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Neben ihr erscheint der Mann, der „Berlinerblaufabrikant mit einem Ratstitel“, dem es nicht gelingen will, Generalkonsul oder „Geheimer“ Kommerzienrat zu werden, obwohl er zu den „geachtetsten Berliner Industriellen“ zählt, zunächst sympathischer, schon weil ihm die falsche Romantik abgeht. Aber auch der alte Treibel, der absolut an den „Ufern der wendischen Spree“ als Vertreter einer neuen Partei mit nebelhaften Zielen „Singer27 oder einen anderen von der Couleur28“, d. h. einen Sozialdemokraten, beiseiteschieben möchte, als „Bürger und Patriot“, und der sich dazu der Hilfe des Leutnants a. D.29 Vogelsang, eines obskuren Ehrenmannes, der in manchem als vorweggenommener Nazi erscheint, bedient, freilich ohne Erfolg — auch der joviale und auch äußerlich nüchterne alte Treibel kann nicht über seinen Schatten springen, bleibt, was er ist. „Und konnte es anders sein? Der gute Treibel, er war doch auch seinerseits das Produkt dreier im Fabrikbetrieb immer reicher gewordenen Generationen, und aller guten Geistes- und Herzensanlagen ungeachtet und trotz seines politischen Gastspiels auf der Bühne Teupitz-Zossen30 — der Bourgeois steckte ihm wie seiner sentimentalen Frau tief im Geblüt.“
Wie steht es nun mit den Gegenspielern des Paares? Corinna Schmidt, mit ihren 25 nach den Begriffen der Zeit schon nahe am „späten Mädchen“, aber klug und eine „aparte31“ Person, hat den „Hang nach Wohlleben, der jetzt alle Welt beherrscht“, sie kennt die kleinen Verhältnisse zu gut, um dafür zu schwärmen und sie hat ihr „bestimmtes Ziel“, nämlich aus diesen Verhältnissen herauszukommen — um dann freilich, nicht zuletzt unter dem Einfluss der braven, von Fontane prächtig gezeichneten Wirtschafterin und Schutzmannswitwe Schmolke, einzusehen, dass dieses Ziel durch eine erzwungene Ehe mit der „Suse“ Leopold Treibel nicht zu erreichen ist und, wenn auch mit einiger Resignation, den Vetter und Jugendkameraden, den Oberlehrer Marcell Wedderkopp, zu heiraten. Der eigentliche Gegenspieler Jenny Treibels aber ist der Vater Willibald Schmidt, Professor am Großen Kurfürsten-Gymnasium. Mit ihm hat schon das „halbwachsen Ding mit kastanienbraunen Locken“ seinen Mutwillen getrieben, um dem Lehramtskandidaten mit den bescheidenen Aussichten dann den ungleich mehr versprechenden Treibel vorzuziehen; mit ihm spielt die bald 60jährige nach vierzig Jahren noch das alte Spiel, bis es gilt, Farbe zu bekennen, bis aus dem Jonglieren mit Gefühlen in ihrem ureigensten Bezirk Wirklichkeit zu werden droht. Da ist ihre Demaskierung eine vollständige. Angesichts der brutalen Art und Weise aber wie die „alte Freundin“ diese Demaskierung vornimmt, wie sie die bourgeoise Devise „Gold ist Trumpf und weiter nichts“ gegen ihn und die Tochter kehrt, wie sie die Kluft zwischen den Treibelschen Millionen und einem Gymnasialprofessor aufreißt, bricht Schmidt in die Worte aus: „Corinna, wenn ich nicht Professor wäre, so würd ich am Ende Sozialdemokrat.“ Und die hinzukommende Schmolke, die nur das Letzte gehört hat, bestätigt: „Ja, das hat Schmolke auch immer gesagt.“ Dabei hatte der selige Schmolke im 1. Garderegiment in Potsdam gedient. Hier ist ohne Zweifel der Höhepunkt des Romans. Denn wie aufreizend mussten Herrschaft und Gebaren dieser Bourgeoisie erst auf die Arbeiter wirken, wenn sogar der loyale Schulmann und der altgediente Unteroffizier, beide doch „Säulen“ des preußischen Staates, zu einer solchen Erkenntnis kamen! Sie bleibt freilich theoretisch; Schmidt zieht die Konsequenzen nicht, kann sie nicht ziehen. Denn er ist und bleibt der Professor Schmidt, dessen Vater ein mit dem Roten Adler-Orden vierter Güte geschmückter Rechnungsrat war, und der selbst mit seinen altphilologischen Interessen dem wirklichen Leben viel zu fern steht, im alten Troja und Mykenä mehr zu Hause ist als in Berlin. Und so wenig er sonst mit Schmidt, dem Freund „großer Sätze“, gemeinsam bat — ähnlich war es wohl auch mit Fontane. Auch seiner Er- und Verbitterung über die „Treibelei“ aller Art, über die brutale bourgeoise Oberhebung, die er mit ansah und die auch ihm, mindestens gelegentlich, zu verstehen gab, dass er nur ein Habenichts war, ist in diesem Ausbruch Schmidts beschlossen. Auch er wäre wohl „am Ende“ Sozialdemokrat geworden — wenn, ja wenn er eben nicht Fontane gewesen wäre, der Fontane der Balladen und der „Wanderungen“, des Friedrich-, Seydlitz-, Louis Ferdinand- usw. Kultes, auch er in seiner Weise eine Säule, ein altgedienter Fahnenträger des alten Preußen, auch wenn er es dann und wann „entsetzlich“ fand — und wenn er weiter nicht jeder entschiedenen Stellungnahme so abhold, wenn er nicht so ausgesprochen „für Frieden und Kompromisse“ gewesen wäre, und sei es auf Kosten besserer, innerer Erkenntnis, ein so abgesagter Feind der peinlichen Menschen, die alles zur „Gesinnungssache“ machten, im Leben. Eben: wenn…
Ch. Coler
I.
An einem der letzten Maitage, das Wetter war schon sommerlich, bog ein zurückgeschlagener Landauer vom Spittelmarkt her in die Kur- und dann in die Adlerstraße32 ein und hielt gleich danach vor einem, trotz seiner Front von nur fünf Fenstern, ziemlich ansehnlichen, im Übrigen aber altmodischen Hause, dem ein neuer, gelbbrauner Ölfarbenanstrich wohl etwas mehr Sauberkeit, aber keine Spur von gesteigerter Schönheit gegeben hatte, beinahe das Gegenteil. Im Fond des Wagens saßen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen, das sich der hell und warm scheinenden Sonne zu freuen schien. Die links sitzende Dame von etwa dreißig, augenscheinlich eine Erzieherin oder Gesellschafterin, öffnete von ihrem Platz aus zunächst den Wagenschlag und war dann der anderen, mit Geschmack und Sorglichkeit gekleideten und trotz ihrer hohen Fünfzig noch sehr gut aussehenden Dame beim Aussteigen behilflich. Gleich danach aber nahm die Gesellschafterin ihren Platz wieder ein, während die ältere Dame auf eine Vortreppe zuschritt und nach Passieren derselben in den Hausflur eintrat. Von diesem aus stieg sie, so schnell ihre Korpulenz es zuließ, eine Holzstiege mit abgelaufenen Stufen hinauf, unten von sehr wenig Licht, weiter oben aber von einer schweren Luft umgeben, die man füglich als eine Doppelluft bezeichnen konnte. Gerade der Stelle gegenüber, wo die Treppe mündete, befand sich eine Entreetür33 mit Guckloch, und neben diesem ein grünes, knitteriges Blechschild, darauf „Professor Willibald Schmidt“ ziemlich undeutlich zu lesen war. Die ein wenig asthmatische Dame fühlte zunächst das Bedürfnis, sich auszuruhen, und musterte bei der Gelegenheit den ihr übrigens von langer Zeit her bekannten Vorflur, der vier gelbgestrichene Wände mit etlichen Haken und Riegeln und dazwischen einen hölzernen Halbmond zum Bürsten und Ausklopfen der Röcke zeigte. Dazu wehte, der ganzen Atmosphäre auch hier den Charakter gebend, von einem nach hinten zu führenden Korridor her ein sonderbarer Küchengeruch heran, der, wenn nicht alles täuschte, nur auf Rührkartoffeln und Karbonade34 gedeutet werden konnte, beides mit Seifenwrasen untermischt. „Also kleine Wäsche,“ sagte die von dem allem wieder ganz eigentümlich berührte stattliche Dame still vor sich hin, während sie zugleich weit zurückliegender Tage gedachte, wo sie selbst hier, in eben dieser Adlerstraße gewohnt und in dem gerade gegenüber gelegenen Materialwarenladen ihres Vaters mit im Geschäft geholfen und auf einem über zwei Kaffeesäcke gelegten Brett kleine und große Tüten geklebt hatte, was ihr jedes Mal mit „zwei Pfennig fürs Hundert“ gutgetan worden war. „Eigentlich viel zu viel, Jenny“, pflegte dann der Alte zu sagen, „aber du sollst mit Geld umgehen lernen.“ Ach, waren das Zeiten gewesen! Mittags Schlag zwölf, wenn man zu Tisch ging, saß sie zwischen dem Kommis Herrn Mielke und dem Lehrling Louis, die beide, so verschieden sie sonst waren, dieselbe hochstehende Kammtolle und dieselben erfrorenen Hände hatten. Und Louis schielte bewundernd nach ihr hinüber, aber wurde jedes Mal verlegen, wenn er sich auf seinen Blicken ertappt sah. Denn er war zu niedrigen Standes, aus einem Obstkeller in der Spreegasse. Ja, das alles stand jetzt wieder vor ihrer Seele, während sie sich auf dem Flur umsah und endlich die Klingel neben der Tür zog. Der überall verbogene Draht raschelte denn auch, aber kein Anschlag ließ sich hören, und so fasste sie schließlich den Klingelgriff noch einmal und zog stärker. Jetzt klang auch ein Bimmelton von der Küche her bis auf den Flur herüber und ein paar Augenblicke später ließ sich erkennen, dass eine hinter dem Guckloch befindliche kleine Holzklappe beiseitegeschoben wurde. Sehr wahrscheinlich war es des Professors Wirtschafterin, die jetzt, von ihrem Beobachtungsposten aus, nach Freund oder Feind aussah, und als diese Beobachtung ergeben hatte, dass es „gut Freund“ sei, wurde der Türriegel ziemlich geräuschvoll zurückgeschoben, und eine ramassierte35 Frau von ausgangs vierzig, mit einem ansehnlichen Haubenbau auf ihrem vom Herdfeuer geröteten Gesicht, stand vor ihr.
„Ach, Frau Treibel...Frau Kommerzienrätin...Welche Ehre.“
„Guten Tag, liebe Frau Schmolke. Was macht der Professor? Und was macht Fräulein Corinna? Ist das Fräulein zu Hause?“
„Ja, Frau Kommerzienrätin. Eben wieder nach Hause gekommen aus der Philharmonie. Wie wird sie sich freuen.“
Und dabei trat Frau Schmolke zur Seite, um den Weg nach dem einfenstrigen, zwischen den zwei Vorderstuben gelegenen und mit einem schmalen Leinwandläufer belegten Entree freizugeben. Aber ehe die Kommerzienrätin noch eintreten konnte, kam ihr Fräulein Corinna schon entgegen und führte die „mütterliche Freundin“, wie sich die Rätin gern selber nannte, nach rechts hin in das eine Vorderzimmer.
Dies war ein hübscher, hoher Raum, die Jalousien herabgelassen, die Fenster nach innen auf, vor deren einem eine Blumenestrade mit Goldlack und Hyazinthen stand. Auf dem Sofatische präsentierte sich gleichzeitig eine Glasschale mit Apfelsinen, und die Porträts der Eltern des Professors, des Rechnungsrats Schmidt aus der Heroldskammer und seiner Frau, geb. Schwerin, sahen auf die Glasschale hernieder — der alte Rechnungsrat in Frack und rotem Adlerorden, die geborene Schwerin mit starken Backenknochen und Stupsnase, was, trotz einer ausgesprochenen Bürgerlichkeit, immer noch mehr auf die pommersch-uckermärkischen36 Träger des berühmten Namen, als auf die spätere, oder, wenn man will, auch viel frühere, posensche37 Linie hindeutete.
„Liebe Corinna, wie nett du dies alles zu machen verstehst und wie hübsch es doch bei euch ist, so kühl und so frisch — und die schönen Hyazinthen. Mit den Apfelsinen verträgt es sich
freilich nicht recht, aber das tut nichts, es sieht so gut aus...Und nun legst du mir in deiner Sorglichkeit auch noch das Sofakissen zurecht! Aber verzeih, ich sitze nicht gern auf dem Sofa; das ist immer so weich, und man sinkt dabei so tief ein. Ich setze mich lieber hier in den Lehnstuhl und sehe zu den alten, lieben Gesichtern hinauf. Ach, war das ein Mann; gerade wie dein Vater. Aber der alte Rechnungsrat war beinah noch verbindlicher, und einige sagten auch immer, er sei so gut wie von der Kolonie38. Was auch stimmte. Denn seine Großmutter, wie du freilich besser weißt als ich, war ja eine Charpentier, Stralauer Straße39.“
Unter diesen Worten hatte die Kommerzienrätin in einem hoben Lehnstuhle Platz genommen und sah mit dem Lorgnon nach den heben Gesichtern“ hinauf, deren sie sich ebenso huldvoll erinnert hatte, während Corinna fragte, ob sie nicht etwas Mosel und Selterwasser bringen dürfe, es sei so heiß.
„Nein, Corinna, ich komme eben vom Lunch, und Selterwasser steigt mir immer so zu Kopf. Sonderbar, ich kann Sherry vertragen und auch Port, wenn er lange gelagert hat, aber Mosel und Selterwasser, das benimmt mich...Ja, sieh Kind, dies Zimmer hier, das kenne ich nun schon vierzig Jahre und darüber, noch aus Zeiten her, wo ich ein halbwachsen Ding war, mit kastanienbraunen Locken, die meine Mutter, so viel sie sonst zu tun hatte, doch immer mit rührender Sorgfalt wickelte. Denn damals, meine liebe Corinna, war das Rotblonde noch nicht so Mode wie jetzt, aber kastanienbraun galt schön, besonders wenn es Locken waren, und die Leute sahen mich auch immer darauf an. Und dein Vater auch. Er war damals ein Student und dichtete. Du wirst es kaum glauben, wie reizend und wie rührend das alles war, denn die Kinder wollen es immer nicht wahr haben, dass die Eltern auch einmal jung waren und gut aussahen und ihre Talente hatten. Und ein paar Gedichte waren an mich gerichtet, die hab ich mir aufgehoben bis diesen Tag, und wenn mir schwer ums Herz ist, dann nehme ich das kleine Buch, das ursprünglich einen blauen Deckel hatte (jetzt aber hab ich es in grünen Maroquin binden lassen) und setze mich ans Fenster und sehe auf unsern Garten und weine mich still aus, ganz still, dass es niemand sieht am wenigsten Treibel oder die Kinder. Ach Jugend! Meine liebe Corinna, du weißt gar nicht, welch ein Schatz die Jugend ist, und wie die reinen Gefühle, die noch kein rauer Hauch getrübt hat, doch unser Bestes sind und bleiben.“
„Ja“, lachte Corinna, „die Jugend ist gut. Aber ‚Kommerzienrätin‘ ist auch gut und eigentlich noch besser. Ich bin für einen Landauer und einen Garten um die Villa herum. Und wenn Ostern ist und die Gäste kommen, natürlich recht viele, so werden Ostereier in dem Garten versteckt, und jedes Ei ist eine Attrappe voll Konfitüren von Hövell oder Kranzler, oder auch ein kleines Neçessaire40 ist drin. Und wenn dann all die Gäste die Eier gefunden haben, dann nimmt jeder Herr seine Dame, und man geht zu Tisch. Ich bin durchaus für Jugend, aber für Jugend mit Wohlleben und hübschen Gesellschaften.“
„Das höre ich gern, Corinna, wenigstens gerade jetzt; denn ich bin hier, um dich einzuladen, und zwar auf morgen schon; es hat sich so rasch gemacht. Ein junger Mr. Nelson ist nämlich bei Otto Treibels angekommen (das heißt aber, er wohnt nicht bei ihnen), ein Sohn von Nelson & Co. aus Liverpool, mit denen mein Sohn Otto seine Hauptgeschäftsverbindung hat. Und Helene kennt ihn auch. Das ist so hamburgisch, die kennen alle Engländer, und wenn sie sie nicht kennen, so tun sie wenigstens so. Mir unbegreiflich. Also Mr. Nelson, der übermorgen schon wieder abreist, um den handelt es sich; ein lieber Geschäftsfreund, den Ottos durchaus einladen mussten. Das verbot sich aber leider, weil Helene mal wieder Plätttag41 hat, was nach ihrer Meinung allem anderen vorgeht, sogar im Geschäft. Da haben wir‘s denn übernommen, offen gestanden nicht allzu gern, aber doch auch nicht geradezu ungern. Otto war nämlich, während seiner englischen Reise, wochenlang in dem Nelsonschen Hause zu Gast. Du siehst daraus, wie‘s steht und wie sehr mir an deinem Kommen liegen muss; du sprichst Englisch und hast alles gelesen und hast vorigen Winter auch Mr. Booth als Hamlet gesehen. Ich weiß noch recht gut, wie du davon schwärmtest. Und englische Politik und Geschichte wirst du natürlich auch wissen, dafür bist du ja deines Vaters Tochter.“
„Nicht viel weiß ich davon, nur ein bisschen. Ein bisschen lernt man ja.“
„Ja, jetzt, liebe Corinna. Du hast es gut gehabt, und alle haben es jetzt gut. Aber zu meiner Zeit, da war es anders, und wenn mir nicht der Himmel, dem ich dafür danke, das Herz für das Poetische gegeben hätte, was, wenn es mal in einem lebt, nicht wieder auszurotten ist, so hätte ich nichts gelernt und wüsste nichts. Aber Gott sei Dank, ich habe mich an Gedichten herangebildet und wenn man viele davon auswendig weiß, so weiß man doch manches. Und dass es so ist, sieh, das verdanke ich nächst Gott, der es in meine Seele pflanzte, deinem Vater. Der hat das Blümlein großgezogen, das sonst drüben in dem Ladengeschäft unter all den prosaischen Menschen — und du glaubst gar nicht, wie prosaische Menschen es gibt — verkümmert wäre...Wie geht es denn mit deinem Vater? Es muss ein Vierteljahr sein oder länger, dass ich ihn nicht gesehen habe, den 14. Februar, an Ottos Geburtstag. Aber er ging so früh, weil so viel gesungen wurde.“
„Ja, das liebt er nicht. Wenigstens dann nicht, wenn er damit überrascht wird. Es ist eine Schwäche von ihm, und manche nennen es eine Unart.“
„O, nicht doch, Corinna, das darfst du nicht sagen. Dein Vater ist bloß ein origineller Mann. Ich bin unglücklich, dass man seiner so selten habhaft werden kann. Ich hält ihn auch zu morgen gerne mit eingeladen, aber ich bezweifle, dass Mr. Nelson ihn interessiert, und von den anderen ist nun schon gar nicht zu sprechen; unser Freund Krola wird morgen wohl wieder singen und Assessor Goldammer seine Polizeigeschichten erzählen und sein Kunststück mit dem Hut und den zwei Talern machen.“
„O, da freu ich mich. Aber freilich, Papa tut sich nicht gerne Zwang an, und seine Bequemlichkeit und seine Pfeife sind ihm lieber als ein junger Engländer, der vielleicht dreimal um die Welt gefahren ist. Papa ist gut, aber einseitig und eigensinnig.“
„Das kann ich nicht zugeben, Corinna. Dein Papa ist ein Juwel, das weiß ich am besten.“
„Er unterschätzt alles Äußerliche, Besitz und Geld, und überhaupt alles, was schmückt und schön macht.“
„Nein, Corinna, sage das nicht. Er sieht das Leben von der richtigen Seite an; er weiß, dass Geld eine Last ist, und dass das Glück ganz wo anders liegt.“ Sie schwieg bei diesen Worten und seufzte nur leise. Dann aber fuhr sie fort: „Ach, meine liebe Corinna, glaube mir, kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht.“
Corinna lächelte. „Das sagen alle die, die drüber stehen und die kleinen Verhältnisse nicht kennen.“
„Ich kenne sie, Corinna.“
Ja, von früher her. Aber das liegt nun zurück und ist vergessen oder wohl gar verklärt. Eigentlich liegt es doch so: alles möchte reich sein, und ich verdenke es keinem. Papa freilich, der schwört noch auf die Geschichte von dem Kamel und dem Nadelöhr. Aber die junge Welt...“
„...Ist leider anders. Nur zu wahr. Aber so gewiss das ist, so ist es doch nicht so schlimm damit, wie du dir’s denkst. Es wäre auch zu traurig, wenn der Sinn für das Ideale verlorenginge, vor allem in der Jugend. Und in der Jugend lebt er auch noch. Da ist zum Beispiel dein Vetter Marcell, den du beiläufig morgen auch treffen wirst (er hat schon zugesagt), und an dem ich wirklich nichts weiter zu tadeln wüsste, als dass er Wedderkopp heißt. Wie kann ein so feiner Mann einen so störrischen Namen führen! Aber wie dem auch sein möge, wenn ich ihn bei Ottos treffe, so spreche ich immer so gern mit ihm. Und warum? Bloß weil er die Richtung hat, die man haben soll. Selbst unser guter Krola sagte mir erst neulich, Marcell sei eine von Grund aus ethische Natur, was er noch höher stelle als das Moralische; worin ich ihm, nach einigen Aufklärungen von seiner Seite, beistimmen musste. Nein, Corinna, gib den Sinn, der sich nach oben richtet, nicht auf, jenen Sinn, der von dorther allein das Heil erwartet. Ich habe nur meine beiden Söhne, Geschäftsleute, die den Weg ihres Vaters gehen, und ich muss es geschehen lassen; aber wenn mich Gott durch eine Tochter gesegnet hätte, die wäre mein gewesen auch im Geist, und wenn sich ihr Herz einem armen, aber edlen Manne, sagen wir einem Manne wie Marcell Wedderkopp, zugeneigt hätte...“
„...So wäre das ein Paar geworden“, lachte Corinna. „Der arme Marcell! Da hätte er nun sein Glück machen können, und muss gerade die Tochter fehlen.“
Die Kommerzienrätin nickte.
„Überhaupt ist es schade, dass es so selten klappt und passt“, fuhr Corinna fort. „Aber Gott sei Dank, gnädigste Frau haben ja noch den Leopold, jung und unverheiratet, und da Sie solche Macht über ihn haben — so wenigstens sagt er selbst, und sein Bruder Otto sagt es auch, und alle Welt sagt es — so könnte er Ihnen, da der ideale Schwiegersohn nun mal eine Unmöglichkeit ist, wenigstens eine ideale Schwiegertochter ins Haus führen, eine reizende, junge Person, vielleicht eine Schauspielerin...“ „Ich bin nicht für Schauspielerinnen...“
„Oder eine Malerin, oder eine Pastors- oder eine Professorentochter...“
Die Kommerzienrätin stutzte bei diesem letzten Worte und streifte Corinna stark, wenn auch flüchtig. Indessen wahrnehmend, dass diese heiter und unbefangen blieb, schwand ihre Furchtanwandlung ebenso schnell, wie sie gekommen war. „Ja, Leopold“, sagte sie, „den hab ich noch. Aber Leopold ist ein Kind. Und seine Verheiratung steht jedenfalls noch in weiter Ferne. Wenn er aber käme...“ Und die Kommerzienrätin schien sich allen Ernstes — vielleicht weil es sich um etwas noch „in so weiter Ferne“ Liegendes handelte — der Vision einer idealen Schwiegertochter hingeben zu wollen, kam aber nicht dazu, weil in eben diesem Augenblicke der aus seiner Obersekunda kommende Professor eintrat und seine Freundin, die Rätin, mit vieler Artigkeit begrüßte.
„Stör ich?“
„In Ihrem eigenen Hause? Nein, lieber Professor; Sie können überhaupt nie stören. Mit Ihnen kommt immer wieder das Licht. Und wie Sie waren, so sind Sie geblieben. Aber mit Corinna bin ich nicht zufrieden. Sie spricht so modern und verleugnet ihren Vater, der immer nur in einer schönen Gedankenwelt lebte...“
„Nun ja, ja“, sagte der Professor. „Man kann es so nennen. Aber ich denke, sie wird sich noch wieder zurückfinden. Freilich, einen Stich ins Moderne wird sie wohl behalten. Schade. Das war anders, als wir jung waren, da lebte man noch in Phantasie und Dichtung...“
Er sagte das so hin, mit einem gewissen Pathos, als ob er seinen Sekundanern eine besondere Schönheit aus dem Horaz42 oder aus dem Parcival43 (denn er war Klassiker und Romantiker zugleich) zu demonstrieren hätte. Sein Pathos war aber doch etwas theatralisch gehalten und mit einer feinen Ironie gemischt, die die Kommerzienrätin auch klug genug war herauszuhören. Sie hielt es indessen trotzdem für angezeigt, einen guten Glauben zu zeigen, nickte deshalb nur und sagte: „Ja, schöne Tage, die nie wiederkehren.“
„Nein“, sagte der in seiner Rolle mit dem Ernst eines Großinquisitors fortfahrende Willibald. „Es ist vorbei damit; aber man muss eben weiterleben.“
Eine halbverlegene Stille trat ein, während welcher man, von der Straße her, einen scharfen Peitschenknips hörte.
„Das ist ein Mahnzeichen“, warf jetzt die Kommerzienrätin ein, eigentlich froh der Unterbrechung. „Johann unten wird ungeduldig. Und wer hätte den Mut, es mit einem solchen Machthaber zu verderben.“
„Niemand“, erwiderte Schmidt. „An der guten Laune unserer Umgebung hängt unser Lebensglück; ein Minister bedeutet mir wenig, aber die Schmolke...“
„Sie treffen es wie immer, lieber Freund.“
Und unter diesen Worten erhob sich die Kommerzienrätin und gab Corinna einen Kuss auf die Stirn, während sie Willibald die Hand reichte. „Mit uns, lieber Professor, bleibt es beim Alten, unentwegt.“ Und damit verließ sie das Zimmer, von Corinna bis auf den Flur und die Straße begleitet.
„Unentwegt“, wiederholte Willibald, als er allein war. „Herrliches Modewort, und nun auch schon bis in die Villa Treibel gedrungen...Eigentlich ist meine Freundin Jenny noch gerade so wie vor vierzig Jahren, wo sie die kastanienbraunen Locken schüttelte. Das Sentimentale liebte sie schon damals, aber doch immer unter Bevorzugung von Kurmachen und Schlagsahne.
Jetzt ist sie nun rundlich geworden und beinah gebildet, oder doch, was man so gebildet zu nennen pflegt, und Adolar Krola trägt ihr Arien aus Lohengrin und Tannhäuser vor. Denn ich denke mir, dass das ihre Lieblingsopern sind. Ach, ihre Mutter, die gute Frau Bürstenbinder, die das Püppchen drüben im Apfelsinenladen immer so hübsch herauszuputzen wusste, sie hat in ihrer Weiberklugheit damals ganz richtig gerechnet. Nun ist das Püppchen eine Kommerzienrätin und kann sich alles gönnen, auch das Ideale, und sogar ‚unentwegt‘. Ein Musterstück von einer Bourgeoise.“
Und dabei trat er ans Fenster, hob die Jalousien ein wenig und sah, wie Corinna, nachdem die Kommerzienrätin ihren Sitz wieder eingenommen hatte, den Wagenschlag ins Schloss warf. Noch ein gegenseitiger Gruß, an dem die Gesellschaftsdame mit sauersüßer Miene teilnahm, und die Pferde zogen an und trabten langsam auf die nach der Spree hin gelegene Ausfahrt zu, weil es schwer war, in der engen Adlerstraße zu wenden.
Als Corinna wieder oben war, sagte sie: „Du hast doch nichts dagegen, Papa? Ich bin morgen bei Treibels zu Tisch geladen. Marcell ist auch da und ein junger Engländer, der sogar Nelson heißt.“
„Ich was dagegen? Gott bewahre. Wie könnt ich was dagegen haben, wenn ein Mensch sich amüsieren will. Ich nehme an, du amüsierst dich.“
„Gewiss amüsiere ich mich. Es ist doch mal was anderes. Was Distelkamp sagt und Rindfleisch und der kleine Friedeberg, das weiß ich ja schon alles auswendig. Aber was Nelson sagen wird, denk dir, Nelson, das weiß ich nicht.“