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»Sie erwähnen Frankreich. Alle Welt blickt derzeit dorthin, aber wenn ich durch unser armes Schweden fahre, will mir die parfümierte Aufgeregtheit dieses Volkes doch exotisch erscheinen. Man kommt ins Grübeln. Sehen Sie da draußen die einfachen Häuser armer Leute. Meinen Sie, Rousseau, Voltaire, Raynal, und wie sie alle heißen, haben jemals für ein Volk empfunden? Ja, sie denken über Völker nach, aber im Grunde ist ihnen doch ein geschliffenes Bonmot mehr wert als ein ganzes Dorf. Als Günstlinge des Adels spucken sie in die Hand, die sie füttert. Auch unser König hat das erkannt. Das Neue muss aus dem Volk kommen, aus seinen tiefen Empfindungen. Daher seine schwedischen Theater, seine Akademie.«
»Aber Lilljehorn, Sie reden sich in Rage. In Frankreich geht es den alten Zöpfen nun an den Kragen, man atmet freiere Luft. Und bei uns, was ist denn besser geworden? Am letzten Reichstag hat unser erlauchter Landesherr den Adel entmachtet. Will er denn mit Bauern regieren? Wer sind denn Ihre schwedischen Bauern? Blicken sie geistig über Uppland hinaus?«
»Mon cher Louis«, ließ sich Carlotta vernehmen, »Sie reden ja wie einer dieser Poeten aus Deutschland. Aber im Ernst, was kann man denn tun, als Haltung zeigen, wenn sich der Pöbel rührt. Sollten sie mir den Kopf abschlagen, so hoffe ich doch, dass ich ein harmonisches Ensemble für mein Büßerkleid gewählt habe. Apropos Farbe, mein lieber Lilljehorn, Ihr blauer Frack mit gelber Weste nach der Fasson des armen Werther – Sie erlauben meine offenen Worte –, doch sehr direkt, nicht wahr?«
Lilljehorn hätte sich den Kopf vor Wut einstoßen mögen. Erst jetzt fiel ihm das changierende Resedagrün des Kleides der Gräfin auf, vor dem sich ihr weiß gepudertes Dekolleté makellos abhob.
»Lassen Sie uns von angenehmeren Dingen sprechen, meine Herren. Graf Armfelt soll ja Herzog Carl nun endgültig in der Gunst bei Madame Rudenschöld übertroffen haben. Der Herzog trägt’s mit Fassung, seine Gattin weniger, da er seine Aufmerksamkeit nun ganz ihr zuwendet, was sie doch einigermaßen langweilt. Vergleicht man Carl mit seinem Bruder Frederik, dann ist dieser doch ein armer Tropf: Er gab den zerknirschten Jüngling, als ihn die Fersen sitzen ließ, wirklich sitzen ließ. Stellen Sie sich die Komödie vor: Frederik geht zum älteren Bruder, unserem Gustav, bittet ihn, sechsspännig bei den Fersens vorzufahren und den Brautwerber zu spielen. Der König tut ihm den Gefallen, kommt zu den Fersens. Dort ist man loyal, der alte Fersen bittet die Majestät mit Brüderchen devot zum Tee. Frederik und die Fersen verschwinden in ihrem Boudoir, der Prinz kommt errötet zurück, die Fersen will nicht ins Königshaus heiraten. Der alte Fersen fragt, ob man Majestät noch Zucker reichen dürfte, die Jugend sei eben eigensinnig, da ließe sich nichts machen. Die Fersen bleibt in ihren Gemächern, König und Brüderchen fahren zurück ins Königsschloss, Vorhang fällt. Darüber sollten Sie schreiben, Lilljehorn!«
Lilljehorn versuchte eine Entgegnung, hatte sich die Worte auch schon zurechtgelegt, als der Schlitten sich stark nach rechts neigte und völlig zum Stehen kam.
»Norberg, du versoffener Tölpel!«, brüllte Ribbing, »kannst du nicht auf dem Weg bleiben?«
»Verzeihen Sie, Herr, der Schlitten ist mir auf einer Schneewechte weggerutscht.«
Ribbing und Lilljehorn kletterten aus dem Fuhrwerk. Sie befanden sich jetzt mitten im Solnaer Wald, aus dem sich der Morgennebel noch nicht gehoben hatte. Mitten auf dem Weg türmte sich ein Hügel aus Eis und Schnee auf – braun gesprenkelt und härter als der umliegende Neuschnee. Der Oberstleutnant kniete nieder, um sich ein Bild zu machen, wie man den Schlitten wieder in die Spur heben könnte. »Wir waren nicht die Ersten. Sehen Sie die Mulden im weichen Schnee, die Vertiefungen, die Fußspuren? Wir tun gut daran, rasch wegzukommen. Der Schneehügel wurde absichtlich zusammengetragen. Man will unvorsichtigen Fuhrwerken auflauern.«
»Ich führe immer zwei Pistolen mit mir«, entgegnete Ribbing, »und werde den Banditen mit meinem Blei die Haut gerben.«
»Ich möchte Sie schon im Interesse der Gräfin bitten, zuerst den Schlitten flottzubekommen.«
Auf einen Wink Ribbings versuchte der Kutscher mit einem Fichtenast als Hebel den Schlitten so weit zu heben, dass die Pferde ihn ein Stück zur Wegmitte ziehen konnten. Doch beim ersten Versuch brach der Ast an der Stelle entzwei, wo Norberg ihn am Schlitten angesetzt hatte. Als Ribbing dem Kutscher eine Ohrfeige geben wollte, ertönte der erste Pfiff. Ein kurzes, sich einmal senkendes, dann wieder steigendes Signal. Was der Kutscher nun tat, hätte niemand erwartet, am allerwenigsten die Gräfin, deren Kopfschmuck am Fenster sichtbar wurde. Bedächtig lehnte Norberg sich mit dem Rücken gegen den Schlitten, vergrub beide Hände im Schnee, fasste die eingesunkene Kufe und hob das Fahrzeug langsam in die Waagrechte. Für einen Augenblick verschwand die Perücke der Gräfin vom Fenster. Zweiter Pfiff. Lilljehorn ließ geistesgegenwärtig die Peitsche über den Pferden knallen. Sie fassten Fuß und zogen den Schlitten ruckartig in die Spur. Die Tiere dampfen, der Kutscher sitzt schon auf dem Bock. Ribbing und sein Gast schwingen sich auf das Trittbrett des jäh anfahrenden Schlittens. Da lösen sich aus dem nebeligen Umkreis der Baumriesen konturlose Gestalten. Sie johlen, pfeifen. Es fliegen Äste und Knüppel, die aber die Kutsche verfehlen. Ribbing feuert seine Pistolen ab. Die Pfiffe werden leiser.
Was Lilljehorn in Erinnerung blieb, waren weniger die unflätigen Beschimpfungen als der ohnmächtige Hass, der dem Schlitten und seinen Insassen noch anhaftete, als die Reisenden ihr Ziel, die Schenke »Zum Bacchusjünger«, schon sicher erreicht hatten.
Bericht des Polizeimeisters Sivers an Graf Armfelt
Exzellenz, meine Informanten berichten von Unruhen in der Provinz Östergötland. Bauern haben auf dem Fahrweg des Grafen Horn Seile gespannt, um seinen Schlitten aufzuhalten. Der Graf konnte sich mit gezogenem Säbel gerade noch freie Bahn verschaffen. Die Informanten erklären, der Graf habe die Arbeitszeit in seinen Berggruben auf zwölf Stunden erhöht und bezahle mit Papiergeld.
Die Agenten am Hof haben in Erfahrung gebracht, dass einige Pagen unter ihrer Tracht Seidentücher in den Farben der französischen Sansculotten trugen. Herr von Essen hat sie zurechtgewiesen.
In Göteborg versuchte ein französisches Handelsschiff unter der Flagge der Trikolore die Ladung zu löschen. Entsprechend dem königlichen Erlass blockierte der Hafenkommandant die Einfahrt, woraufhin er von Leutnant Falckenberg vor versammelter Mannschaft zur Rede gestellt wurde.
Die Agentin Mamsell leistet hervorragende Dienste. Ich schlage untertänigst die Erhöhung ihres Honorars auf 200 Reichstaler vor.
Armfelt an Sivers
Der Rädelsführer der Bauern kommt am Sonntag nach dem Kirchgang auf den Spanischen Bock. Die örtlichen Beamten haben wegzuschauen, wenn die Bergarbeiter ihren Aquavit brennen. Papiergeld ist legales Zahlungsmittel. Ich will die Namen der Pagen haben, und zwar bis morgen. Herr von Essen ist zu nachsichtig! Der Leutnant wird nach Gotland versetzt, dort kann er mit Anckarström Füchse zählen. Die Erhöhung des Honorars für Mamsell ist genehmigt, auch die Auszahlung in barer Münze. Aber spannen Sie mich nicht auf die Folter, wer zum Kuckuck steckt hinter Ihrer Mamsell?
3
Der Wirt geleitete Lilljehorn mit seinen beiden Weggefährten am langen Tanzsaal vorbei ins Speisezimmer. Dort waren im dichten Tabaksqualm die Anwesenden mehr zu erahnen, als zu erkennen. Es musste sich aber um eine gemischte Gesellschaft handeln, was Lilljehorn verwunderte. Carlotta, die ihre Toilette in Ordnung bringen wollte, erhielt ein Gemach über einer rußschwarzen Holztreppe, die vom Foyer ins Obergeschoss führte. Den Menüvorschlag des Wirtes hatte sie entrüstet abgelehnt und sich einsilbig zurückgezogen. In der fahlen Mittagssonne tanzte der Staub und hob sich zur schweren Holzdecke. Ein zu hoch gehängtes Gemälde wurde nur von Lilljehorn beachtet. Waren das Trauben, der nackte Wanst eines Bacchus oder ein im klebrigen Fettdunst der Speisen unkenntlich gewordenes Interieur?
Der Hasenbraten schmeckte den beiden Männern gut, vom Wein sagte der Wirt, mit der Zunge schnalzend, er käme aus Frankreich. Zwischen gebratenen Keulen, Rosmarinkartoffeln und gedünstetem Kraut verebbte das Gespräch und kam nach der ersten Karaffe Wein vollends zum Erliegen. Wie sehr wünschte sich Lilljehorn nun, sein Exemplar des Werther bei sich zu haben, denn vielleicht hätte er in einem stillen Winkel trotz der bleiernen Müdigkeit nach den Aufregungen der Schlittenfahrt eine Seite übertragen. Er war jetzt beim Abschnitt über die Terzerolen Alberts in Werthers Erzählung über den »regnichten« Nachmittag angelangt. Aber welches Wort könnte das altertümliche »regnicht« im Schwedischen wohl am besten wiedergeben? Warum hatte der Text zudem »Terzerolen« und nicht Pistolen? Albert erzählte in dem Kapitel von einem Bedienten, der ungeschickt mit geladenen Pistolen hantierte und seinem Mädchen den Ladestock durch den Daumen schoss. Der kluge Albert – nun lädt er seine Pistolen nie mehr. Musste Werther ob dieser Vernünftelei nicht rasend werden, sich die Mündung über das Auge halten und Selbstmord spielen? Wie würde wohl Ribbing reagieren, wenn er dessen abgeschossene Pistolen an sich nähme, die Holztreppe hinaufschliche, um vor Carlotta den eigenen Tod zu markieren? Die selbstsichere, sarkastische Carlotta.
Ribbing war aus dem Speisezimmer verschwunden, er hatte ihn nicht weggehen gehört. Anstelle des Tabletts mit dem Braten lag ein mit silbernen Buckeln verziertes Halfter auf dem Tisch, darin steckte eine Pistole. Lilljehorn barg sie unter seiner Weste. Aufrecht im Zimmer stehend, hatte er nun an der gegenüberliegenden Wand das Gemälde vor sich. Dort war jetzt deutlich ein Jüngling zu erkennen, neben ihm ein umgestürzter Sessel, die Einrichtung nach altdeutscher Art. Er öffnete die Tür zum Tanzsaal. Der Tabakrauch hatte sich verzogen, Gäste in schwarzer Tracht saßen starr auf ihren Bänken, ohne von ihm die geringste Notiz zu nehmen. Unbemerkt verließ er den Saal und gelangte endlich zur Treppe. Als er seinen Fuß auf die unterste Stufe setzte, fühlte sie sich kalt wie Marmor an und knarrte nicht. Nun lichtete sich das Obergeschoss zu einem frühlingsblauen Himmel. Er atmete freiere Luft. Ein Lindenbaum reckte seine Äste Carlottas Gemach entgegen, vor dem kühles Wasser in einen steinernen Brunnen strömte. Er stieß die Tür auf, vor ihm stand Lottchen, weinend, mit einem Brief in der Hand. Er hielt sich lächelnd die Mündung der Pistole über das rechte Auge und drückte ab. Zu abertausend Farben explodierte in seinem Kopf das Feuer aus dem Lauf der Waffe.
Lilljehorn fühlte eine schwere Hand an seiner Schulter. Er starrte in die Weinkaraffe, deren Glas das schräg einfallende Abendlicht in den Farben des Regenbogens auf die blank polierte Tischfläche warf. Dann hörte er Ribbing: »Nun sind Sie ja endlich erwacht. Wollen sich Herr Oberstleutnant nach den Strapazen des Mittagsmahles vielleicht für die Battaglia am Tanzparkett bereitmachen? Der Wirt hat Ihnen ein Zimmer überlassen. Der Contredance soll um sieben beginnen.«
4
Das Blatt Papier schräg haltend, um zu sehen, wann die noch feuchte Tinte nicht mehr schillern und endgültig trocken sein würde, rief Lilljehorn einen Bedienten, der ihm die Garderobe für den Tanz bereitlegen sollte. Nach dem unruhigen Mittagsschlaf hatte er sich auf seinem Zimmer erfrischt und danach noch eine Seite aus dem Werther übersetzt. Jetzt fühlte er sich erholt und merkwürdig ruhig.
Ribbing erwartete ihn im Foyer vor dem Saal. Von drinnen waren die Musiker beim Stimmen ihrer Instrumente zu hören. Die zusammenhanglosen Tonleitern der Bläser vermischten sich mit den gedehnten Klängen der Streicher, allesamt übertönt von den Anweisungen eines mächtigen Basses. Der zarte Schritt einer Dame, Lilljehorn drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau, die nach Bürgerinnenart ihr blondes Haar nach hinten zusammengebunden hatte. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid mit blassrosa Schleifen an Armen und Brust. Ein ironisches Funkeln in ihren Augen war nicht zu übersehen. »Ich bitte um Vergebung«, sagte sie mit einem leichten Knicks, »wenn ich Ihren Vorstellungen von Lottchen nicht genau entspreche.«
Lilljehorn stammelte ein unbeholfenes Kompliment über die schöne Maskerade Carlottas und betrat an ihrer linken Seite den Saal. Einen halben Schritt dahinter folgte Ribbing.
Dort schenkten Bedienstete Wein, Bier und Kaffee aus. Es schien ihm, als ob er viele Gäste bereits aus Stockholm kannte, einige brachte er sogar mit dem Hof in Verbindung. Nun aber trugen alle Bürgergewand, die kühnsten traten sogar in schlichten Bauernkleidern mit bunt bestickten Tüchern auf. Perücken fehlten gänzlich, nur schwer waren die Menschen zu erkennen. Die unbarmherzige Wahrheit ihres wirklichen Alters, bis jetzt durch den weißen Puder in Haar und Gesicht gnädig verborgen, machte ihn verlegen. Da, der missmutige Mitvierziger, konnte das Graf Anckarström sein, den man üblicherweise nie mehr in Hoftracht sah? Daneben der kecke Bauer, der den weiblichen Schönheiten in den Po kniff, der biedere Kanzleirat Engeström? Und das junge Geschöpf an seiner Seite, war das wirklich Carlotta de Geer aus einer der reichsten Familien Schwedens? Sie freute sich jetzt wie ein kleines Mädchen auf den Tanz und zappelte und zog ihn ungeduldig nach vorne in den Saal. Dieser bildete ein langes Rechteck, an dessen oberer Schmalseite man über drei Weinfässer ein Brett gelegt hatte, auf dem wie auf einer Bühne der Tanzmeister thronte. In seinem Kostüm, das unzweifelhaft aus dem Fundus der Königlichen Oper stammte, bot er eine wahrhaft herrliche Erscheinung. Sein leidenschaftlicher Blick, das markante Profil und das wohlklingende Französisch waren in ganz Stockholm berühmt – die Anwesenden hatten die Ehre, von niemand anderem als von Jacques Marie Bouchet, genannt Monvel, dem Lieblingsschauspieler des Königs, zum Tanz geführt zu werden. In anmutiger Bühnenhaltung, das linke Bein leicht abgewinkelt vor das rechte gesetzt, dirigierte er nun die Gäste zur Aufstellung für den ersten Contredance.
Lilljehorn und Carlotta kamen gegenüber zu stehen, sie bildeten ein Paar. Mit seiner Fiedel gab Monvel den Takt vor, die Musik setzte triumphierend ein. Sorglos und unbefangen schmiegte sich Carlotta an den Oberstleutnant, ihr ganzer Körper antwortete den Schwingungen der Musik. Als sie die Armtour begannen, ihr rechtes und sein rechtes Armgelenk einander berührten, war ihm, als streifte ihn der unsagbar leichte Flügelschlag eines Vogels.
Zur linken Rondé durfte er ihre beiden Hände fassen, nach der Drehung sah er ihr unvermittelt in die Augen. Für die Große Acht löste er sich etwas zu spät von ihr. Jetzt übernahm Carlotta die Führung und schob ihn auf den richtigen Platz. Ihr Lachen tat ihm weh und erfüllte ihn zugleich mit Seligkeit. Der erste Tanz war noch nicht zu Ende, als Ribbing schon um den zweiten bat, den ihm Carlotta sogleich gewährte. Lilljehorn zog sich linkisch zurück und hasste sich dafür, nicht gleich um den nächsten gebeten zu haben, der wieder an Ribbing ging.
Lilljehorn versuchte sich ganz auf die Kommandos des Tanzmeisters zu konzentrieren, auch wenn er bei jedem Taktwechsel, bei jeder neuen Figur nach der schlanken Gestalt Carlottas spähte. Die einen Tänzer balancierten auf der rechten Fußspitze und umfassten die Taillen ihrer Frauen, während sie die Linke graziös über ihren Kopf hoben. Die anderen machten die Rondé. Füße und Beine bewegten sich wie von selbst, sie folgten Monvel gleichmäßig und fehlerlos. Ihn durchdrangen die Gesetze seiner Musik, ließen seine Beine ohne sein Zutun auf dem kleinen Raum der Bretterbühne herumwirbeln, die Arme, die Füße wirbelten im Takt, der Kopf drehte sich, wie von einem mechanischen Uhrwerk gelenkt, in regelmäßigen Intervallen nach links und rechts. Wenn er geradeaus blickte, klappte sein Unterkiefer nach unten, so als ob dem entblößten Weiß seiner Zähne die Aufgabe zukäme, ein Lächeln darzustellen.
Der Tanzmeister war, je länger der Tanz dauerte, durch unsichtbare Fäden mit jedem einzelnen der Männer und Frauen im Saal verbunden. Einer geheimen Kraft untertan, hatten sie die Macht über sich verloren, wiegten sich, verbeugten sich und stürmten durch die Reihen, wie Monvel es ihnen vorspielte. Aus den vielen war ein einziger Organismus geworden. Erst als der Schlussakkord in aufbrausendem Crescendo verklungen war, endete die Magie. Kraftlos in sich zusammengesunken, stand Monvel auf seinen Brettern, ein überflüssiges Requisit der zu Bewusstsein gekommenen Menge.
Carlotta trat mit einem Champagnerglas zu Lilljehorn: »Ach, wissen Sie, lieber Freund, Paare, die zusammengehören, sollten doch einen Deutschen Tanz wagen. Dabei können sie eng beieinanderbleiben. Ich fürchte nur, Ribbing versteht sich nicht darauf. Wenn Sie mein sein wollen für die nächste Runde, bitten Sie doch Monvel, er solle deutsch tanzen lassen!«
Lilljehorn trat an Monvel, doch gerade jetzt begannen die Musiker wieder ihre Instrumente zu stimmen, sodass er seine Bitte fast schreiend vorbringen musste. Ob das Gezischel der Umstehenden ihm galt? Doch der Franzose neigte verständnisvoll sein Haupt. Kaum hatte er Carlotta im Arm, ging die Musik los. Eng ineinander verschlungen, tobten sie durch den Saal. Die anderen Paare drückten sich an die Wand. Carlotta und Lilljehorn drehten sich in kreisendem Wirbel. Die Gesichter der Umstehenden zerbarsten zu randlosen Flecken aus roten Lippen und erhitzten Wangen. Schon flogen sie, getragen vom Takt der Musik, durch ihre Welt, den hell erleuchteten Streifen in der Saalmitte, schwebten in Sphären aus Licht und Harmonie, als Lilljehorn seine Tänzerin mit beiden Händen in die Höhe hob. Zwei Seelen, die der Welt verloren waren. Die Musik erstarb, schwer atmend standen die beiden in der Mitte. Offene Augen und Münder wogten auf und nieder. Lilljehorn suchte Halt und fand ihn an der Schulter Carlottas. Endlich zog die starke Hand Ribbings die beiden zu einer Chaiselongue im Hintergrund des Saals. Die Gespräche der anderen setzten wieder ein, zuerst verlegen und vereinzelt, dann sich zu beruhigtem Gemurmel steigernd. »Meine Verehrteste«, sagte Ribbing, »Sie spielen die Bauerntänzerin ganz vortrefflich, mein Kompliment.«
Die Klänge des nächsten Tanzes übertönten die Worte, die Lilljehorn vielleicht schon auf den Lippen lagen. Da erblickte er auf dem Speisetischchen eine Schale mit Orangen, von denen er eine Carlotta gab: »Ich habe gelesen, dass diese Früchte nach dem Tanz hervorragende Wirkung tun.«
»Lieber Oberstleutnant, ich weiß, worauf Sie anspielen, doch der Tanz ist nun vorbei. Graf Ribbings Champagnerwein behagt mir besser.«
Die nächsten Tänze nahm er kaum wahr. Monvel hatte als unumschränkter König des Festes seine Herrschaft wieder angetreten. Als sich Lilljehorn gefasst hatte, dirigierte Monvel sein Volk zu einem wohldurchdachten Menuett in abgezirkelten Schrittfolgen. In der Saalmitte Ribbing und Carlotta, ihre Verbeugungen, ihre Knickse, ihre Schrittwechsel glichen den konvulsivischen Zuckungen dressierter Marionetten. Er zwang sich zu einem Gang rund um den Saal, wo sich die vorzeitig Erschöpften Wein oder Kaffee einschenken ließen und sich lächelnd abwandten, wenn er vorbeikam. Nichts hielt ihn mehr hier. Der Tanzmeister kündigte den letzten Tanz an und forderte zur Aufstellung en Anglaise auf. Waren das Gesichter hinter den Eisblumen der Fensterscheiben? Lilljehorn suchte die Tür, als diese aufflog und der Hauch der Nachtluft einige Kerzen an den Kandelabern auslöschte. Zuerst setzten die Bläser aus, dann die Kontrabässe, die Fiedel Monvels behauptete sich bis zuletzt gegen die Stille, gab nur zögerlich auf.
Vor ihnen stand eine krummbeinige Figur, schwarze Haarsträhnen hingen dem Mann wirr ins Gesicht. Die rotgeränderten Augen des Betrunkenen suchten nach einem fixen Punkt und blickten höhnisch in die Runde. In sich überschlagenden Falsett-Tönen kreischte er: »Citoyens – das Gehopse hat ein Ende! Ihr habt doch nichts dagegen, wenn meine Freunde nun wirklich tanzen. Meine Freunde, tretet ein! Musiker, spielt auf!«
Hinter ihm torkelten zerlumpte Gestalten in den Saal, Bauern in zusammengeflickten Mänteln und schweren Schuhen, Pelzmützen auf dem Kopf, Dienstmägde mit von Aquavit und Kälte geröteten Wangen. Die Hitze des Ballsaales nahm ihnen den Atem. Der Krummbeinige schrie: »Courage, mes amies!« und fasste die am nächsten stehende Frau, eine füllige Mitvierzigerin, um die Hüfte und vollführte einige Bocksprünge quer durch den Raum bis hin zum Podium des Monvel. »Deutsche Walzer!«, grölte er. Ein Geruch von Stall, Kälte und Feindseligkeit mischte sich mit den Parfüms der Gesellschaft, hier und dort gellte der spitze Schrei von Frauen, die man zum Tanzen zwang. Zwischen den in starrem Entsetzen auf ihren Plätzen verharrenden Paaren wirbelten die Mutigsten der Eindringlinge, stampften mit ihren Füßen den Boden. Lilljehorn suchte Carlotta, doch ein baumlanger Kerl baute sich vor ihm auf und versperrte ihm die Sicht auf die Geschehnisse. Seinen Degen hatte er im Zimmer gelassen, von Bedienten keine Spur.
Mit einer Behändigkeit, die er ihm nicht zugetraut hätte, sprang Monvel von seiner Bühne, stürmte durch das Chaos der sich irr drehenden Bauern zum Krummbeinigen. Die Tänzer blieben stehen, sofern sie es konnten, manche klammerten sich in ihrem Schwindel an ihre Tanzpartnerin. Der mächtige Lüster, dessen Kerzen allein noch brannten, warf einen harten Lichtkegel auf die nun einsetzende Szene. In majestätischer Gelassenheit schritt Monvel auf den Aufrührer zu, legte seine Fiedel, die er bis jetzt in der Linken gehalten hatte, sachte auf den Boden, um sich dann nach allen Seiten lächelnd der allgemeinen Aufmerksamkeit zu versichern. Dann, erst dann, als auch der letzte Tänzer zum Stehen gekommen war, als nur mehr der rasselnde Atem des Krummbeinigen zu hören war, verabreichte er der Kreatur vor ihm eine einzige, niederschmetternde Ohrfeige. Der Mensch ging zu Boden, stieß winselnd auf Französisch Bitten und Flüche aus. Monvel: »Jean, es reicht! Verschwinde auf dein Zimmer!«
Jean, das war das Faktotum der Schauspielerkompagnie. Er spielte Krüppel, Verräter und Dorfidioten. In Stücken, die nur edle Menschen und Götter zeigten, durfte er seinen berühmteren Kollegen, die tatsächlich allesamt schön und edel aussahen, unsichtbar soufflieren. Manchmal, wenn sogar die schönen Schauspieler zu müde waren für ihre Feste und Liebschaften und sich erschöpft in ihre Quartiere zurückgezogen hatten, hörten sie aus dem Verschlag Jeans den gleichmäßigen Takt seiner Schritte. Er musste wohl deklamieren. Aber welches Stück, welche Rolle bot genug Text für so einen wie ihn? Der aber deklamierte das Stück seines Lebens, das er hinter dem Horizont der Zeiten ahnte.
Jetzt kam Jean auf die Beine, Speichel glänzte auf seinem Kinn. Die Rechte bittend erhoben – wo hatte Lilljehorn diese Szene schon gesehen? –, überschlug er sich in Dankesworten. Einer der schwedischen Bauern, die den Ballsaal gestürmt hatten, spie Jean ins Gesicht. Dann schloss sich der Kreis der Zuschauer um Monvel. Lilljehorn war es, als würde Jean in das Dienstbotenzimmer neben der Küche getragen.
Die Eindringlinge hatten das Weite gesucht. Dabei waren einige Fensterscheiben zerbrochen. Die Gäste verzichteten darauf, ihre Garderobe in Ordnung zu bringen, stießen die an den Büfetts aufgereihten Weingläser und Kaffeekännchen um, drängten in ihre Zimmer und rasch zur Treppe. Deutlich konnte Lilljehorn den Grafen Ribbing sehen, der sich gerade einen sicheren Platz auf halber Höhe der Treppe erkämpfte. In der Linken stützte er eine Frau, deren Gesicht durch die nach oben stolpernden Besucher den Blicken entzogen war. Sie trug ein weißes Kleid – mit blassrosa Schleifen.
Tagebucheintrag des Ersten Kammerherrn Hans von Essen
Carlotta de Geer – sie ist derzeitig das Einzige, worauf sich trotz des Vorfalls in der Oper alle meine Gedanken richten. Sollte sich der König auch mit mir einen Spaß erlaubt haben? Was meinte er, wenn er von der Eroberung einer Festung sprach? Doch die Hoffnung, selbst die vergebliche Hoffnung auf diese wundervolle Frau erfüllt mich mit neuer Kraft.
Aber der Reihe nach: Mit den Pastillen des Physicus Salomon war ich nach dem Soupé im Königsschloss rasch genesen. Gestern habe ich einen Wink erhalten, die Insubordination der Pagen in den Jakobinerfarben kategorisch zu ahnden. Die Empfehlung wurde mir von meinem Sekretär, einem Cousin eines Vertrauten von Sivers, übermittelt. Nun: Alle zeigten sich reumütig, der dritte hat sich krankgemeldet. Sivers kennt die Namen. Danach die Post erledigt. Nach dem Mittagstisch versuchte ich einen Schlitten zu mieten und zu Erik nach Lurbacka hinauszufahren, um meine mögliche Verbindung mit Carlotta zu besprechen. Der Wagnermeister hinter dem Stortorget hatte nur mehr zwei lahme Gäule frei, was mich sehr verdross. Außerdem jammerte er etwas über seinen zuverlässigsten Kutscher, der verschwunden sei. Er schien ehrlich besorgt, weil die Straßen immer unsicherer würden. Wie soll ich ohne Eriks Hilfe und seinen Überblick über unser gemeinsames Erbe die Heirat finanzieren? Der Nachmittag verlief also ergebnislos.






