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»Hübsch oder häßlich?« fragte Rosa. »Nehmen Sie sich in acht, Herr von Gordon. In Ihrem Hexenspuk spukt etwas vor. Das sind die inneren Stimmen.«
»Oh, Sie wollen mir bange machen. Aber Sie vergessen, meine Gnädigste, wo das Übel liegt, liegt in der Regel auch die Heilung, und ich kenne Gott sei Dank kein Stück Land, wo, bei drohendsten Gefahren, zugleich soviel Rettungen vorkämen wie gerade hier. Und immer siegt die Tugend, und der Böse hat das Nachsehen. Sie werden vielleicht vom ›Mägdesprung‹ gehört haben? Aber wozu so weit in die Ferne schweifen! Eben hier, in unsrer nächsten Nähe, haben wir ein solches Rettungsterrain, eine solche beglaubigte Zufluchtsstätte. Sehen Sie dort« (und er wandte sich nach rückwärts) »den Roßtrapp-Felsen? Die Geschichte seines Namens wird Ihnen kein Geheimnis sein. Eine tugendhafte Prinzessin zu Pferde, von einem dito berittenen, aber untugendhaften Ritter verfolgt, setzte voll Todesangst über das Bodetal fort, und siehe da, wo sie glücklich landete, wo der Pferdehuf aufschlug, haben wir die Roßtrappe. Sie sehen an diesem einen Beispiele, wie recht ich mit meinem Satze hatte: wo die Gefahr liegt, liegt auch die Rettung.«
»Ich kann Ihr Beispiel nicht gelten lassen«, lachte Rosa. »Zum mindesten beweist es ein gut Teil weniger, als Sie glauben. Es macht eben einen Unterschied, ob ein gefährlicher Ritter eine schöne Prinzessin oder ob umgekehrt eine gefährlich-schöne Prinzessin...«
»Was dem einen recht ist, ist dem andern billig.«
»Oh, nicht doch, Herr von Gordon, nicht doch. Einem armen Mädchen, Prinzessin oder nicht, wird immer geholfen, da tut der Himmel seine Wunder, interveniert in Gnaden und trägt das Roß, als ob es ein Flügelroß wäre, glücklich über das Bodetal hin. Aber wenn ein Ritter und Kavalier von einer gefährlich-schönen Prinzessin oder auch nur von einer gefährlich-schönen Hexe, was mitunter zusammenfällt, verfolgt wird, da tut der Himmel gar nichts und ruft nur sein aide toi même herunter. Und hat auch recht. Denn die Kavaliere gehören zum starken Geschlecht und haben die Pflicht, sich selber zu helfen.«
St. Arnaud applaudierte der Malerin, und selbst Cécile, die, beim Beginn des Wortgefechts, ein leises Unbehagen nicht unterdrücken konnte, hatte sich, als ihr das harmlos Unbeabsichtigte dieser kleinen Pikanterien zur Gewißheit geworden war, ihrer allerbesten Laune rückhaltslos hingegeben. Selbst der säuerlich schlechte Kaffee, mit der allerorten im Harz als Sahne geltenden häßlichen Milchhaut, erwies sich außerstande, diese gute Laune zu verscheuchen, und bestimmte sie nur, behufs leidlicher Balancierung des Übels, um Sodawasser zu bitten, was freilich, weil es multrig war, seines Zweckes ebenfalls verfehlte.
»Die Roßtrappen-Prinzessin«, sagte der Oberst, »wenn sie sich nach dem Sprunge hat restaurieren wollen, hat es hoffentlich besser getroffen als wir. Aber« (und er verneigte sich bei diesen Worten gegen Rosa) »wir haben dafür etwas anderes vor ihr voraus, eine liebenswürdige Bekanntschaft, die wir anknüpfen durften.«
»Und die sich hoffentlich fortsetzt«, fügte Cécile mit großer Freundlichkeit hinzu. »Dürfen wir hoffen, Sie morgen an der Table d'hôte zu treffen?«
»Ich habe vor, meine gnädigste Frau, mich morgen in Quedlinburg umzutun, und möchte mein Reiseprogramm gern innehalten. Aber es würde mich glücklich machen, mich Ihnen für diesen Nachmittag anschließen zu dürfen und dann später vielleicht auf dem Heimwege.«
Dieser Heimweg wurde denn auch bald danach beschlossen, und zwar über die sogenannte »Schurre« hin, bei welcher Gelegenheit man den eigentlichen Roßtrappe-Felsen, also die Hauptsehenswürdigkeit der Gegend, mit in Augenschein nehmen wollte.
»Werden auch deine Nerven ausreichen?« fragte der Oberst, »oder nehmen wir lieber einen Tragstuhl? Der Weg bis zur Roßtrappe mag gehen. Aber hinterher die Schurre? Der Abstieg ist etwas steil und fährt in Kreuz und Rücken, oder um mich wissenschaftlicher auszudrücken, in die Vertebrallinie.«
Der schönen Frau blasses Gesicht wurde rot, und Gordon sah deutlich, daß es sie peinlich berührte, den Schwächezustand ihres Körpers mit solchem Lokaldetail behandelt zu sehen. Sie begriff St. Arnaud nicht, er war sonst so diskret. Aber sich bezwingend, sagte sie: »Nur nicht getragen werden, Pierre; das ist für Sterbende. Gott sei Dank, ich habe mich erholt und empfinde, mit jeder Stunde mehr, den wohltätigen Einfluß dieser Luft... Ich glaube Sie beruhigen zu können«, setzte sie lächelnd gegen Gordon gewandt hinzu.
So brach man denn auf und erreichte zunächst die Roßtrappe, die berühmte Felsenpartie, wo ganze Gruppen von Personen, aber auch einzelne, vor einer Erfrischungsbude standen und unter Lachen und Plaudern das Echo weckten – die meisten ein Seidel, andere, die dem Selbstbräu mißtrauten, einen Cognac in der Hand. Unter diesen waren auch unsere Berliner, die sich, als sich ihnen erst St. Arnaud mit der Malerin und dann Gordon mit der gnädigen Frau von der Seite her genähert hatten, anscheinend respektvoll zurückzogen, aber nur um gleich danach ihrem Herzen in desto ungenierterer Weise Luft zu machen.
»Sieh die Große«, sagte der ältere. »Pompöse Figur.«
»Ja; bißchen zu sehr Caroline Plättbrett.«
»Tut mir nichts.«
»Mir aber. Übrigens darum keine Feindschaft nich. Chacun à son goût. Und nun sage mir, wen lassen wir leben, den Stöpsel oder die Stricknadel?«
»Ich denke Berlin.«
»Das is recht.«
Und erfreut über das Aufsehen, das sie durch ihre vorgeschrittene Heiterkeit machten, stießen sie mit den Cognacgläschen zusammen.
Siebentes Kapitel
Gordon bot Cécile den Arm und führte sie so geschickt bergab, daß die gefürchtete »Schurre« nicht nur ohne Beschwerde, sondern sogar unter Scherz und Lachen passiert wurde, wobei die schöne Frau mehr als einmal durch einen Anflug kleinen Übermuts überraschte.
»St. Arnaud, müssen Sie wissen, macht sich gelegentlich interessant mit meinen Nerven, was er besser mir selber überließe. Das ist Frauensache. Gleichviel indes, ich werd ihn in Erstaunen setzen.«
Und wirklich, ehe noch das Hotel erreicht war, war auch schon eine von St. Arnaud gutgeheißene Verabredung getroffen, die Malerin am folgenden Tage nach Quedlinburg begleiten zu wollen. Cécile selbst hatte den Vorschlag dazu gemacht.
Ja, die nervenkranke Frau, die von ihrer Krankheit, und vor allem von einer Spezialisierung derselben, deren St. Arnaud sich schuldig gemacht hatte, nicht hören wollte, hatte sich tapfer gehalten; nichtsdestoweniger rächte sich, als sie wieder auf ihrem Zimmer war, das Maß von Überanstrengung, und ihren Hut beiseite werfend, streckte sie sich auf eine Chaiselongue, nicht schlaf-, aber ruhebedürftig.
Als sie sich wieder erhob, fragte St. Arnaud »ob man das Souper auf dem großen Balkon nehmen wolle?« Cécile war aber dagegen und sprach den Wunsch aus, daß man allein bleibe. Der Kellner brachte denn auch eine Viertelstunde später das Teezeug und schob den Tisch an das offene Fenster, vor dem, weit drüben und zu Häupten der Berge, die Mondsichel leuchtete.
Hier saßen sie schweigend eine Weile. Dann sagte Cécile: »Was war das mit dem Spottnamen, dessen das Fräulein heute nachmittag erwähnte?«
»Du hast nie von Rosa Bonheur gehört?«
»Nein.«
St. Arnaud lächelte vor sich hin.
»Ist es etwas, das man wissen muß?«
»Je nachdem. Meinem persönlichen Geschmacke nach brauchen Damen überhaupt nichts zu wissen. Und jedenfalls lieber zuwenig als zuviel. Aber die Welt ist nun mal, wie sie ist, auch in diesem Stück, und verlangt, daß man dies und jenes wenigstens dem Namen nach kenne.«
»Du weißt...«
»Ich weiß alles. Und wenn ich dich so vor mir sehe, so gehörst du zu denen, die sich's schenken können... Bitte, noch eine halbe Tasse... Dich zu sehen ist eine Freude. Ja, lache nur; ich hab es gern, wenn du lachst... Also lassen wir das dumme Wissen. Und doch wär es gut, du könntest dich etwas mehr kümmern um diese Dinge, vor allem mehr sehen, mehr lesen.«
»Ich lese viel.«
»Aber nicht das Rechte. Da hab ich neulich einen Blick auf deinen Bücherschrank geworfen und war halb erschrocken über das, was ich da vorfand. Erst ein gelber französischer Roman. Nun, das möchte gehen. Aber daneben lag: ›Ehrenström, ein Lebensbild, oder die separatistische Bewegung in der Uckermark‹. Was soll das? Es ist zum Lachen und bare Traktätchenliteratur. Die bringt dich nicht weiter. Ob deine Seele Fortschritte dabei macht, weiß ich nicht; nehmen wir an ›ja‹, so fraglich es mir ist. Aber was hast du gesellschaftlich von Ehrenström? Ehrenström mag ein ausgezeichneter Mann gewesen sein, ich glaub es sogar aufrichtig und gönn ihm seinen Platz in Abrahams Schoß, aber für die Kreise, darin wir leben oder doch wenigstens leben sollten, für die Kreise bedeutet Ehrenström nichts, Rosa Bonheur aber sehr viel.«
Sie nickte zustimmend und abgespannt, wie fast immer, wenn irgend etwas, das nicht direkt mit ihrer Person oder ihren Neigungen zusammenhing, eingehender besprochen wurde. Sie wechselte deshalb rasch den Gesprächsgegenstand und sagte: »Gewiß, gewiß, es wird so sein. Fräulein Rosa scheint übrigens ein gutes Kind und dabei heiter. Vielleicht ein wenig mit Absicht. Denn die Männer lieben Heiterkeit, und Herr von Gordon wird alles, nur keine Ausnahme sein. Es schien mir vielmehr, als ob er sich für das plauderhafte Fräulein interessiere.«
»Nein, es schien mir umgekehrt, als ob er sich für die Dame interessiere, die wenig sprach und viel schwieg, wenigstens solange wir oben auf der Roßtrappe waren. Und ich kenne wen, dem es auch so schien und der es noch besser weiß als ich.«
»Glaubst du?« sagte Cécile, deren Züge sich plötzlich belebten, denn sie hatte nun gehört, was sie hören wollte. »Wie spät mag es sein? Ich bin angegriffen. Aber bringe noch ein Kissen, eine Rolle, daß wir noch einen Augenblick auf das Gebirge sehen und auf das Rauschen der Bode hören. Ist es nicht die Bode?«
»Freilich. Wir kamen ja durch das Bodetal. Alles Wasser hier herum ist die Bode.«
»Wohl, ich entsinne mich. Und wie klar die Sichel da vor uns steht. Das bedeutet schönes Wetter für unsre Partie. Herr von Gordon ist ein vorzüglicher Reisemarschall. Er spricht nur zuviel über Dinge, die nicht jeden interessieren, über Steppenwolf und Steppengeier und, was noch schlimmer ist, über Bilder von unbekannten Meistern. Ich kann Bildergespräche nicht leiden.«
»Ah, Cécile«, lachte St. Arnaud, »wie du dich verrätst! Ich glaube gar, du verlangst, er soll, als ob er noch in Indien wäre, den Säulenheiligen spielen und zehn Jahre lang nichts als deinen Namen sprechen. Es erheitert mich. Eifersüchtig. Und eifersüchtig auf wen?«
Und nun kam der andre Tag.
Es war eine Früh- oder doch Vormittagspartie, darauf hatte Gordon bestanden, und ehe noch der nach Quedlinburg abdampfende Zug über die letzten Dorf-Villen und die schöne Blutbuche des am andern Flußufer gelegenen Baron Bucheschen Parkes hinaus war, sagte Cécile, während sie die kleinen Füße gegen den Rücksitz stemmte: »Jetzt aber das Programm, Herr von Gordon. Versteht sich, nicht zu lang, nicht zu viel! Nicht wahr, Fräulein Rosa?«
Diese stimmte zu, freilich mehr aus Artigkeit als aus Überzeugung, weil sie, nach Art aller Berlinerinnen, am Lerntrieb litt und nie genug hören oder sehen konnte. Gordon gab übrigens die Versichrung, es gnädig machen zu wollen. Es seien vier Dinge da, darum sich's lediglich handeln könne: das Rathaus, die Kirche, dann das Schloß und endlich der Brühl.
»Der Brühl?« sagte Rosa. »Was soll uns der? Das ist ja die Straße, worin die Pelzhändler wohnen. Wenigstens in Leipzig.«
»Aber nicht in Quedlinburg, meine Gnädigste. Der Quedlinburger Brühl gibt sich ästhetischer und ist ein Tiergarten oder ein Bois de Boulogne mit schönen Bäumen und allerlei Bild- und Bauwerken. Carl Ritter, der berühmte Geograph, hat ein gußeisernes Denkmal darin und Klopstock ein Tempelchen mit Büste. Beide waren nämlich geborne Quedlinburger.«
»Also nach dem Brühl«, seufzte Cécile, die nicht den geringsten Sinn für Tempelchen und gußeiserne Monumente hatte. »Nach dem Brühl. Ist es weit von der Stadt?«
»Nein, meine gnädigste Frau, nicht weit. Aber weit oder nicht, wir können ihn fallenlassen, ich meine den Brühl, und auch das Rathaus, trotz seines steinernen Rolands und seines aus Brettern zusammengeschlagenen großen Kastens mit Vorlegeschloß, darin der Regensteiner, natürlich ein Buschklepper oder dergleichen, eine hübsche Weile gefangensaß.«
»Mit Vorlegeschloß«, wiederholte Cécile neugierig, die sich für den Regensteiner augenscheinlich mehr als für Klopstock interessierte. »Mit Vorlegeschloß. War es ein großer Kasten, darin man ihn einsperrte?«
»Nicht viel größer als eine Apfelkiste, weshalb mir auch, bei seinem Anblick, diese bevorzugten Versteckplätze meiner Jugend wieder in Erinnerung kamen, mit ihrem Glück und ihrem Grusel. Besonders mit ihrem Grusel. Denn wenn die Krampe zufiel und eingriff, so saß ich allemal voll Todesangst in dem stickigen Kasten, um kein Haarbreit besser als der Regensteiner. Aber der wirkliche Regensteiner (der übrigens kein Asthmatikus gewesen sein kann) ließ sich's, trotz Stickigkeit und Enge, nicht anfechten und steckte zwanzig Monate lang in dem Loch, ohne mehr Luft als die, die durch die spärlichen Ritzen eindrang. Und nur dann und wann kamen die Quedlinburger und wohl auch die Quedlinburgerinnen und sahen hinein und grinsten ihn an.«
»Und pikten ihn mit ihren Sonnenschirmen.«
»Ganz unzweifelhaft, meine gnädigste Frau. Zum mindesten sehr wahrscheinlich. Die Bourgeoisie, die nie tief aus dem Becher der Humanität trank, war gerade damals von einer besondren Abstinenz, und die liberale Geschichtsschreibung, verzeihen Sie diesen Exkurs, meine Gnädigste – greift in nichts so fehl als darin, daß sie den Bürger immer als Lamm und den Edelmann immer als Wolf schildert. ›Die Nürnberger henken keinen nich, sie hätten ihn denn zuvor‹, und dieser Milde huldigten auch die Quedlinburger. Aber wenn sie den zu Henkenden hatten, henkten sie ihn auch gewiß, und zwar mit allen Schikanen.«
St. Arnaud, dem jedes Wort aus der Seele gesprochen war, nickte beifällig und wollte den ihm sympathischen Gegenstand eben mit einigen Bemerkungen seinerseits begleiten, als der Zug hielt und ein paar Coupétüren geöffnet wurden.
»Ist dies Quedlinburg?« fragte Cécile.
»Nein, meine gnädigste Frau, dies ist Neinstedt, eine kleine Zwischenstation. Hier ist der Lindenhof, und was dasselbe sagen will, hier wohnen die Nathusiusse.«
»Die Nathusiusse? Wer sind die?« fragten a tempo beide Damen.
»Eine Frage«, lachte Gordon, »die die betreffende Familie sehr übel vermerken würde. Die gnädige Frau, deren Protestantismus mir, Pardon, einigen kleinen Anzeichen nach einigermaßen zweifelhaft erscheint, hat Absolution. Aber Fräulein Rosa, Berlinerin, ah, ah...«
»Keine Reprimande, keine Spöttereien. Einfach Antwort: wer sind die Nathusiusse?«
»Nun denn, die Nathusiusse sind viel und vielerlei; sie sind, ohne die Frage damit erschöpfen zu wollen, fromme Leute, literarische Leute, landwirtschaftliche Leute, politische Leute. Bücher, Kreuz-Zeitung, Rambouillet-Zucht, alles kommt in der Familie vor, und selbst die Geschichte von der aufgenommenen Stecknadel, die dann schließlich den Aufnehmer zum Millionär umschuf, ist dem Ahnherrn der Nathusiusse nicht erspart geblieben. Aber das bedeutet nichts, das ist eine alte Geschichte, denn in wenigstens sechs großen Städten, in denen ich gelebt habe, kam der Reichtum der Reichsten immer von einer Stecknadel her. Überhaupt sind die besten Geschichten uralt und überall zu Haus, also Welteigentum, und ich habe manche, von denen wir glaubten, daß sie zwischen Havel und Spree das Licht der Welt erblickten oder ohne die Gebrüder Grimm gar nicht existieren würden, in Tibet und am Himalaja wiedergefunden.«
Rosa wollte davon nichts wissen und stritt hartnäckig hin und her, bis das abermalige Halten des Zuges allem Streiten ein Ende machte.
»Quedlinburg, Quedlinburg!«
Und unsre Reisenden entstiegen ihrem Waggon und sahen dem Zuge nach, der sich, eine Minute später, rasch wieder in Bewegung setzte.
Achtes Kapitel
Die Sonne brannte heiß auf den Perron nieder, und Cécile, die, nach Art aller Nervösen, sehr empfindlich gegen extreme Temperaturverhältnisse war, suchte nach einer schattigen Stelle, bis Gordon endlich vorschlug, in die große Flurhalle des Bahnhofgebäudes eintreten und hier in aller Ruhe den in der Schwebe gebliebenen Schlachtplan feststellen zu wollen. Das geschah denn auch, und nachdem man, ebenso wie den Brühl, auch noch das Rathaus ohne lange Bedenken gestrichen hatte, kam man überein, sich an Schloß und Kirche genügen zu lassen. Beide, so versicherte Gordon, lägen dicht nebeneinander, und der Weg dahin, wenn man am Außenrande der Stadt bleibe, werde der gnädigen Frau nicht allzu beschwerlich fallen.
All das war rasch akzeptiert worden, die Damen nahmen noch ein Himbeerwasser, und eine Minute später schritt man bereits, nach Passierung eines von einer wahren Tropensonne beschienenen Vorplatzes, an der die Stadt in einem Halbbogen umfließenden und an beiden Ufern von prächtig alten Bäumen überschatteten Bode hin. Das Wasser plätscherte neben ihnen, die Lichter hüpften und tanzten um sie her, und mit Hülfe kleiner Brückenstege machte man sich das Vergnügen, die Flußseite zu wechseln, je nachdem hüben oder drüben der kühlere Schatten lag. Es war sehr entzückend, am entzückendsten aber da, wo die bis dicht an die Bode herantretenden Gärten einen Blick auf endlos scheinende Blumenbeete gestatteten, ähnlich jenen draußen vor der Stadt, die schon, während der Eisenbahnfahrt von Berlin bis Thale, Cécile bezaubert hatten. Auch heute wieder konnte sie sich nicht satt sehen an der oft ganze Muster bildenden Blumen- und Farbenpracht und fand es, gegen ihre Gewohnheit, sogar interessant, als Gordon, in allerhand Einzelheiten eingehend, von den zwei großen Gartenfirmen der Stadt sprach, die, mit ihren um die ganze Welt gehenden Quedlinburger Blumensamenpaketen, ein Vermögen erworben und sich den Zucker-Millionären in der Umgegend mindestens gleichgestellt hätten.
»Ei, das freut mich. Zucker-Millionäre! Wie hübsch das klingt.« Und dabei blieb sie stehen und sah, durch ein goldbronziertes Gitter, einen der breiten Gartenstege hinauf. »Das lila Beet da, das sind Levkojen, nicht wahr?«
»Und das rote«, fragte Rosa, »was ist das?«
»Das ist ›Brennende Liebe‹.«
»Mein Gott, so viel.«
»Und doch immer noch unter der Nachfrage. Muß ich Ihnen sagen, meine Gnädigste, wie stark der Konsum ist?«
»Ah«, sagte Cécile mit etwas plötzlich Aufleuchtendem in ihrem Auge, das dem sie scharf beobachtenden Gordon nicht entging und ihn, mehr als all seine bisherigen Wahrnehmungen, über ihre ganz auf Huldigung und Pikanterie gestellte Natur aufklärte. Der Eindruck, den er von diesem fein-sinnlichen Wesen hatte, war aber ein angenehmer, ihm überaus sympathischer, und eine lebhafte Teilnahme, darin sich etwas von Wehmut mischte, regte sich plötzlich in seinem Herzen.
Von der Stelle, wo man stand, bis zu dem hochgelegenen Stadtteile, der mit Schloß und Kirche das ihm zu Füßen liegende Quedlinburg beherrscht, war nur noch ein kurzer Weg, und ehe man hundert Schritte gemacht hatte, begann bereits die Steigung. Diese selbst war beschwerlich, die malerisch-mittelalterlichen Häuser aber, die, nesterartig, zu beiden Seiten der zur Höhe hinaufführenden Straße klebten, erhielten Cécile bei Mut, und als sie bald danach auf einen von stattlichen Häusern gebildeten und zu weitrer Verschönerung auch noch von alten Nußbäumen überschatteten Platz hinaustrat, kam ihr zu dem Mut auch alle Kraft und gute Laune wieder, die sie gleich zu Beginn des Spazierganges an der Bode hin gehabt hatte.
»Das ist das Klopstock-Haus«, sagte Gordon und zeigte, seine Führerrolle wieder aufnehmend, auf ein etwas zur Seite gelegenes und beinah grasgrün getünchtes Haus mit Säulenvorbau.
»Das Klopstock-Haus?« wiederholte Cécile. »Sagten Sie nicht, es stände... Wie hieß es doch?«
»Im Brühl. Ja, meine gnädigste Frau. Aber da läuft eine kleine Verwechslung mit unter. Was im Brühl steht, das ist das Klopstock-Tempelchen mit der Klopstock-Büste. Dies hier ist das eigentliche Klopstock-Haus, das Haus, darin er geboren wurde. Wie gefällt es Ihnen?«
»Es ist so grün.«
Rosa lachte lauter und herzlicher, als die Schicklichkeit gestattete, sofort aber wahrnehmend, daß Cécile sich verfärbte, lenkte sie wieder ein und sagte: »Pardon, aber Sie haben mir so ganz aus der Seele gesprochen, meine gnädigste Frau. Wirklich, es ist zu grün. Und nun excelsior! Immer höher hinauf. Sind es noch viele Stufen?«
Unter solchem Gespräch erstiegen alle das noch verbleibende Stück Weges, eine gepflasterte Treppe, deren Seitenwände dicht genug standen, um gegen die Sonne Schutz zu geben.
Und nun war man oben und freute sich, aufatmend, der Brise, die ging. Der Platz, den man erreicht hatte, war ein mäßig breiter, Schloß und Abteikirche voneinander scheidender Hof, der, außer den auf ihm lagernden Schatten und Lichtern, nichts als zwei Männer zeigte, die, wie Besuch erwartende Gastwirte, vor ihren zwei Lokalen standen. Wirklich, es waren Kastellan und Küster, die zwar nicht mit haßentstellten, aber doch immerhin mit unruhigen Gesichtern abwarteten, nach welcher Seite hin die Schale sich neigen würde, worüber in der Tat selbst bei denen, die die Entscheidung hatten, immer noch ein Zweifel waltete.
Besichtigung von Schloß und Kirche, so lautete das Programm, das stand fest, und daran war nicht zu rütteln. Aber was noch schwebte, war die Prioritätsfrage. Gordon und St. Arnaud sahen sich also fragend an. Endlich entschied der Oberst mit einem Anfluge von Ironie dahin, daß Herrendienst vor Gottesdienst gehe, welchem Entscheide Gordon in gleichem Tone hinzusetzte: »Preußen-Moral! Aber wir sind ja Preußen.«
Und so wandte man sich denn rasch entschlossen dem Kastellan zu, freilich nicht ohne sein Vis-à-vis, den nach links hin stehenden Küster, mit einem hoffnunggebenden Gruße gestreift zu haben. Er verneigte sich denn auch in Erwiderung darauf verbindlich lächelnd und schien alles in allem nicht unzufrieden über diesen Gang der Dinge. Denn unten in der Stadtkirche läuteten eben die Mittagsglocken, und etwas Bratwurstartiges, das von der Küche her durch die Luft zog, ließ das »In die zweite Linie gestellt werden« fast als einen Vorzug erscheinen.
Unter diesen Vorgängen, die nur von Rosa scharf beobachtet und mit Künstlerauge gewürdigt worden waren, waren alle vier in den Schloßflur eingetreten, an dem respektvoll die Honneurs machenden Kastellan vorüber. Dieser, ein freundlicher und angenehmer Mann, nahm durch seine Freundlichkeit sofort für sich ein, fiel aber andererseits durch ein unsichres und fast ein schlechtes Gewissen verratendes Auftreten einigermaßen auf, ganz wie jemand, der Lotterielose feilbietet, von denen er weiß, daß es Nieten sind. Und wirklich, sein Schloß konnte, durch alle Räume hin, als eine wahre Musterniete gelten. Was es vordem an Kostbarkeiten besessen hatte, war längst fort, und so lag ihm, dem Hüter ehemaliger Herrlichkeit, nur ob, über Dinge zu sprechen, die nicht mehr da waren. Eine nicht leichte Pflicht. Er unterzog sich derselben aber mit vielem Geschick, indem er den herkömmlichen, an vorhandene Sehenswürdigkeiten anknüpfenden Kastellans-Vortrag in einen umgekehrt sich mit dem Verschwundenen beschäftigenden Geschichts-Vortrag umwandelte. Voll richtigen Instinkts ersah er hierbei den Wert der historischen Anekdote, die denn auch beständig aus der Verlegenheit helfen mußte.
Rosa, deren Wißbegier auf ganze Säle voll Rubens' und Snyders', voll Wouvermans und Potters rechnete, hielt sich selbstverständlich unausgesetzt in der Nähe des Kastellans und mühte sich, durch allerlei klug gestellte Fragen seine besondre Teilnahme zu wecken.
»Und in diesen Räumen also haben die Quedlinburger Äbtissinnen residiert?« begann sie mit erheucheltem Interesse, denn es lag ihr ungleich mehr an Bärenhatz und Sechzehnendern als an Porträts mit Pompadourfrisuren. »In diesen Räumen also...«
»Ja, meine gnädigste Frau«, antwortete der Kastellan, der unsre Freundin um ihres muntern Wesens und vielleicht auch um ihres Embonpoints willen für eine glücklich verheiratete Dame nahm. »Ja, meine gnädigste Frau, wirklich residiert, das heißt mit Hofstaat und Krone. Denn die Quedlinburger Äbtissinnen waren nicht gewöhnliche Kloster-Äbtissinnen, sondern Fürst-Abbatissinnen und saßen von Mechtildis, Schwester Ottos des Großen, an bei den Reichsversammlungen auf der Fürstenbank. Und hier im Schlosse war auch der Thronsaal. Es ist der Saal nebenan, in welchem ich die gnädige Frau vorweg bitten möchte, die roten Damasttapeten beachten zu wollen. Es ist Damast von Arras.«