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Die am meisten aufgeladene Szene in Crash findet in einer Autowaschanlage statt, wo James im Rückspiegel Catherine und Vaughan anschaut, die – in den Worten des Drehbuchs von Cronenberg – wie »zwei halb-metallische Menschenwesen der Zukunft in einer Chromlaube Liebe machen.« Deborah Unger, der eigentliche Star des Films, beeindruckt hier besonders. Wie eine Art Katzenroboter »spielt sie mit ihrem Haar, macht kleinere Korrekturen und bewegt den Kopf und signalisiert so die Übertragung kleiner Emotionen.«36
Wer benutzt hier wen? Die Antwort ist, dass alle drei Figuren einander benutzen. Catherines Begegnung mit Vaughan erregt James, genauso wie Catherine von dem Gedanken erregt wird, dass James sie mit Vaughan beobachtet. Der wiederum benutzt das Paar für seine eigenen libidinösen Experimente, während die Ballards Vaughan als dritte Figur in ihrer Ehe benutzen. Eine Mis-en-abyme des Begehrens …
Weit entfernt von einem Albtraum gegenseitiger Beherrschung, handelt es sich dabei um Cronenbergs/Ballards sexuelle Utopie, ein perverses Gegenstück zu Kants Reich der Zwecke. Das Reich der Zwecke war Kants ideale ethische Gemeinschaft, in der alle einander immer auch als Zweck betrachten. Aus Sicht der Ethik war Sex für Kant ein Problem, denn eine sexuelle Begegnung beruht darauf, den anderen als Mittel zu betrachten. Die einzige Möglichkeit, Sex mit dem kategorischen Imperativ in Einklang zu bekommen – der in einer seiner Versionen besagt, den anderen niemals als Mittel zum Zweck zu betrachten –, bestand darin, Sex in den Kontext der Ehe zu überführen, worin beide ihre jeweiligen Geschlechtsorgane zur gegenseitigen Benutzung einander vertraglich überschreiben.
Begehren wird hier als simple Aneignung gedacht (darin besteht eine weitere Parallele zwischen Kant und de Sade). Doch was Kant und jenen, die ihm darin folgen, indem sie Pornographie als »verdinglichend« denunzieren, entgeht, ist, dass unser tiefstes Begehren nicht darin besteht, einen anderen zu besitzen, sondern von ihm/ihr verdinglicht zu werden, von ihm/ihr in deren Phantasie benutzt zu werden. Darin besteht eine Bedeutung des berühmten Satzes von Lacan, dass »das Begehren das Begehren des anderen« ist. Die perfekte erotische Situation würde weder die Dominanz noch das Verschmelzen mit anderen involvieren; vielmehr würde man von jemandem verdinglicht, den man auch verdinglichen möchte.
Crash folgt natürlich Masoch und Newton darin, dass Sex von Genitalität gelöst wird. Die Libido lebt mehr von der Mis-en-scene statt vom Fleisch, das seine Anziehungskraft fast vollständig aus seiner Nähe zum braven Anorganischen bezieht – Kleidung soviel wie Autos. In der Rolle der Kleidung besteht der Unterschied zwischen der kalten und grausamen Kultivierung der Erscheinung im glamourösen Hochglanzporno und der Leidenschaft für das Reale im Hardcore-Streifen. Ohne Anzüge, Kleider und Schuhe, ohne Fell, Leder und Nylon ist Pornographie kaum mehr als das Arrangement im Schaufenster eines Fleischers. Newton erzählte Ballard, dass er »Cronenbergs Crash liebte«, doch dass ihn eine Sache störte. »Die Kleider«, flüsterte er. »Sie waren so schrecklich.« Mir erscheint das sehr unfair gegenüber der eleganten Kostümierung, die Denise Cronenberg für den Film entworfen hat. (Ein großes Problem von Jonathan Weiss’ Version von Die Schreckensgalerie besteht wiederum darin, dass die Kleider tatsächlich schrecklich sind.) Crash bezieht seine Inspiration aus den Hochglanz-Modemagazinen, deren Bilder den Prunk der schönen Künste geradezu übertreffen und steht mehr in Verbindung mit devianter Erotik als mit Hardcore-Pornographie. Ist unmöglich, eine Pornographie zu denken, die von Dior oder Chanel gesponsert und von einem modernen Masoch oder Ballard geschrieben wurde, deren Phantasien so kunstvoll inszeniert werden wie im besten Glamour-Magazin, das es gibt?
Eine Welt aus Furcht und Angst 37
»Kein Schlaf. Nur Arbeit –
Immer hell.
Kopf an der Scheibe, Sonnenaufgang –
Auf den Straßen unten versammelten sich die Truppen. Die Rote Garde skandierte laut:
Scab, Scab, Scab –
Der Morgenchor der Sozialistischen Republik South Yorkshire.
Noch eine Tasse Kaffee. Noch ein Aspirin.«38
David Peace, GB84
GB84 von David Peace ist in einer Prosa verfasst, die so kalt und unerbittlich ist wie die Neonröhren einer Raststätte.
Der harsche, expressionistische Realismus, den Peace über die vier Bücher der Red Riding Quartett-Reihe hinweg perfektioniert hat, eignet sich hervorragend für die Themen von GB84, die Ereignisse rund um den Bergarbeiterstreik 1984/85. Die Zeit der Quartett-Reihe bewegte sich vorwärts – 1974, 1977, 1980, 1983 –, so als ob sich die Bücher dem schicksalhaften Jahr im Titel von GB84 immer weiter annähern, ohne es zu erreichen. Von dort aus geht es rückwärts; bei GB84 handelt es sich »eigentlich um den letzten Teil einer invertierten Nachkriegstrilogie, zu der auch UKDK gehört, ein Roman über den Plan der Ermordung Wilsons und dem sich anschließenden Aufstieg Thatchers sowie ein weiteres Buch, bei dem es vielleicht um die Regierung Atlee geht«. Vom Schauerkrimi zum politischen Gruselroman …39
Der kompromisslos parteiliche Roman endet mit der Beschwörung: »Dies ist England, Euer England – im Jahre Null.« 1985 jedoch, dem Jahr in dem sowohl der Streik als auch das Buch endet, war alles andere als ein Neuanfang oder eine Welt voller Möglichkeiten für das »uns« des Buches. (Tatsächlich steht zu diesem Zeitpunkt die Existenz dieses »uns«, des proletarischen Kollektivsubjekts, überhaupt infrage. Gleichzeitig ist GB84 der erste Roman von David Peace, in dem die Möglichkeit eines kollektiven Subjektes überhaupt erwogen wird. Normalerweise sind seine Figuren solipsistische Einzelwesen, die nur durch Gewalt verbunden sind, ihrem einzigen gemeinsamen Projekt.) Im Gegenteil: Es war das Jahr einer katastrophalen Niederlage, deren Ausmaße erst nach mehr als einem Jahrzehnt sichtbar wurden. (Vielleicht wurde die Niederlage erst mit der Wahl von New Labour zwölf Jahre später sowohl erkannt als auch zementiert.)
Heute wissen wir – auch wenn das nicht die Spannung des Romans ausmachen kann –, dass es sich bei dem Bergarbeiterstreik um eine gescheiterte Proletarisierung gehandelt hat. Auf die Ereignisse, die das Buch beschreibt, folgten Fragmentierung, neue Möglichkeiten für eine Minderheit, und Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung für die Mehrheit. Die mobilen Streikposten, die Arthur Scargill in den späten 1960ern und frühen 1970ern so erfolgreich einsetzte (und die an der Demütigung und dem Zusammenbruch der Regierung Heath entscheidenden Anteil hatten), wurde mit umfangreichen Mitteln bekämpft (einschließlich einer hochorganisierten Bekämpfung der Streikaktionen durch den MI5), die schon zu Zeiten entstanden, als die Tories noch in der Opposition waren. Das Ziel war, die Solidarität unter den Arbeitern zu zerschlagen und zu verhindern, dass sie durch andere Industriezweige unterstützt werden. Die Entstehung des Working Miners Committee und der Union of Democratic Mineworkers (UDM) waren dafür entscheidend. Die Deterritorialisierung des Kapitals – seiner Verwandlung in »Nachrichten, die unmittelbar von einem Knotenpunkt zum anderen geschickt werden, über die ganze, frühere Welt, die frühere materielle Welt«40 – ging nicht mit einer Deterritorialisierung der Arbeit einher. Die Bergarbeiter wurden dazu verführt, sich mit ihrem eigenen Territorium zu identifizieren, anstatt mit der Industrie als Ganzes; deswegen gingen die Bergarbeiter in Nottinghamshire und Derbyshire wieder an die Arbeit, weil sie glaubten, damit ihre Zukunft zu sichern, aber in einer bitteren Ironie der Geschichte kein besseres Schicksal erfuhren als die Bergarbeiter anderer Zechen. Innerhalb eines Jahrzehnts ging fast die gesamte Kohleindustrie in England zugrunde und weder die Mitglieder der UDM noch der National Union of Mineworkers (NUM) hatten ein Auskommen.
Ja, all das wissen wir heute. Doch Peace stellte die Dramatik wieder her, indem er alles im Nachhinein gewonnene Wissen ausschließt. Die Ereignisse treten einem entgegen, wie als würden sie zum ersten Mal geschehen und zwar ohne den lindernden Schutzschild einer allwissenden Autorstimme. Wie Joseph Brooker in einem langen Artikel über GB84 in der aktuellen Ausgabe von Radical Philosophy schreibt41, fehlt dem Roman jede vermittelnde Metasprache. Die Tragik, die bereits von den ersten Szenen des Romans ausgeht, entsteht durch das Wissen, das wir, die Leser, vom Verlauf der Ereignisse mitbringen – aber das den Protagonisten notwendigerweise verwehrt ist.
Kontrafaktische Erzählung sind eine Domäne der reaktionären Rechten und Peace widersteht der Versuchung, die Tatsachen nachträglich zu verändern. Seine retrospekulative Literatur entsteht im Raum zwischen Fakten, Erschließung, Schlussfolgerung und Mutmaßung. Aber die Frage, die man sich als Leser stellen muss, ist: Was wäre, wenn die Bergarbeiter doch gewonnen hätten? (Eine Frage, die darum eine gewisse Brisanz enthält, weil spätere Erkenntnisse gezeigt haben, dass die Regierung einer Niederlage sehr viel näher war als vorher angenommen.) Das Narrativ, in dem der Streik nun stattfindet – dem einzigen Narrativ, das es gibt, der Geschichte des globalen Kapitals –, besagt, dass der Streik bereits den Rückgang organisierter Aufstände der Arbeiterklasse bedeutete. Die Niederlage war unvermeidlich, eingeschrieben in den historischen Übergang vom Fordismus zum Postfordismus. Die radikale Linke wird überflügelt und kämpft unter einem der Vergangenheit angehörenden Banner für die »Geschichte des Bergmanns. Die Tradition des Bergmanns. Das Erbe ihrer Väter und deren Väter«42.
Eine solche Narrativierung wirft jedoch Fragen auf, da die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung auf den Ereignissen des Streiks, wie sie sich wirklich entfaltet haben, beruht. Aber was, wenn es anders gewesen wäre? Unter dem Aspekt der Ewigkeit ist alles unvermeidlich und wir sind alle Spinozisten. Das Leben jedoch muss »vorwärts« gelebt werden, was uns zu Existenzialisten wie Sartre macht. Wenn man das Buch heute liest, entsteht zwangsläufig eine Spannung zwischen diesen beiden Positionen, zwischen dem Wissen, dass alles schon geschehen ist und so tun, als ob noch nichts geschehen wäre.
Eine Bande von Doppelgängern, fast Duplikaten, spukt durch die Seiten von GB84, dieser »Fiktion auf der Basis von Fakten«. Peace schreibt eine geheimnisvolle Geschichte der Gegenwart, in dem er die jüngste Vergangenheit simuliert. Die dramatis personae tragen nicht dieselben Namen wie ihr realhistorisches Pendent, manchmal haben sie überhaupt keine Namen, sondern nur Titel, die ihre strukturelle Position markieren: der Präsident, der Vorsitzende, der Minister. Manchmal werden reale Namen leicht verändert; in GB84 wird aus dem Geschäftsführer der NUM Roger Windsor der glücklose Terry Winters. Das Verhältnis dieser Simulationen zu ihren realen Vorbildern ist komplex. Der Präsident ist nicht Scargill. Aber er ist auch nicht nicht Scargill. Ohne Zweifel hat Peace teilweise die Namen geändert, um juristische Probleme zu vermeiden, doch auf merkwürdige Weise verleiht die imaginative Freiheit, sich von den tatsächlichen Biographien zu entfernen, den Figuren mehr Wirklichkeit. Er schafft es, in ihr Inneres zu blicken, wie es ihm bei echten Personen nicht gelungen wäre.
Am kontroversesten ist seine Darstellung von Stephen Sweet, dem professionellen Streikbrecher, der nach dem Vorbild Thatchers rechter Hand, David Hart, entworfen ist. Hart war die treibende Kraft hinter der Gründung des Working Miners Committee und der UDM. Im Roman sehen wir, wie Sweet den entscheidenden Kampf zwischen Polizei und Streikposten in der Kokerei Orgreave plant. (Heute gilt es als schwerer strategischer Fehler der NUM, dass alle Ressourcen auf Orgreave verwendet wurden.) Sweet wird die ganze Zeit als »der Jude« bezeichnet. Auch wenn diese Designation unangenehm ist – was sie auch sein soll, wie Peace gesagt hat –, wird jeder Verdacht des Antisemitismus durch ein genaues Lesen des Romans sofort widerlegt. Alles, was wir von Sweet sehen, erfahren wir durch die Augen seines Chauffeur-Faktotums Neil Fontaine. (Diese Distanzierung ist wichtig, da Sweets Wichtigtuerei und Prunk ein bisschen unglaubwürdig wirken. Es scheint, als fehle Peace die Sympathie für eine überzeugende Darstellung der Figur. Vielleicht war Hart aber auch die leicht absurde Person, als die Peace ihn im Roman darstellt. Jedenfalls macht Peace nicht den Fehler, Sweet als wissentlich bösartige Figur zu portraitieren; im Gegenteil, Sweet sieht seine Arbeit in einem messianischen Licht.)
Fontaine, wahrscheinlich ein korrumpiertes Mitglied der Arbeiterklasse, der für den Geheimdienst gearbeitet hat, ist als Romanfigur ein leeres Blatt, ein auf seine Funktion reduzierter Mensch (im Buch wird er verdoppelt durch David Johnson, den Mechaniker, der zu seinem Antagonisten wird, in der Vergangenheit aber zweifelsohne ein Verbündeter war). Es ist Fontaine, ein Mann mit rechten Meinungen und Verbindungen und wenig Leidenschaften, der nicht aufhören kann, Sweet als »den Juden« zu sehen. Diese Perspektive unterstreicht die provisorische Natur der Allianz, die Thatcher ins Leben rief: Irgendwie konnten im Programm Thatchers Faschisten mit Juden koalieren und Nationalisten mit Agenten des multinationalen Kapitalismus.
Fontaine ist in GB84 auch das Bindeglied zwischen den offenen und geheimen Aktionen des Staates gegen die Streikenden. Es ist die Aufdeckung der Rolle, die der Geheimdienst MI5 spielte, die Peace auf das Terrain endemischer Korruption und Verrats führt, das er in der Red Riding Quartett-Reihe so eindrücklich abgesteckt hat. Obwohl Peace es eigentlich so meisterhaft versteht, sich (und damit uns) in das Leben unverbesserlich korrupter Marionetten hinein zu versetzen, gibt es in GB84 keinen Polizisten als Hauptfigur. Es gibt Funktionäre des Staates: Fontaine, Johnson, aber vor allem Malcom Morris, ein Mann, dessen Rolle im Schatten bleibt, eine Chiffre, ein Spezialist für Abhöraktionen, der in einem an Francis Bacon erinnernden Delirium glaubt, dass seine Ohren ständig bluten …
In GB84 ist der MI5 die entscheidende Institution, die Terry Winters spektakulär unkluge Reise nach Libyen organisieren. Wie kann man die Fernsehbilder vergessen, in denen Roger Windsor Gaddafi in dessen Zelt küsst? Winters/Windsors Reise nach Libyen – nur ein paar Monate nachdem die Polizistin Yvonne Fletcher von libyschen Agenten getötet wurde – war ein wichtiger, vielleicht entscheidendes PR-Fiasko für die NUM. (Die tatsächliche Rolle von Libyen im Bergarbeiterstreik war ein wenig anders: Die Regierung Thatcher hatte unerlaubterweise die Ölimporte aus dem vermeintlich geächteten Regime erhöht, um der Gefahr von Stromausfällen vorzubeugen.) Das Ausmaß der Verschwörung zwischen Windsor/Winters und dem Geheimdienst bleibt offen. Er wollte den Roman als »Chaos« belassen, das der Streik war.
Die Verdopplung der historischen Fakten mit Peace’ Version von ihnen gehört zum Innersten des Romans, dessen fiktionaler Strang durch die Tagebucheinträge zweier Bergarbeiter gebrochen wird, Martin und Peter. Ihre Berichte, verfasst in dem Dialekt aus Yorkshire, den Peace so wunderbar einsetzt, waren »nicht fiktionalisiert«, so der Autor. Hier tauchen Scargill, Macgregor, Thatcher, McGahey und Heathfield unter ihren echten Namen auf. Die in der ersten Person verfassten Berichte zeugen vom düsteren Elend des Streiks, aber auch von der Kameradschaft, die einen Kontrast zu den Gemeinheiten, der Korruption und den hochrangigen Treffen darstellt, die den zentralen Erzählstrang des Romans ausmachen.
Peace sagt, dass er zuerst sich selbst in die Vergangenheit versetzt und dann beginnt, sich Vorstellungen zu machen. Es ist wie eine Art Method Writing oder eine Zeitreise. Peace hat dafür eine Reihe von Tricks ausprobiert. Er verwendet skeptische Zeitungsberichte, Bücher, aber vor allem Popmusik – nicht die Musik, die er selbst angehört hätte oder überhaupt gehört hat, sondern Songs, die damals allgegenwärtig waren und so zu einer Art Audio-Madeleines werden. Und so durchsucht er den Schund der Flohmärkte aus den Jahren 1984 und 1985 und findet unter dem dumpfen Glanz des weggeworfenen Post-New-Pop eine codierte Geschichte des Streiks. GB84 beginnt mit Nenas »99 Luftballons«, das zu einem apokalyptischen Karnevalslied wird, voll von all den Hoffnungen, die am Ende des langen Gewaltmarschs des Romans enttäuscht darnieder liegen. »Two Tribes« ist der Soundtrack zur nächsten Phase, der Konfrontation zwischen der Polizei und den Bergarbeitern (beide Lieder spielten natürlich mit den Ängsten des Kalten Kriegs, als sie veröffentlicht wurden; eine weitere Erinnerung daran, wie weit die Welt von 1984 von uns entfernt ist). Der Rausch und das Adrenalin der ständigen Zusammenstöße, des Wir gegen Sie, wird verdächtig (wer ist auf unserer Seite und wer auf der Seite der anderen?). »Two Tribes – Den verdammten Song höre ich jetzt schon seit Wochen mindestens zehn Mal am Tag, den können sie doch gleich zur neuen Nationalhymne machen, sagte Sean.«43 Für die letzte Phase des Streiks gräbt Peace »Careless Whisper« («guilty feet have got no rhythm«) und – weil der Winter kalt, aber nicht kalt genug war und die Stromausfälle ausblieben – »Do they know it’s Christmas« von Band Aid. Im Roman wird spekuliert, ob Band Aid ein von der Regierung geplanter Schachzug ist, um von den Nöten der Bergarbeiter abzulenken und die Zeile, die Peace für sein Sampling auswählt ist natürlich »There’s a world outside your window, and it’s a world of dread and fear.«
Sampling ist genau der richtige Begriff, da Pop, viel mehr als Literatur, Film oder Fernsehen (Peace hegt starkes Misstrauen gegenüber den letzten beiden), Peace eine Methode bietet, um seine Sätze in Wiederholungen und Refrains zu verwandeln, die damals gang und gäbe waren. Wiederholung ist das Markenzeichen von Peace’ Stil; bekanntlich hat Peace gesagt, der Streik sei eminent repetitiv gewesen und dass seine Prosa das wiederspiegle. Sein Krimi macht keine Anstrengungen, den Leser für Intrigen und Geheimnisse zu interessieren; der Plot von GB84 existiert bereits vorher als eine Art Readymade. Und was an Peace ungewöhnlich intimen Stil nicht sofort auffällt – man hat das Gefühl, das man einer Person an ihre geheimen Orte folgt –, ist die eigentümliche Tatsache, dass die Figuren kein sogenanntes »Innenleben« haben. Sie zeichnen sich weniger durch reflexive Vitalität als durch todestrieb-ähnliche Wiederholungen aus, durch Riffe, Echos und Gewohnheiten.
Im Endeffekt ist GB84 poetischer als viele Poesie; es handelt sich aber natürlich um eine von Lyrik befreite Poesie, eine streng dissonante Wortmusik. Peace ist ein Schriftsteller, der eine große Aufmerksamkeit gegenüber Klängen besitzt: Die niemals schlafende Beobachtung durch die Staatsmacht symbolisiert das »Klick, Klick« einer Telefonüberwachung, die Massen an Polizisten das »Krk, Krk« der Stiefel und der Klang der auf Schilder geschlagenen Knüppel, und beide Klänge werden so oft wiederholt, dass sie gleichsam zum Hintergrundrauschen werden, als Teil des paranoiden Ambientes. Die Rezension im Telegraph bemerkte ganz richtig, dass der Roman »manchmal wie ein Summen im Ohr wirkt, wie das literarische Äquivalent zu Bands aus den späten 1970er Jahren wie Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire.« Noch mehr gleicht das Buch zwei Antworten auf den Streik aus dem Post-Punk: Mark Stewarts As the Veneer of Democracy Starts to Fade (Keith Leblanc produzierte auch die Single »The Enemy Within«) und Test Departments The Unacceptable Face of Freedom.
Einer der Gründe, warum 1985 wie das schlechteste Jahr des Pop in seiner Geschichte wirkt, war der Beginn der Restauration. Bis 1984 war die englische Populärkultur und die Politik noch ein umkämpftes Feld. 1985 war das Jahr von Live Aid und der Beginn eines falschen Konsens’, der kultureller Ausdruck des globalen Kapitals. Wenn Live Aid ein Nicht-Ereignis ist, das stattgefunden hat, war der Bergarbeiterstreikt ein Ereignis, das nicht stattgefunden hat.
»Schwerter und Schilde. Stecken und Steine. Pferde und Hunde. Blut und Knochen –
Die Armeen der Toten waren erwacht, bereit zur letzten Schlacht –
Die Windschutzscheibe des Granadas wurde von einem heftigen Blitz erleuchtet –
Straße. Hecke. Bäume –
Feuerschein erhellte die Nacht. Der Nebel wich Qualm. Blaue und rote Lichter –
Terry zerrte an Bills Arm. Zerrte und zerrte. Bill schlug die Augen auf –
›Wo sind wir?‹ rief Terry. ›Wo sind wir hier?‹
›Am Anfang und Ende von allem‹, antwortete Bill. ›Brampton Bierlow. Cortonwood.‹
›Aber was ist denn hier los?‹ schrie Terry. ›Was ist das?‹
›Das ist das Ende der Welt‹, antwortete Bill Reed lachend. ›Das Ende all unserer Welten.‹«44
Ripleys Glam 45
»Er haßte den Gedanken, wieder Thomas Ripley zu sein, haßte es, ein Niemand zu sein, haßte es, seine alten Gewohnheiten wieder anzunehmen, zu spüren, daß man wieder auf ihn herabsah, daß man sich mit ihm langweilte, es sei denn, er gab eine Schau wie ein Clown, haßte es, sich inkompetent zu fühlen und unfähig, etwas mit sich anzufangen, außer daß er andere Leute für wenige Augenblicke zu amüsieren verstand.«46
Patricia Highsmith, Der talentierte Mr. Ripley
Vieles von dem, worum es im Glam geht, können wir aus diesen Zeilen aus Der talentierte Mr. Ripley lernen.
Es ist nicht unbedeutend, dass Highsmith den ersten Ripley-Roman 1955 schrieb und erst 1970 zu der Figur zurückkehrte. Tom Ripley und seine Fokussierung auf Teenager-Begehren, soziale Aufmüpfigkeit und dionysischer Exzess hätte nicht in die Ära des Rock’n’Roll gepasst. Sein »hedonistischer Konservatismus«, sein Snobismus und sein Umgang mit Masken und Verkleidungen jedoch machen ihn zu einem perfekten Bewohner des Marienbad-ähnlichen Glam-Reiches. Wenn der Rock der 1960er sich einerseits dadurch auszeichnete, dass er auf ein großes Anderes anspielte (Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung und/oder mehr Genuss), und andererseits aber die Existenz der symbolischen Ordnung als solcher negierte (Psychedelika), bestand Glam anfänglich in einer hyperbolischen/parodierenden Identifikation mit dem großen Anderen – in der Rückkehr von Zeichen und/des Status.
In den oben zitierten Sätzen gibt es offenkundig zwei Toms: »Thomas Ripley«, die soziale Rolle und Tom, der diese Rolle spielt; Tom, das sprechende Subjekt, und Tom, das Subjekt des Gesprochenen. Am Anfang von Der talentierte Mr. Ripley sind beide Figuren »niemand« – als sprechendes Subjekt, so wie alle sprechenden Subjekte, ist Tom ein ontologisches Nichts; und als Subjekt des Gesprochenen ist er ein gesellschaftliches Nichts. Auf dieser Stufe ist Tom noch weit von der sorglosen, gelassenen Figur entfernt, als die er später auftreten wird; Selbstbewusstsein kann er nur simulieren, wenn er die Rolle anderer Menschen annimmt. Nicht, dass Tom keinen Status besäße; er hat nur keinen Platz in der sozialen Hierarchie. Sein Status ist nicht einmal niedrig. Seine unbestimmbare gesellschaftliche Herkunft und seine Fähigkeit zu imitieren und zu fälschen (die Fähigkeiten, auf denen seine Anti-Karriere als Betrüger aufbaut) bedeuten, dass er nirgendwo hineinpasst. Tom erfährt diese Nichtigkeit auf klassisch existenzialistische Weise, er fühlt sich unvollständig, leer, unentschlossen, unwirklich.
Doch das Buch verwandelt sich in eine Art Schelmenroman, in dem am Ende Tom die (finanziellen) Mittel besitzt, um einen Thomas Ripley zu erschaffen, dessen Verkörperung er nicht mehr hasst. Am Beginn des nächsten Romans, Ripley Under Ground, ist offensichtlich, dass Tom zu einer solchen Figur geworden ist bzw. sie geschaffen hat. Tom ist seine beste Fälschung gelungen – ein Thomas Ripley, der unabhängig und reich ist, ein elegantes Haus in der Pariser Vorstadt besitzt und mit einer schönen, hedonistischen Erbin verheiratet ist. Von nun an geht es Ripley nicht mehr um die Herstellung einer Identität, sondern darum, den erreichten Status zu bewahren und zu verteidigen.






