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Ripleys Entwicklung gleicht auf unheimliche Weise der von Brian Ferry. Roxy Music und For Your Pleasure, diese Übungen im Er- und Verlernen von Akzenten und Umgangsformen, sind die Pop-Äquivalente von Der talentierte Mr. Ripley. Die Kleidung, das Auftreten und die Stimme sind vorgetäuscht, aber noch nicht ganz perfekt. Man erkennt die Herkunft noch und das schmerzhafte Drama, jemand zu werden, der man nicht ist, ist existenziell aufgeladen. Stranded und die darauffolgenden Alben sind hingegen das Pendant zu den späteren Romanen von Patricia Highsmith; hier ist der Erfolg bereits vorausgesetzt und das zwar banale aber geschmackvolle Idyll wird einzig durch Ennui infrage gestellt, einem bestimmten Unwohlsein in der Zufriedenheit und – am bedrohlichsten – durch die Gefahr der Rückkehr der Vergangenheit. Die fade Ländlichkeit von Roxys Avalon – aufgenommen zu einer Zeit, da Ferry selbst mit einer Erbin verheiratet war und auf einem Landgut lebte – ist der perfekte Soundtrack zu Thomas Ripley in seinem Harpers & Queens entsprungenen Anwesen Belle Ombre, wie er sich gemeinsam mit seiner Frau, Heloise, die Zeit vertreibt.
Als erster Schritt zur Verwandlung Tom Ripleys in einen Jemand stellt sich die vampirische Aneignung der Identität von Dickie Greenleaf heraus. Ich sage »stellt sich heraus«, weil – anders als der Film von Anthony Minghella es nahelegt – Tom nicht schon mit dem Gedanken nach Europa geht, Dickie zu zerstören. Ripley ist ein brillanter Improvisator, kein Planer; die Pläne, die er macht, sind kurzfristig und führen oft zu mehr Problemen als sie lösen, und er schöpft Freude daraus, die Sachen wieder in Ordnung zu bringen, anstatt sie von vornherein zu vermeiden.
Am Anfang ist Toms Haltung gegenüber Dickie ambivalent und nicht einfach räuberisch – er ist aggressiv und neiderfüllt, aber auch herzlich. Wenn Tom ein Nichts ist, ein Chaos von nicht erreichten Zielen, ein Tumult aus Scham und Unzulänglichkeit, dann ist Dickie hingegen wirklich ein Jemand, ein Objekt, entschlossen und wirklich, mit der »Festigkeit eines Steins«. Indem Tom seinen Platz einnimmt, kann er dem Schmerz, der Angst und dem Unbehagen, dass es bedeutet, er selbst oder ein Selbst zu sein, entfliehen. Ein Objekt zu werden – vom Druck der Subjektivität befreit zu werden, ungestört zu sein von jeder Innerlichkeit – ist das nicht eine der zentralen Phantasien des Glam? Žižek hat sicherlich recht, wenn er konstatiert, dass die Sexualisierung der Beziehung zwischen Tom und Dickie in Anthony Minghellas Film ein Fehler ist. Und dennoch ist Žižeks Argumentation nicht vollkommend zutreffend. Er schreibt:
»Für Tom ist Dickie nicht das Objekt seines Begehrens, sondern das ideale begehrende Subjekt, das übertragene Subjekt, das ›angeblich weiß, wie man begehrt.‹ Kurz gesagt, Dickie wird für Tom sein Ideal-Ich, die Figur seiner imaginären Identifikation: Wenn er immer wieder begehrende Seitenblicke auf Dickie wirft, dann ist das kein Beweis für sein erotisches Begehren, mit Dickie in sexuellen Kontakt zu kommen, also Dickie zu HABEN, sondern seines Begehrens, Dickie zu SEIN.«47
Žižeks Analyse erkennt aber nicht, dass Dickies Erhebung zum Ideal-Ich nicht gelingt. Der entscheidende Moment des Romans ist, als Ripley die Phantasie einer Identifikation mit Dickie nicht länger aufrechterhalten kann. Wenn Tom in Dickies Augen schaut und dort nicht die Fenster zur Seele erblickt, mit der er sich identifizieren kann, sondern die tote, glasige Oberfläche einer trägen und idiotischen Puppe, fällt er (zurück) in ein tiefe existenzielle Krise und erlebt einen Moment tiefer kosmischer Abscheu und miserabler Orientierungslosigkeit.
»Er starrte in Dickies blaue Augen, die immer noch finster blickten, auf die sonnengebleichten, weißen Augenbrauen und auf die Augen selbst, glänzend und leer, nichts als kleine Kugeln aus hellblauem Gelee mit einem schwarzen Punkt darin, ausdruckslos, ohne jede Beziehung zu ihm. Man soll ja durch die Augen in die Seele schauen können, durch die Augen Liebe erblicken können, die Augen sollen das einzige Fleckchen am Körper des Mitmenschen sein, in das man hineinschauen, in denen man sehen kann, was innen wirklich vor sich geht, aber in Dickies Augen sah Tom jetzt nicht mehr als in der harten, blutlosen Oberfläche eines Spiegels. Tom fühlte einen schmerzhaften Riß in der Brust, und er verbarg sein Gesicht in den Händen. Es war, als wäre Dickie ihm plötzlich entrissen worden. Sie waren keine Freunde. Sie kannten sich nicht. Darin sah Tom die entsetzliche Wahrheit, sie galt für alle Zeiten, für alle Menschen, die er früher gekannt hatte, für alle Menschen, die er künftig noch träfe: jeder hat vor ihm gestanden, wird vor ihm stehen, und er wird immer und immer wieder wissen, daß er sie niemals kennt, und das schlimmste ist, daß er immer eine Zeitlang die Illusion haben wird, er kennte sie, er und sie seien völlig im Einklang miteinander und eins. Einen Augenblick lang schien der wortlose Schock seiner Erkenntnis mehr, als er ertragen konnte. Es war, als schnürte ihm ein würgender Griff die Luft ab, als müsse er gleich zu Boden sinken.«48
Einerseits registriert Tom hier zweifelsohne Dickies Zurückweisung. Andererseits kommt aber auch Toms Abscheu gegenüber Dickie zum Ausdruck. Was Tom »entrissen« wurde, ist nicht länger Dickie »selbst«, sondern die Phantasievorstellung von Dickie. Es scheint, als könne Tom (sich selbst gegenüber) nicht länger so tun, als sei Dickie irgendetwas anderes als eine einigermaßen mittelmäßige Person; so als ob er, zum ersten Mal, mit der brutalen, dummen Körperlichkeit von Dickie in Kontakt kommt – ihn wirklich gesehen hat, ohne den Schein/ Glanz der Phantasie, der ihn seligspricht.
Toms Bruch mit Dickie ist schon etwas früher unvermeidlich geworden, in einer unglaublich schmerzhaften Szene, als Dickie bemerkt, wie Tom seine Kleidung trägt und ihn im Spiegel imitiert. Dickie ist angewidert und verärgert von Toms Imitation (was ist angsteinflößender als jemandes Ideal-Ich zu sein?), während Tom tief beschämt ist, dass Dickie ihn erwischt hat (was ist beschämender als von seinem Ideal-Ich beim Phantasieren über dasselbe erwischt zu werden?). Interessanterweise macht Dickie genau denselben Fehler wie Minghella: Er (fehl-) interpretiert Toms Verhalten als sexuelle Obsession und nutzt den Moment, um Tom nachdrücklich zu erklären, dass er nicht »schwul« sei. Doch Toms Wunsch, Dickie zu sein, ist viel obszöner, viel tödlicher, viel burroughesquer, als wenn er ihn nur hätte haben wollen.
Sobald Tom seine phantasmatische Identifikation mit Dickie nicht länger aufrechterhalten kann, erzwingt die Logik seiner Psychose, dass die einzige Möglichkeit, die existenzielle Krise – sein Mangel an Sein – zu lösen, darin besteht, Dickie zu töten. Das hat zum Teil damit zu tun, dass Dickie in Ripleys Vorstellung bereits tot ist: eine seelenlose Hülle, die unberechtigt zu Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen gekommen ist, die der stilvolle und gebildete Tom für sich beansprucht. Tom ist sich sicher, dass er besser Dickie sein kann als Dickie selbst und so wird Dickie das Material, aus dem Tom sein Meisterwerk schafft, den neuen Thomas Ripley. Indem Tom Dickie tötet, »verdient« er sich in gewisser Weise dessen Status unter den unproduktiven, feinen Leuten. Schon vor diesem Aufstieg hegt Tom eine Abneigung gegen »Schufterei«. Der Unterschied zwischen Tom, dem gewöhnlichen Dieb und Betrüger, und Tom, dem Mitglied der Elite des Müßiggangs, ist ein erfolgreicher Akt der Gewalt. Laut Thorstein Veblen gründet die »müßige Klasse« auf der »barbarischen« Unterscheidung zwischen Ausbeutung – »der Verwandlung von Kräften – die ursprünglich von einem anderen Agens für andere Zwecke bestimmt waren – und in deren Lenkung für die eigenen Zwecke« – und Industrie (oder Schufterei) – »das Bemühen, aus dem passiven ›rohen‹ Stoff etwas Neues mit einem neuen Zweck zu schaffen«.49 Wie ein Vampir muss sich der Herr immerzu die Arbeit anderer aneignen, niemals produziert er selbst.
»Aus demselben Grunde bringt man der produktiven Arbeit oder der Beschäftigung im Dienst einer andern Person nichts als Verachtung entgegen. Auf diese Wiese entsteht die diskriminierende Unterscheidung zwischen Heldentat und gewaltsamem Erwerb auf der einen und produktiver Arbeit auf der anderen Seite. Die Arbeit wird als Bürde empfunden, weil ihr das Odium des Verächtlichen anhaftet.«50
Die Jagd war immer schon eine Tätigkeit, auf die die feinen Leute stolz waren und Ripley ist ein perfekter Jäger (Beute ist eine der Bedeutungen von Ripleys Game).
Die Anwendung mörderischer Gewalt, um eine privilegierte Position zu erreichen und zu erhalten, ist alles andere als eine Abweichung, und Tom hat genauso wenig mit Konsequenzen zu rechnen wie die Räuber der herrschenden Klasse der Wirklichkeit. (Highsmiths Weigerung, den Opfern in ihren Romanen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ganz so wie es in der unserer Welt geschieht, ist einer der subversivsten Aspekte ihrer Figurendarstellung.) Wenn Toms Handeln pathologisch ist, dann sind seine Pathologien die Pathologien einer bestimmten Klasse; von seinen neuen Freunden trennt ihn einzig, dass das Blut, das er vergießt, frisch ist (und seine Bereitschaft, selbst zur Tat zu schreiten). Im Gegenteil, die Figur des Thomas Ripley ist deswegen so furchterregend, weil er Mord als eine praktische Aufgabe, ohne jede existenzielle oder affektive Dimension betrachtet. Ripleys Morde zeichnen sich durch ihre Kälte und den Mangel an Grausamkeit aus; bekanntermaßen tötet Ripley nur, weil er muss, nicht weil es ihm gefällt. Ripley tötet aus einer kalten, utilitaristischen Logik heraus, er eliminiert die, die ihm im Weg stehen oder ihn entlarven könnten. Nochmals, die sorgsam aufrecht erhaltene Unterscheidung zwischen der gewalttätigen, obszönen Unterseite und einer blassen, offiziösen Oberfläche gehört zur normalen Praxis von Macht und Privileg und ist alles andere als abweichend. Es sind keine moralischen Skrupel, die Ripley antreiben (die kennt er überhaupt nicht), sondern die Angst vor Demütigung. Julie Walker formuliert es so:
»Tom fürchtet die Demaskierung; nicht nur die Demaskierung seiner selbst als Dickie oder seine Enttarnung als Mörder, sondern die Demaskierung seines Mangels an Selbst und damit seiner eigenen Unzulänglichkeit in den Augen anderer – es gibt keinen nennenswerten Unterschied zwischen der Angst, dass sein Steuerbetrug oder dass seine Morde auffliegen. Seine wichtigste Angst ist die, gesellschaftlich nicht mithalten zu können.«
Diese Form der Amoralität ist das (Post)moderne an Ripley. Die klassische Psychose bestand darin, das Reale und das Symbolische zu verwechseln (das offensichtlichste Beispiel ist, die Stimme Gottes zu hören). Doch Ripleys Psychose beruht auf der Überzeugung, dass nur das große Andere existiert. Von spezifischen, namhaften Anderen, die seine Kriminalität vermuten oder von ihr wissen, ist Tom nicht beunruhigt, solange seine kriminellen Taten nicht in das Symbolische eingeschrieben sind. Das Besondere an Ripleys postmoderner Herangehensweise an das Andere ist, dass sie radikal atheistisch ist – weder glaubt er an Gott noch an irgendeine moralische Ordnung, die in das Gewebe des Universums eingeschrieben ist. Das postmoderne große Andere ist eine Symbolische Ordnung ohne Symbolisierung; sie postuliert keinen Gott und keine Geschichte mehr, sondern bekennt sich freimütig als gesellschaftliches Konstrukt – doch diese vorgebliche Entmystifizierung hindert sie nicht am Funktionieren. Im Gegenteil, das große Andere funktionierte nie besser.
Atwoods Antikapitalismus 51
»Regressiv ist es alles«, schreibt Jameson über den Kult der Gottes-Gärtner in Margaret Atwoods Das Jahr der Flut und fügt in einer provokativen Parenthese hinzu: »Es ist immer hilfreich, sich zu überlegen, für welche Politik das heute eigentlich nicht gilt.«52 Das Jahr der Flut ist unter anderem deswegen enttäuschend, weil es keine Alternative zur Regression anbietet – der einzige Weg nach vorn, so scheint es, führt zurück in die Natur.
Dabei ist es nicht der Fokus auf Religion an sich, der regressiv ist; vielmehr ist es die Weigerung Atwoods, jene Fragen über Religion zu stellen, die Oryx und Crake so beeindruckend aufgeworfen hat. Einer der wichtigsten Momente in dem Roman war die Inthronisierung eines religiösen Gefühls unter den Crakern, jenen im Labor geschaffenen, neuen edlen Wilden. Ganz wie in Totem und Tabu und Der Mann Moses und die monotheistische Religion entsteht die Religion als Folge des Mordes der Vaterfigur. Ironien überall: Da die »Craker« gemacht, nicht gezeugt wurden, handelt es sich bei ihrem »Vater« eigentlich um ihren Schöpfer-Designer, das misanthropische Wunderkind Crake – der sie wiederum ganz bewusst ohne die neurologische Verbindung geschaffen hat, von der er glaubte, dass sie für die Religion verantwortlich ist. Crake ist weniger ein eliminativer Materialist als ein materialistischer Eliminativer: »Crake dachte, er hätte das alles abgeschafft, hätte den, wie er sagte, G-Punkt des Hirns beseitigt. Gott ist ein Neuronen-Cluster, hatte er behauptet. Es war allerdings ein heikles Problem: Wird in dieser Gehirnregion zu viel entfernt, kommt ein Zombie oder ein Psychopath heraus.«53 Wenn die Entstehung der Religion unter den Crakern auf den ersten Blick wie ein Wunder wirkt, stellt sie sich am Ende lediglich als Beweis der Macht anderer (psychoanalytischer und kultureller) Faktoren, zusätzlich zur Neurologie, dar.
Crakes Experimente sind eine Antwort auf die alte, reaktionäre Leier, dass die Utopie nicht der menschlichen Natur entspreche. (Eine neuere Version dieses Denkens findet sich bei einem der Antagonisten Žižeks in seinem jüngsten Buch, der Über-Kapitalist Guy Sorman54, der behauptet, »[w]elche Wahrheiten die Wirtschaftswissenschaft auch immer ans Licht bringt, der Markt ist die einzige Wiederspiegelung der menschlichen Natur, die selbst kaum perfektionierbar ist.«) Wenn das der Fall ist, schlussfolgert Crake mit dem Pragmatismus eines Autisten, sollte die menschliche Natur geändert werden: Die Mittel stehen zur Verfügung. Im Grunde reagiert Crake auf Freuds Argument in Das Unbehagen in der Kultur, wo es heißt, dass selbst wenn die Eigentumsverhältnisse egalisiert wären, Antagonismen aufgrund von sexueller Konkurrenz immer noch entstehen würden. »Vielleicht hatte Crake Rechte«, denkt sich Schneemensch:
»Nach dem alten System war der sexuelle Wettbewerb gnadenlos und permanent: Auf jedes glückliche Liebespaar kam ein deprimierter Zuschauer, der Ausgeschlossene. Liebe bildete ihre eigene durchsichtige Blasenkuppel: Man konnte die beiden drinnen sehen und kam selbst nicht hinein. Und das war noch die harmlosere Form gewesen: der einzelne Mann am Fenster, der zu traurigen Tangoklängen im Suff Vergessen sucht. Aber es konnte ebenso gut in Gewalt ausarten. Extreme Gefühle waren manchmal tödlich. Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch sonst keiner haben, und so weiter. Mord und Todschlag.«55
Deswegen ersetzt Crake das, was Toby in Das Jahr der Flut »romantischen Schmerz« nennt, mit gedämpften, tierischen Balzritualen: »Ihre Sexualität war keine ständige Plage für sie, keine Wolke turbulenter Hormone: Sie wurden in regelmäßigen Abständen brünstig, so wie die meisten Säugetiere abgesehen vom Menschen.«56 Es wäre faszinierend gewesen, wenn Atwood Crakes Behauptung, Hierarchie, Hunger und Rassismus unter seinen genetischen Schöpfungen abgeschafft zu haben, einer literarischen Probe unterzogen hätte. Außerdem gibt es das Problem der Sprache. Atwood legt nahe, dass die Craker ihre genetisch geschaffene Unschuld behalten können, weil ihnen der Konjunktiv II fehlt. (»Und so waren die Leute wohl auf die unsterbliche Seele gekommen – über die Grammatik. Und auch auf Gott, denn wenn es eine Vergangenheitsform gibt, muss es auch eine Vergangenheit vor der Vergangenheit geben, und man geht immer weiter zurück in der Zeit, bis man an ein Ich weiß nicht kommt, und das ist dann Gott. Es ist das, was man nicht weiß – das Dunkle, Versteckte, die Rückseite des Sichtbaren –, und das alles nur, weil wir Grammatik haben«. Doch auch das lässt sich mit ein bisschen Gentechnik beheben: »Grammatik wäre unmöglich ohne das FOXP2-Gen.«57)
Und dennoch droht die Niederlage Crakes – was nichts anderes ist, als eine Konfrontation mit Niederlage und Negation an sich –, die Craker aus ihrer Tier-Zeit hinaus in die verwundete Zeit der menschlichen Erniedrigung zu katapultieren. In Das Jahr der Flut treten die Craker jedoch in den Hintergrund: Vielleicht ist das ein Zeichen, dass Atwood das Interesse an ihnen verloren hat, oder – vielleicht – dass solche Kreaturen gar kein großes Interesse in Wesen wie uns erregen können. Was stattdessen im Zentrum des Romans steht, ist die progressiv-regressive religiöse Form, an der eine weniger friedliche Gruppe Menschen in den letzten Tagen der Welt festhält.
Atwood hat gesagt, dass eine Inspiration für die Ökoreligion der »Tod ihres Vaters und ihrer Mutter« gewesen sei, »und die Notwendigkeit, sich Reden für ihre Beerdigung auszudenken, die für sie akzeptabel gewesen wären: Beide waren Wissenschaftler.« Es ist leicht, über das Problem zu spotten, auf das Atwood hier stößt und vielleicht ist die bekannte Schwierigkeit, Religion und Wissenschaft zu versöhnen, letztlich komplizierter als das Problem des symbolischen Defizits im zeitgenössischen Säkularismus zu lösen, auf das sie hinweist. Dem Atheismus fehlen noch die Rituale, die es mit der symbolischen Kraft der Religion aufnehmen können und es gibt mehr als einen Hinweis darauf, dass dieser Mangel nicht zufällig ist. Deswegen deutet der Atheismus den Tod Gottes normalerweise als eine Verleugnung des Symbolischen (= dem großen Anderen) an sich. Diese im Grunde postmoderne Verleugnung Gottes – in der die offizielle Verneinung eines großen Anderen kombiniert wird mit der de facto Observanz des Symbolischen auf einer anderen Ebene – und der kapitalistische Realismus liegen sehr eng beieinander. Wie Althusser begriff, funktionieren die Rituale der kapitalistischen Ideologie umso besser, wenn sie nicht als Rituale erkannt werden. Anstelle der unnachgiebigen Feierlichkeit des religiösen Rituals bietet uns der postmoderne Säkularismus entweder eine Vermeidung des Rituals überhaupt (es braucht überhaupt keine Zeremonie) oder Personalisierungen á la »Schreibt eure Eheversprechen selbst«, eine Art humanistischen Ersatz-Kitsch, in der die religiöse Form erhalten wird, selbst wenn der Glaube an einen übernatürlichen Gott verleugnet wird. Das Problem ist nicht ein säkularer »Mangel an Sinn«, sondern das Gegenteil: Es ist die Sinnlosigkeit religiöser Rituale an sich, ihr Mangel an persönlicher Bedeutung, die ihnen ihre Kraft verleiht. Zum Teil, wie Jameson in seiner Rezension von Das Jahr der Flut vorschlägt, hat das Problem mit Zeit zu tun: Jedes neue »Glaubenssystem« braucht »ein Supplement in Gestalt tiefer Zeit, alter kultureller Bräuche oder der Offenbarung selbst«. Die Zeit erlaubt dem Ritual, zu einem Brauch zu werden, einer leeren Form, der das Individuum unterworfen wird – und das ist alles andere als ein Nachteil, es ist der Grund, warum Beerdigungsriten eine solche Kraft, zu trösten haben.
Trauer und Verlust liegen nicht nur in den Ursprüngen der Religion, sondern sorgen natürlich auch für ihre anhaltende Anziehungskraft. Eine der heftigsten – und fast schon verbitterten – Diskussionen unter Studenten, die ich seit langer Zeit erlebt habe, kam während eines Seminars über Religionsphilosophie auf, das ich gegeben habe. Ausgangspunkt war meine These, dass der Atheismus ein weit größeres Problem mit dem Bösen und dem Leid hat, als die Religion – nicht zuletzt aufgrund des Leides derer, die nun tot sind. Iwan Karamasows Klage kann sich genauso gut gegen die atheistischen Architekten der strahlenden Stadt wie gegen Gott richten, denn was soll die revolutionäre Eschatologie, egal wie glorreich sie ist, gegen das Leiden jener tun, die längst tot sind? Kein säkularer guter Wille kann eine Korrelation zwischen Tugend und Glück garantieren, wie Kant in einer skandalösen Passage der Kritik der Urteilskraft ausführt:
»Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus dem sie gezogen waren.«58
Bemerkenswert ist, dass Kants Argument sowohl auf die neoheidnischen Gottes-Gärtner als auch auf die »ungläubigen Gerechten« anwendbar ist, weil Kant sich strikt weigert, Natur mit Güte gleichzusetzen, wie es die Gottes-Gärtner predigen. Im Gegenteil, laut Kant ist Gott notwendig, um eine Welt wieder gut zu machen, die durch amoralische Zwecklosigkeit gekennzeichnet ist. Der wahre Atheist muss fähig sein, dem »weite[n] Grab«, dem »Schlund des zwecklosen Chaos« ins Gesicht zu schauen – während ich annehme, dass die meisten (von uns) Ungläubigen es lediglich schaffen, wegzusehen. Doch Kants moralisches Argument ist weniger leicht beiseite zu wischen, als es scheinen mag, denn es ist weit schwieriger, den Glauben an eine göttliche Struktur des Universums zu widerlegen als wir uns vorstellen können – gerade weil dieser Glaube weit unter allem liegt, was wir uns trauen würden zuzugeben. (Schau allerdings eine Folge Deal or No Deal und es wird klar, dass viele genau einen solchen Glauben hegen.) Vielleicht braucht es wirklich Crakes gentechnologische Spielereien, um diesen Glauben abzuschaffen.
Das Problem an Das Jahr der Flut ist, dass Politik und Religion synonym werden – und weil es allen Grund gibt, positiv gegenüber einer politisierten Religion eingestellt zu sein, gibt es tiefgreifende Probleme mit einer Politik, die es nicht schafft, den eschatologischen Mantel der Erlösung und des Messianismus abzulegen. Es ist bezeichnend, wie sehr die Gottes-Gärtner den Grünen ähneln, die Sorman so verabscheut, wie hier in einer Passage aus Žižeks First as Tragedy, Then as Farce:
»Alles andere als normale Krawallmacher, sind die Grünen die Priester einer neuen Religion, die die Natur über die Menschheit stellen. Die Ökobewegung ist keine schöne Frieden-und-Liebe-Lobby, sondern eine revolutionäre Kraft. Wie viele andere moderne Religionen, klagen sie das Böse angeblich auf der Basis von wissenschaftlichem Wissen an: globale Erwärmung, das Aussterben der Arten, Verlust der Biodiversität, Supergetreide. Tatsächlich sind all diese Bedrohungen Produkte der grünen Phantasie. Die Grünen borgen sich ihr wissenschaftliches Vokabular, ohne von dessen Rationalität Gebrauch zu machen. Ihre Methode ist nicht neu; Marx und Engels haben auch so getan, als wäre ihre Weltsicht in der Wissenschaft ihrer Zeit verankert, dem Darwinismus.«59
Atwood wirbt für eine solche Religion. (Zur Klärung: Nur um 100 Prozent richtig verstanden zu werden – Ich unterstütze Sormans Sicht auf die Grünen in keiner Wiese. Ich war nur der Meinung, dass es amüsant ist, dass Atwood einen Ökokult erfunden hat, der so gut auf Sormans Stereotyp passt.) In einer Unterhaltung mit Richard Dawkins bei Newsnight vor ein paar Wochen beharrte Atwood darauf, dass es wenig Sinn mache, gegen Religion vom Standpunkt der Evolution aus zu argumentieren, weil die Beharrlichkeit der Religion selbst darauf hinweise, dass sie für die Menschen einen evolutionären Vorteil bringe. In Anbetracht dieser Tatsache, so Atwood, solle Religion als Werkzeug für »progressive« Kämpfe genutzt werden; und Adam Eins, der Anführer der Gottes-Gärtner, ist nur dann interessant, wenn er wie Machiavelli oder Strauss klingt, die die Religion nutzen, um das Volk zu manipulieren – die restliche Zeit ist seine Ökofrömmigkeit nur aufgrund Atwoods zarter, satirischer Spitzen erträglich (man denke zum Beispiel an die Verrenkungen, die die Gärtner-Doktrin durchmachen muss, bei dem Versuch, den Vegetarismus sowohl mit der karnivoren Tendenz der Bibel und dem »amoralischen Chaos« einer blutrünstigen Natur zu versöhnen). Was zu Beginn an der Idee der Gottes-Gärtner interessiert, ist die Aussicht, dass Atwood eine neue Art politischer Organisation beschreibt. Doch die Doktrin und die Struktur der Gärtner stellt sich als enttäuschendes Sammelsurium alter, langweiliger No Logo-ähnlicher, antikonsumistischer Askese, primitivistischer Märchen, Naturheilmittel und Selbstverteidigung heraus, die so verlockend wie das Patschuli-Öl von letzter Woche ist. In letzter Instanz wirkt Das Jahr der Flut wie ein Symptom der libidinösen und symbolischen Sackgassen, die den Großteil des sogenannten Antikapitalismus auszeichnen. Atwood imaginiert das Ende des Kapitalismus, aber nur nach dem Ende der Welt. Oryx war wie der erste Teil von Wall-E; Das Jahr der Flut ist der zweite Teil, in dem wir sehen, dass der letzte Überlebende überhaupt nicht der letzter Überlebende war, sondern dass es herumziehende Gruppen von Menschen gab, die rätselhafterweise außer Sichtweite waren. (Bei Wall-E waren die Menschen wenigstens auf einer anderen Welt, während uns bei Oryx Glauben gemacht werden soll, dass sie irgendwie außerhalb Schneemanns Sichtfeld waren.) In der Rückschau hat dies einen deflationären Effekt, der meiste Pathos und die Nobilität von Schneemanns Leid wird abgezogen, und was wie eine Cyberpunk-Beckett-Tragik-Komödie wirkte, verwandelt sich in eine schlichte Komödie. (Interessanterweise ist vielleicht die größte »Leistung« von Das Jahr der Flut, dass es sich am Ende gar nicht mehr wie ein Roman von Atwood liest. Stattdessen ist es in der funktionalen Prosa eines mittelmäßigen Buches von Stephen King geschrieben, voll von standardmäßig zum Cyberpunk-Genre gehörenden harten Frauen, in einem postapokalyptischen Setting, dem überraschenderweise jede Lebendigkeit fehlt. Das Ergebnis hat Robert Macfarlane unvergesslich als »Dystoap-Opera« bezeichnet.)






