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Der Kampf zwischen den Vätern wird verdoppelt durch den Konflikt zwischen Angst und Gerechtigkeit, der im Zentrum des Batman-Mythos steht, seit er 1939 das erste Mal erschien. Die Herausforderung für Bruce Wayne besteht in Batman Begins nicht nur darin, die Angst zu besiegen, die von Millers Erfindungen, dem Unterweltboss Falcone und Scarecrow in Form eines »Waffenhalluzinogens« eingesetzt wird, sondern auch Gerechtigkeit zu finden, was, wie der junge Bruce Wayne herausfinden muss, nicht dasselbe ist, wie Rache zu üben.
Von Anfang an bestand der Batman-Mythos darin, die Angst in den Dienst der heroischen Gerechtigkeit zu stellen. Und so widmet sich Christopher Nolans Bruce Wayne der Aufgabe, die Angst gegen die zu richten, die sie verbreiten, ganz wie die Ursprungsgeschichte in den Detective Comics von 1939 Bruce bekanntermaßen sagen lässt: »Kriminelle sind ein abergläubisches, feiges Pack, also muss meine Verkleidung ihre Herzen mit Angst erfüllen.« Und trotzdem wird diese Ursprungsgeschichte bei Nolan sowohl ödipaler als auch anti-ödipaler als in den ersten Comics. Dort entscheidet sich Bruce für den Namen »Batman«, als eine Fledermaus in sein Zimmer fliegt. Nolans Version dieser Urszene ist deutlich anders; sie findet außerhalb seines Zuhauses statt, jenseits des Reichs des Ödipalen, in einer Höhle auf dem weitläufigen Anwesen Wayne Manor und es taucht nicht eine Fledermaus auf, sondern eine ganze (deleuzianische) Horde.80 Doch die Nähe des Namens Batman zu einigen Fällen von Freud – vor allem der »Rattenmann«, aber auch der »Wolfsmann« – ist kein Zufall. Batman bleibt eine vollständig ödipale Figur (woran Batman Begins keinen Zweifel lässt).81 Batman Begins verknüpft das Tier-werden mit dem Ödipalen, indem er Bruce’ Angst vor Fledermäusen als eine der Ursachen für den Tod seiner Eltern darstellt. Bruce ist in der Oper, als eine Fledermaus auf der Bühne ihn dazu treibt, seine Eltern so lange zum Verlassen der Oper zu drängen, bis sie nachgeben und draußen getötet werden.
Das Moment des Schauers und das Moment des Ödipalen waren im Batman-Mythos von Beginn an verbunden, schon auf den zwei Seiten der Detective Comics, in denen Batmans Geschichte erzählt wird. Kim Newman schreibt, dass Waynes Epiphanie – »Ich muss eine schreckliche Kreatur der Nacht werden … Ich muss eine Fledermaus werden … ein seltsames Geschöpf der Nacht« – »unterschwellige« Zitate von Dracula (»Geschöpfe der Nacht, welch süße Musik sie machen«) und Das Cabinet des Dr. Caligari (»Du sollst Caligari werden«) enthält.82 Diesen drei Bildern folgen drei im oberen Teil der Seite, in denen der geschockte Bruce seine toten Eltern betrachtet (»Vater, Mutter (…) Tot, sie sind tot.«) und auf ihren Tod »schwört«, sie zu »rächen, indem ich für den Rest meines Lebens Verbrecher bekämpfe«. Batman ist ganz bewusst als eine Figur im Stile des Schauerromans entworfen, als ein »merkwürdiges Geschöpf der Nacht«, aber eines, das »die Nacht« gegen die Verbrecher wendet, die sich in ihr verbergen.
Nicht nur war Batman – vermittelt über die Horrorfilme von Universal – tief vom deutschen Expressionismus beeinflusst, sondern auch vom Film Noir, der, wie die Batman-Comics, in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren entstand. (Wie wir bereits gesehen haben, kann Millers Batman als eine in vieler Hinsicht postmoderne Variante dieser Linie gelten.) Eine Bemerkung von Alenka Zupančič weist uns auf eine mögliche, verborgene Quelle für die Verbindung zwischen Batman und dem Film Noir hin: Wieder ist es Ödipus. »[I]m Gegensatz zu Hamlet«, schreibt Zupančič,
»wurde über die Ödipusgeschichte oft gesagt, dass sie zum Genre des Whodunnits gehört. Manche gingen sogar noch weiter und sahen in König Ödipus den Prototypen des Noir-Genres. So erschien König Ödipus in der ›Noir-Reihe‹ des französischen Verlags Gallimard (›aus dem Mythos übersetzt‹ von Didier Lamaison).«83
Batman, der Superheld-Detektiv, tritt in die Fußstapfen des ersten Detektivs, Ödipus.
Letztlich besteht das Problem für Batman allerdings darin, dass er Ödipus bleibt, ohne den Ödipuskomplex bewältigt zu haben. Wie Zupančič herausstellt, geht es im Ödipuskomplex um die Diskrepanz zwischen dem Symbolischen und dem empirischen Vater: Der symbolische Vater ist die Verkörperung der symbolischen Ordnung selbst, der ehrwürdige Träger von Bedeutung und Vertreter des Gesetzes; der empirische Vater ist der »einfache, mehr oder weniger brave Mann«. Für Zupančič besteht der gewöhnliche Verlauf der »typischen Genese von Subjektivität« darin, dass das Kind zuerst auf den symbolischen Vater trifft und erst dann lernt, dass diese mächtige Figur ein »einfacher, mehr oder weniger braver Mann« ist. Bei Ödipus, so Zupančič, verläuft dieser Prozess aber genau umgekehrt. Ödipus trifft zunächst auf einen »unhöflichen, alten Mann auf der Straße« und erfährt erst später, dass dieser »einfache Mensch«, dieses »vulgäre Wesen« sein Vater war. Deswegen geht »Ödipus den Weg der Initiation (der ›Symbolisierung‹) rückwärts und bemerkt so die radikale Kontingenz des Symbolischen.«84
Für Bruce Wayne gibt es aber keine Diskrepanz zwischen dem Symbolischen und dem Empirischen. Thomas Waynes früher Tod bedeutet, dass er in der Psyche seines jungen Sohnes als der mächtige Vertreter des Symbolischen eingefroren ist; er wurde niemals auf den Status eines einfachen Mannes »entsublimiert«, sondern er bleibt ein moralisches Vorbild – tatsächlich ist er der Vertreter des Gesetzes als solchem, er musst gerächt werden, aber er kann ihm niemals gleichkommen. In Batman Begins ist es der Auftritt von R’as Al Ghul, der die ödipale Krise auslöst. Der junge Bruce Wayne ist davon überzeugt, dass der Tod seines Vaters seine Schuld ist, doch Al Ghul versucht ihn davon zu überzeugen, dass die Schuld am Tod der Eltern bei Bruce’ Vater liegt, weil der gutmütige und liberale Thomas Wayne nicht gehandelt hat; er war ein willensschwacher Versager. Bruce weigert sich jedoch, diese Initiation mitzumachen und hält dem »Namen des Vaters« die Treue, während Al Ghul eine Figur des Exzesses und des Bösen bleibt.
Die Frage, die Al Ghul für Bruce Wayne darstellt ist: Du, mit deinem Gewissen, deinem Respekt für das Leben, ist dein Wille zu schwach, hast du zu viel Angst, um zu tun, was nötig ist? Kannst du handeln? Wayne muss sich entscheiden: Ist Al Ghul, was er zu sein vorgibt, ein eiskaltes Instrument der unpersönlichen Gerechtigkeit, oder ist er eine groteske Parodie? Das ultimative Böse wurzelt im Film schließlich in Ghuls übermäßigen Eifer, nicht in irgendeinem merkwürdigen Diabolismus oder einem psycho-biographischen Zufall.85
In dieser Hinsicht ist Batman Begins der Film, von dem Žižek dachte, dass es Star Wars: Episode III – Die Rache der Sith hätte sein können: ein Film, mit anderen Worten, der sich traut, die These aufzustellen, dass das Böse aus einem Exzess des Guten entsteht. Für Žižek hätte »Anakin [Skywalker] aufgrund seiner exzessiven Berührung mit dem Bösen überall ein Monster werden und das Böse bekämpfen sollen«, aber
»[a]nstatt sich auf Anakins Hybris zu konzentrieren, als das überwältigende Verlangen, einzugreifen und Gutes zu tun, für diejenigen, die er liebt bis ans Ende zu gehen und zur dunklen Seite überzutreten, wird Anakin einfach als ein unentschiedener Kämpfer gezeigt, der langsam in das Böse abgleitet, indem er der Versuchung der Macht nachgibt und unter den Bann des bösen Herrschers gerät.«86
Parallel zu Žižeks Lesart von Revenge of the Sith, verdoppelt sich die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Vater – wer ist eigentlich der Vater? – in Batman Begins durch die bedrohliche (Omni)Präsenz des Finanzkapitals und das Problem, was dagegen getan werden könnte. In Batmans Universum ist »der Name des Vaters« – Wayne – natürlich auch der Name eines kapitalistischen Unternehmens. Die Übernahme von Wayne Industries durch die Aktionäre bedeutet, dass Thomas’ Name gestohlen wurde. Folglich ist Bruce Waynes Kampf gegen das Finanzkapital zugleich zwangsläufig ein Versuch, den in den Schmutz gezogenen Namen seines Vaters wieder reinzuwaschen. Da Wayne Industries das Herz der Stadt ist – wörtlich und im übertragenen Sinne – ist auch Gotham verflucht wie Theben durch die Sphinx. Die Infrastruktur liegt in Trümmern, die Zivilgesellschaft zerfällt, Gotham ist fest im Griff der Krise und einer Welle von Verbrechen, wobei beide dem neuen, räuberischen, entterritorialisierten Kapital zugeschrieben werden, das nun die Kontrolle über Wayne Industries hat. Die Auswirkungen des Finanzkapitals bekommen im Narrativ des Films durch den wohlmeinenden und von dem neuen Regime degradierten Lucius Fox (einem weiteren Kandidaten für die Figur des Vaters)87 eine persönliche Note. Die Implikation ist, dass die elenden Zustände nur verbessert werden könne, wenn der Name des Vaters wieder ins Recht gesetzt wird.
In der Rolle, die der Kapitalismus in Batman Begins spielt, ist der Film bemerkenswert widersprüchlich. Teilweise hat dies mit dem Versuch zu tun, das Narrativ der 1930er Jahre in ein Gewand des 21. Jahrhunderts zu zwängen: Die Verweise auf die Wirtschaftskrise sind ein deutliches Echo der Dreißiger und bilden eine Disjunktion zur heutigen USA, die eine nie dagewesene Phase des ökonomischen Erfolges erlebt. Wie der Kapitalismus selbst – jenes »kunterbunte Gemälde von alldem, was geglaubt worden ist« (Deleuze/Guattari) –, ist auch Nolans Gotham ein Mischmasch aus Mittelalter und jüngster Gegenwart, aus Amerika, Europa und der Dritten Welt. Es ähnelt zugleich den Wolkenkratzern des Expressionismus und den Favela-Feldern des Cyberpunk88: Der Albtraum des alten Europa explodiert im Herzen des amerikanischen Metropolis.
In einer faszinierenden Lektüre von Batman Begins erklärt China Miéville, das der Antikapitalismus des Films letztlich ein Plädoyer für den Faschismus enthält. Der Film, schreibt Miéville,
»handelt von der Selbsterkenntnis des Faschismus und der einzige Kampf, den er durchmacht, ist die Anerkennung seiner eigenen Notwendigkeit. Batman Begins plädiert für eine Ära der absolut(istisch)en Unternehmen gegen die ›postmoderne‹ soziale Diffusion des Aktienkapitals (die hier im Sinne einer Unternehmenslogik der alten Schule als eine Art Schwäche gesehen wird), ganz zu schweigen von der Dummheit der wohlmeinenden, liberalen Reichen, die nicht verstehen, dass ihr Wunsch, mit den Armen und der Arbeiterklasse zu reisen, die ›Ursache‹ der sozialen Konflikte darstellt, weil der Reiche in sein Schloss gehört und der Arme vor das Tor, und weil die Auflösung dieser Grenzen die tierischen Instinkte der Schafherde verwirrt. Der Film sagt ziemlich deutlich (offenkundig, wenn man das Hochbahn-Setting betrachtet, in einem Dialog mit Spiderman 2, einem dummen aber gutmütigen Film, der glaubt, dass alle Menschen im Grunde vernünftig sind), dass die Massen gefährlich sind, außer man zwingt sie zum Gehorsam (Spidey gehört auch zu den Massen – sie nähren ihn und passen auf, dass es ihm gut geht; Batman ebenfalls –, die Massen sind ein mörderischer, animalischer Mob, weil sie im Grunde ›nicht genug Angst haben‹). Die letzte Möglichkeit, diese soziale Katastrophe zu ›lösen‹ besteht […] in der Zerstörung des Massentransportsystems, das alles ruiniert hat, indem es im wörtlichen Sinne, die Armen erhoben und auf eine Stufe mit den Reichen gestellt hat: Wenn beide zusammen reisen, ist der sozialdemokratische Wohlfahrtstaat im Gegensatz zur Trickle-Down-Ideologie ein schöner Traum, führt aber zum gesellschaftlichen Zusammenbruch und vergisst den Terrorismus, der Transportsysteme durch den Himmel in große Gebäude inmitten von an New York erinnernden Städten jagt – 9/11, verursacht von der Krise der ›exzessiven Solidarität‹ und der Arroganz der Massen, die ›nicht genug Angst vor ihren Hirten haben‹. Alles in allem ist es ein Film, der darauf beharrt, dass soziale Stratifikationen notwendig sind, um Tragödien zu verhindern und dass sie durch Terror gegenüber dem Plebs instandgehalten werden müssen, den großen Unternehmen zuliebe, die bei einem Happy End […] wieder in den Händen eines einzelnen, aufgeklärten Despoten landen, Hurra, der uns vor der Verwüstung des gesellschaftlichen Konsenses rettet.«89
Ohne Zweifel stellt der Film das Finanzkapital als ein Problem dar, das durch die Rückkehr des re-personalisierten Kapitals gelöst wird, worin der »aufgeklärte Despot« Bruce die Rolle des toten Thomas einnimmt. Ebenso klar ist, wie wir gesehen haben, dass Batman Begins unfähig ist, sich eine Alternative zum Kapitalismus vorzustellen und stattdessen eine nostalgische Reise in frühere Formen des Kapitalismus empfiehlt. (Eine der strukturgebenden Phantasien des Films besteht in der Idee, dass Verbrechen und soziale Desintegration ausschließlich Produkte kapitalistischen Scheiterns sind, statt unvermeidbare Begleiterscheinungen kapitalistischen »Erfolges«.)
Und dennoch müssen wir zwischen dem unternehmerischen Kapitalismus und dem Faschismus unterscheiden, und sei es nur, weil der Film es auch tut. Die faschistische Option repräsentiert nicht Wayne/Batman, sondern R’as al Ghul. Es ist Ghul, der die totale Zerstörung von Gotham plant, das er als unrettbar korrupt ansieht. Waynes Sprache ist nicht die Sprache von Erneuerung durch Zerstörung (und hier finden sich der Kapitalismus á la Schumpeter und der Faschismus, die ansonsten weit voneinander weg sind, ganz nah beieinander), sondern von philanthropischer Verbesserung. (Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Massen, die Batman verfolgen und auslöschen wollen, in einem pointierten Verweis auf Romeros Living Dead-Filme, unter dem Einfluss von Scarecrows »Halluzinogenwaffe« stehen, auch wenn uns dieses Bild der Massen mehr über das politische Unbewusste der Filmproduzenten sagt als über die Massen selbst.)
Wenn die Beschäftigung des Films mit dem Kapitalismus inkohärent ist, inwiefern stellt Batman Begins dann eine Herausforderung für den kapitalistischen Realismus dar? Die Antwort auf diese Frage führt nicht auf die Ebene der Politik, sondern dem Verständnis von Ethik, Handlungsmacht und Subjektivität. Žižek klassische Definition der Ideologie in The Sublime Object of Ideology handelt vom Unterschied zwischen Glauben und Handeln. Auf der Ebene des Glaubens werden kapitalistische Ideen – Waren sind belebt; das Kapital ist quasi-natürlich – zurückgewiesen, doch es ist gerade die ironische Distanz von solchen Prinzipien, die uns erlaubt, so zu handeln, als seien sie wahr. Die Zurückweisung des Glaubens erlaubt uns, Handlungen auszuführen. Ideologie beruht dann also auf der Überzeugung, dass es nicht um das geht, was wir tun, sondern um das, »was wir sind« und dass dieses »wir« auf einem »inneren Wesen« beruht. Übertragen auf Begriffe der zeitgenössischen, amerikanischen Kultur findet sich dies in der »therapeutischen« Idee, dass wir »ein guter Mensch« sein können, egal, wie wir uns verhalten.
Die zentrale, ethische Lektion des Films ist eine Umkehr dieser ideologischen Überzeugung. In Waynes Kampf, Gerechtigkeit und Rache auseinanderzuhalten, wird die Rache durch den kompromisslosen R’as al Ghul personifiziert, während Gerechtigkeit durch die Staatsanwältin Rachel Dawes repräsentiert wird. Dawes wird der entscheidende (anti-therapeutische) Slogan des Films in den Mund gelegt: »Aber was man im Inneren ist, zählt nicht. Das, was wir tun, zeigt, wer wir sind.« Das Gute ist möglich, doch nicht ohne eine Entscheidung und ohne die Tat. Indem Batman Begins diese Message stark macht, rückt er den Helden wieder in ein existenzielles Drama, das nicht nur den kapitalistischen, realistischen Nihilismus in die Flucht schlägt, sondern auch die nörgelnden, besserwisserischen Kobolde der postmodernen Reflexivität90, die viel zu lange schon von seinem Blut gelebt haben.
Wenn wir träumen, sind wir dann Joey? 91
»Hey, wenn du träumst, bist du dann noch Joey?«
Carl Garty zu Tom Stall in David Cronenbergs
A History of Violence 92
»In einem Traum ist er ein Schmetterling. […] Tschuang-Tse kann, nachdem er aufgewacht ist, sich fragen, ob nicht der Schmetterling träume, Tschuang Tse zu sein. Er hat recht, und zwar in doppelter Hinsicht, denn erstens beweist das, daß er nicht verrückt ist, er hält sich nicht für absolut mit Tschuang-Tse identisch – und zweitens, weil er sich nicht bewußt ist, daß er mit seiner Aussage so genau ins Schwarze trifft. In der Tat, als er eben Schmetterling war, faßte er sich an einer Wurzel seiner Identität – war er und ist er in seinem Wesen dieser Schmetterling, der sich in seinen eigenen Farben malt – und deshalb ist er im letzten Grunde Tschuang-Tse.«
Jacques Lacan
»Die Unterscheidung zwischen Auge und Blick«93
In der Schlüsselszene in Cronenbergs A History of Violence spricht der örtliche Sheriff mit dem Helden, Tom Stall (Viggo Mortensen), nachdem eine Reihe von brutalen Morden das Leben in der kleinen Stadt im Mittleren Westen durcheinander gebracht hat, wo beide leben: »Es ergibt keinen Sinn.« Auf den ersten Blick handelt es sich bei A History of Violence um Cronenbergs zugänglichsten Film seit The Dead Zone (1983). Doch so ganz mag sich die oberflächliche Plausibilität des Films nicht einstellen. Alle Teile sind vorhanden, doch wenn man genau hinschaut, passen sie nicht zusammen. Irgendetwas funktioniert nicht …
Das bis zum Schluss Beunruhigende von A History of Violence ist das schwierige Verhältnis des Films zum eigenen Genre: Ist es ein Thriller, ein Familiendrama, eine schwarze Komödie oder eine genreübergreifende Allegorie (»die Außenpolitik der Regierung Bushs übertragen auf einen Western«)? Diese Unentschiedenheit des Films weist darauf hin, dass in ihm überall das Unheimliche steckt. Selbst wenn die üblichen Muster des Thrillers oder des Familiendramas durchgespielt werden, ist darin irgendetwas schief, deswegen wirkt A History of Violence am Ende wie ein Thriller, den ein Psychotiker geschrieben hat, jemand der die Konventionen des Genres auswendig kann, sie aber nicht richtig einsetzt. Aber verrückterweise, und darin einem Cronenberg-Film ganz angemessen, ist es gerade dieses »Nicht-richtig-Funktionieren«, das den Film so fesselnd macht.
Den meisten Kritikern ist aufgefallen, dass in A History of Violence die Prothesen und Spezialeffekte, für die Cronenberg berühmt ist, fast völlig abwesend sind (Spuren finden sich nur noch in den exzessiven Aufnahmen von Leichen, denen ins Gesicht geschossen wurde). Tatsächlich war die Abwendung Cronenbergs von dieser Bilderwelt ein schleichender Prozess, der mindestens bis zu Crash zurückreicht (eXistenZ von 1998 könnte ein letztes Halleluja für Cronenbergs pulsierende, erotisierte Biomaschinerie sein), aber das ontologische Unwohlsein in seinen Filmen ist nicht verschwunden, sondern es wurde subtiler. Der Mythos ist überall in A History of Violence präsent: Nicht nur in der gefährdeten, trügerischen Kleinstadtnormalität oder in der urbanen Unterwelt der organisierten Kriminalität, die ihr zu Leibe rückt und sie zu zerstören droht, sondern vor allem im Konflikt von beiden. Eine Stadt wie Millbrook in Indiana, wo A History of Violence spielt, bietet sich für das amerikanische Kino und die Darstellung zerbrochener Unschuld geradezu an. Vergleiche mit Lynch sind unvermeidlich, doch die wichtigste Parallele ist nicht Lynch, sondern Hitchcock. Der Vergleich mit Hitchcock trägt weiter als bis zu den Details an der Oberfläche, so bedeutsam sie auch sind, wie eine Besprechung im Guardian deutlich macht: »Die Main Street [in A History of Violence] erinnert an die in Phoenix, Arizona, wo sich das Immobilienbüro von Psycho befindet.«94 Die Affinität reicht noch tiefer, was sich zeigt, wenn wir uns an Žižeks bekannte Analyse von Hitchcocks Methode erinnern. In Looking Awry vergleicht Žižek Hitchcocks »phallische« Montage mit der »analen« Montage des konventionellen Kinos:
»Nehmen wir zum Beispiel eine Szene, in der das abgelegene Zuhause einer reichen Familie von einer Verbrechergang umstellt wird, um es anzugreifen; die Szene gewinnt enorm an Intensität, wenn wir den idyllischen Alltag innerhalb des Hauses mit den verbrecherischen Handlungen außerhalb kontrastieren: wenn wir abwechselnd die glückliche Familie beim Abendessen, die umhertollenden Kinder, die gutmütige Ermahnungen des Vaters etc. zeigen, das ›sadistische‹ Lächeln des Verbrechers, ein anderer, der seine Waffe überprüft, ein dritter, der die Balustrade erklimmt. Worin bestände der Übergang zur ›phallischen‹ Phase? Mit anderen Worten, wie würde Hitchcock diese Szene drehen? Zunächst muss man sagen, dass sich der Inhalt dieser Szene nicht für Hitchcocks Art der Spannung eignet, insofern als sie auf der schlichten Entgegensetzung von idyllischem Innen und bedrohlichem Außen beruht. Deswegen sollten wir diese ›flache‹, horizontale Verdopplung zunächst in die Vertikale übertragen: Der schreckliche Horror sollte draußen sein, neben dem idyllischen Interieur, aber auch darin, als seine verdrängte Unterseite. Stellen wir uns zum Beispiel dieselbe glückliche Familie beim Abendessen aus der Perspektive eines reichen Onkels, den sie eingeladen haben, vor. Während des Essens beginnt der Gast (und mit ihm auch wir, die Öffentlichkeit) plötzlich ›zu viel zu sehen‹, er beobachtet, was er nicht hätte beobachten dürfen, irgendein Detail, das nicht passt, das in ihm den Verdacht weckt, dass die Gäste ihn vergiften wollen, um an seinen Reichtum zu kommen. Ein solches ›Überschuss-Wissen‹ hat gewissermaßen einen abyssalen Effekt […] die Handlung ist sozusagen in sich selbst verdoppelt, endlos reflektiert, wie in einem Doppelspiegel … die Dinge erscheinen in einem anderen Licht, obwohl sie identisch bleiben.«95
Das Faszinierende an A History of Violence ist, dass der Film diesen Übergang vom analen zum phallischen im Rahmen seiner eigenen narrativen Entwicklung durchmacht, was einem Film, der, wie Graham Fuller schreibt, von der »Rückkehr des Phallus«96 handelt, völlig angemessen ist.
Der Film beginnt genau mit einer gerade nicht an Hitchcock erinnernden Gegenüberstellung zwischen einem bedrohlichen Außen (einer langen, erdrückenden Einstellung von zwei Mördern, die ein Motel verlassen) und einem friedlichen Innen (das Zuhause der Stalls, wo die sechsjährige Tochter von ihren Eltern und ihrem Bruder getröstet wird, nachdem sie aus einem Albtraum aufgewacht ist). Doch im Fortgang der Geschichte verortet sich der Film gewissermaßen neu, er verinnerlicht die Bedrohung, oder besser gesagt, er zeigt, dass das Außen die ganze Zeit schon innen war.
Der Fleck Hitchcocks, das Ding, das nicht dazu passt, ist der »Held« selbst. Das zentrale Rätsel des Films – ist der biedere, friedliche Tom Stall wirklich der psychopathische Mörder Joey Cusack? – kann in die Frage überführt werden: Welchen Film Hitchcocks schauen wir? Ist A History of Violence eine Neuauflage von Der falsche Mann oder von Im Schatten des Zweifels? Das verstörende Ergebnis ist: beides.
Im Schatten des Zweifels verhandelt eine Familienszene ganz ähnlich wie die von Žižek beschriebene, obwohl es hier der Gast ist, der reiche Onkel, der das häusliche Idyll bedroht. Der Onkel (Joseph Cotten) ermordet reiche Witwen und hält sich im Haus der Familie seiner Schwester vor der Polizei versteckt. Der falsche Mann wiederum zeigt, wie eine Familie zerbricht, als der Vater zu Unrecht beschuldigt wird.
In Im Schatten des Zweifels bedeutet die Bösartigkeit des Onkels, dass er sterben muss, damit die Idylle der Familie erhalten werden kann. Nur die Figur von Teresa Wright weiß die Wahrheit; der Rest der Familie und das große Andere, die Gesellschaft, bleiben blind. Bei A History of Violence jedoch kann am Ende des Films einzig das jüngste Kind nicht wissen, dass das Leben der Familie schon immer eine Täuschung war. Entscheidend ist in dieser Hinsicht die Antwort von Stalls Frau, Edie (Maria Bello), wie Ballard in einem Artikel über den Film im Guardian herausstellt:






