden Religion. Ob am Jakobsweg, beim Spirit Dance oder beim Tantra-Sex: Urlaub, Tanz oder Liebesspiel – alles nur mehr im Namen und auf Rechnung des Selbst. Der Philosoph Robert Pfaller betont in diesem Zusammenhang auch die Übervertrautheit, welche wir von unseren Beziehungen abverlangen. Andere nennen sie die „Tyrannei der Intimität“ [11]. Im Zuge dessen führt dieser Zwang, immer wahr und unverfälscht zu sein, schnell auch in eine wechselseitige Zementierung. Denn wir nehmen einander so jedweden persönlichen Entfaltungs- oder besser Spielraum.
Nehmen wir hier nun einen weiteren unhinterfragten Wert, nämlich „Gesundheit“ hinzu, dann erhalten wir eine mitunter fatale Mischung. Persönliches Wohlbefinden als höchstes Gut, verbunden mit der Verpflichtung zu permanenter Authentizität, machen uns hypersensibel und intolerant zugleich. Sie wirken mit an der Etablierung einer neumodischen Verbotskultur, welche Großstädte in George-Orwell-Utopien verwandelt. Rauchen, Trinken, Dicksein oder meinetwegen Nacktbaden – eine Welt, in der alles dem Rotstift zum Opfer fällt, macht uns vielleicht „sicherer“ oder „gesünder“, das Dasein jedoch erfährt eine beklemmende Einengung. Kein Wunder also, wenn Leute hier ausbrechen und in phantastische Wirkwelten auswandern. Doch egal wohin: Das allem zugrunde liegende Religiöse schleppen sie unbewusst mit. Das Resultat prägt das ganz und gar selbstbewusste Auftreten spirituell-esoterischer Selbstdarsteller: hyperauthentisch, aber nicht echt.
„Man muss sich an seiner Religion abarbeiten“ …
… betont der Medienphilosoph Norbert Bolz [12]. Und damit meint er nicht die persönlich zurechtgezimmerte, sondern jene unseres Kulturkreises. Denn ansonsten klebt uns diese immerzu an den Fersen, Schritt für Schritt. Ob nun im Selbstverwirklichungsmilieu oder in esoterischen Dunstkreisen, wo man hinschaut dieselben Schemata: Schuldgefühle, Unwertsein, Ablasshandel, Beicht- und Bekenntniskult, Leistungsethos, Dienen sowie Erlösungssehnsucht: Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Wer sich seine kulturgeschichtlichen Wurzeln nicht vergegenwärtigt, wird ewig in diesem Hamsterrad rotieren. Denn diese Prinzipien prägen gewissermaßen unser Ich-Empfinden. Ob wir das loswerden können, wage ich nicht zu beantworten. Doch simples Wissen kann hier helfen.
Gewiss, Meditation dient als gangbarer Weg zu mehr „subjektbezogener“2 Gegenwärtigkeit, doch den Geschichtsunterricht ersetzt sie uns nicht. Ganz im Gegenteil: Falsch verstanden und eingesetzt bedient sie viel eher die Auswüchse einer in sich selbst verliebten Gesellschaft und der darin kultivierten Glückseligkeitsdoktrin. Meditation ohne Wissen ist wie das Reisen ohne Landkarte, man verirrt sich leicht. Und egal ob nun Trance oder die Praxis kontemplativer Versenkung – Medikamente können gesund machen, doch wenn man sie auch als Gesunder noch nimmt, dann ist das Doping. Doping macht schnell auch süchtig.
Unabhängig also davon, welche Form der Innenschau wir betreiben, es lohnt sich, darüber zu reflektieren, wann man auf dem Holz- oder besser Kreuzweg ist. Denn je mehr man sich mit seinen eigenen vier Wänden beschäftigt, desto mehr abgestoßene Ecken, Kanten und Macken treten hervor: Polieren, Putzen, Staubsaugen, Selbstoptimierung ohne Ende sind die Folge. Eingebettet in einen Wettlauf spiritueller Workaholics werden wir so vielleicht immer noch heiler, noch ganzer, noch leidfreier, aber wozu? Wird’s nicht ab einem gewissen Grad irgendwie unnatürlich? Gibt es nicht noch etwas Wichtigeres als das eigene Innenleben, etwas Erstrebenswerteres als formvollendete Ganzheit?
Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück
Eben derlei „Werte“ gilt es zu hinterfragen. Ansonsten landen wir abermals bei Franz Schubert: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück.“ Uns plagt die Sucht nach dem Sehnen, die im Stück „Der Wanderer“ ihren Widerhall findet. Ewig getrieben von einer unbändigen Gewissheit, wonach überall die Wiesen grüner sind, nur nicht im eigenen Garten. Sei es nun beim Schamanen im peruanischen Urwald oder in einem Tempel im Himalaya. Wir machen uns bereitwillig zum Spielball unserer eigenen Projektionen.
Es ist absolut in Ordnung, Weisheitslehren aus Fernost zu importieren, doch müssen wir deshalb auch deren spirituell-aristokratische Hierarchien mitbejubeln? Es ist okay, sich dann und wann dem Irrationalen hinzugeben, doch müssen wir deshalb gleich höhere Wahrheiten mit ins Boot holen? Karma-Religionen und irrationale Erklärungsmodelle eröffnen einen Kosmos, in dem jeder alles behaupten kann und darf. Wenn wir dahin zurücksteuern, liegt jede Beweislast fortan beim hilflosen Kritiker. Dann können wir gleich wieder Hexen verbrennen. Der sehnsüchtig Suchende läuft hier Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Und ehe man sich’s versieht, verwirft man alles, was Denker, Künstler und Schreibende aller Art über Jahrhunderte an Freiheit für uns erkämpft haben.
Doch Freiheit scheint heutzutage nicht mehr viel wert. Für manche wirkt sie geradezu wie ein Feindbild. Apolitisch, antiintellektuell und antimodern. Wenn es um die bereitwillige Aufgabe aufklärerischer Werte geht, liefert die Esoterik 2.0 ein umsatzträchtiges Exempel. Von Frauenrechten keine Spur, inszeniert frau sich als Engel oder „Weisse Priesterin“ [13] – narzisstische Aufwertung mit dem Etikett einer neu gefundenen Reinheit. Doch tatsächlich geht es hier um eine groteske Form von „Ent-freiung“, welche das Gefühl von Freiheit verkauft – ein Rückschritt ins dunkle Spätmittelalter und nichts anderes.
Es bleibt, was es ist, ein New Cage.
Voodoo lebt weiter – vom Kult zur Kultur
Laut führenden Trendforschern glauben 40 Prozent der Deutschen ihr Leben von magischen Kräften durchwirkt [14]. So wie das „Entgiften“ des eigenen Körpers zum selbstverständlichen Ritus einer neuen Gesundheitskultur geworden ist, säubert beziehungsweise „entstört“ man dieser Tage selbstredend seinen Wohn- und Arbeitsbereich. Nicht nur sauber, sondern energetisch rein soll nun alles sein. Lokalisierte man ehemals noch irgendwelche Geister oder verlorene Seelen als Quelle seines Unbehagens, geht man nun daran, sein Dasein wieder an das „astrale Magnetgitter“ anzubinden. Das alles im Namen der Ganzheitlichkeit, das Universum als lebender Organismus. Re-Connection an die kosmische Ordnung und laufende Rekalibrierung sind die magischen Einflussnahmen der Esoterik 2.0.
So wie alle anderen Bereiche unseres Lebens unterliegt auch das Magische bestimmten Moden. Die neuen Labels sprechen nicht nur die Sprache ihrer Zeit, vor allem bedienen sie die Sehnsüchte eines weitaus größeren Publikums als je zuvor.
Realpolitik einmal anders
„Warum geraten Parlamentarier in Rage?“, fragte die österreichische Kronen Zeitung im Jänner 2012. Die Antwort scheint einfach: „Erdstrahlen und Wasseradern“. Und diese wurden bald ausfindig gemacht: von einem Mitglied des Parlaments – seines Zeichens „Energethiker“ – und seinem Team. Mittels Wünschelrute, Weihrauch und Truthahnfeder erfolgte ein eigenwilliger „Energie-Check“ im großen Plenarsaal des Hohen Hauses, in Anzug und Krawatte versteht sich. Das Ergebnis: Kanzler und Vizekanzler säßen auf energetisch „guten“ Plätzen, am Rednerpult hingegen wirke „das härteste Störfeld des ganzen Saales“. Diese Belastung könne „aufwühlen und aggressiv machen“!
Folgt man dem Ergebnis dieser Untersuchung, bedürfen gesellschaftliche Spannungen weniger politischer Lösungen als viel eher energetischer Säuberungen. Quelle: [15]
Es sind schon lange nicht mehr die Spinner
Die Marketingfachleute haben den allgemeinen Trend längst aufgegriffen. Man spricht vom Entstehen einer „neuen Bewusstseinsindustrie“, und das in einer „Gesellschaft der Sinnsuchenden“ [16]. Die sogenannten „Sinntouristen“ werden in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren an die „40 Prozent aller Urlauber“ ausmachen, konstatiert Eike Wenzel vom Zukunftsinstitut Kelkheim. Dazu passen Berechnungen der Dresdner Bank, wonach die deutschen Bundesbürger bereits jetzt pro Jahr „an die neun Milliarden Euro in Lebenshilfe, Orientierung, Selbstverwirklichung und Sinnsuche“ investieren. Von einem Industriezweig zu sprechen scheint da wohl kaum übertrieben. In diesem Umfeld gereicht so etwas wie „yogisches Fliegen“ nicht mehr zur Besonderheit. Ganz im Gegenteil: Ehemals „Esoterisches“ wird zusehends zu einer Art Volkssport. Wer hier nicht mitmacht, stellt sich geradewegs ins Aus.
Schon Georg Lukács (1916) ortete ein Zeitalter „transzendentaler Obdachlosigkeit“ [17]. Und von einem Rückgang des religiösen Hungers will wohl niemand ernsthaft reden. Umso vielversprechender demnach die Frage, welche Form die spirituellen Einhausungen dieser Tage angenommen haben. Eines kurz vorweg: Esoterisches Gedankengut ist uns keineswegs fremd. Es ist vielmehr zum selbstverständlichen Geistesgut unserer Gesellschaft geworden.
Von rosaroten Panthern
Wer hat an der Uhr gedreht? Theologen wie Paul M. Zulehner bemerken vor allem seit den Neunzigerjahren einen „Megatrend zur Respiritualisierung“ [18] unserer Lebensweise und damit einhergehend eine kontinuierliche Verfärbung unserer sozialen Wahrnehmung. Ehemals Exotisches wird nicht mehr als solches identifiziert. Und wenn uns das Rosa der Esoterik nicht mehr ins Auge sticht, mag das auch folgende Gründe haben:
Vielleicht tragen wir alle bereits rosarote Brillen. Paulchen Panther wäre demnach für unser Auge kein Verdächtiger mehr. Er erschiene ganz einfach wie einer von vielen. Um ihn zu finden, müssten wir den Filter aus unserem Blick entfernen, aber wie soll das gehen?