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Unmittelbar neben der alten Kirche liegt das Gefängnis von Canongate, ein wenigstens um etwas bemerkenswerterer Bau, wenn auch nur seiner lateinischen Inschrift halber. Dieselbe lautet: »Sic itur ad astra«, als ob der Weg durch das Canongate-Gefängnis eine besondere Anwartschaft auf den Himmel böte. Niemand in Edinburg hat mir diesen Widersinn erklären können. Vielleicht, daß das Gebäude in alten Zeiten einem völlig verschiedenen Zwecke gedient hat.
Das Haus von John Knox
Wir haben jetzt Canongate passiert, d. h. haben den am Hügelabhang liegenden Teil der großen Verbindungsstraße zwischen Holyrood-Palace und Edinburg-Castle hinter uns und treten jetzt da, wo die Straße den Hügelrücken erreicht hat und in horizontaler Linie sich fortzusetzen beginnt, in High-Street ein. An dieser Stelle nimmt die eigentliche Altstadt Edinburg ihren Anfang. Hier befand sich in früheren Jahren, wenn ich nicht irre, ein Tor, das die eigentliche Stadt von der Vorstadt schied, ähnlich wie sich Temple-Bar noch jetzt zwischen City und Westminster, oder die Porte St. Martin zwischen der Stadt und dem Faubourg erhebt. Gleich das erste Haus, das wir zur Rechten haben, wo Canongate sich plötzlich in die breitere High-Street erweitert und dadurch eine Art Eckhaus bildet, ist ein Gebäude von hohem Interesse. In diesem Hause lebte John Knox. »Und dies dieselbe High-Street«, so sagten wir uns, »die der mutige Mann so oft und so freudig entlang schritt, um in der alten St.-Giles-Kirche den Zorn Gottes auf die 'Gottlosen' herabzurufen!« - »Und dies dasselbe Canongate«, so setzten wir hinzu, »das er zögernd hinabstieg, wenn es andern Tags galt, die Drohworte von St. Giles vor der Königin in Holyrood-Palace zu entschuldigen oder – zu wiederholen!« Das Gebäude, wie es da ist, läßt an altem Ansehn nichts zu wünschen übrig, dennoch ist es, soviel ich weiß, eine Art Kunstprodukt, zu dessen Herstellung man im Lauf der letzten zehn Jahre geschritten ist. Man kam zu einer Art Kompromiß und behing sozusagen einen neu hergestellten Leib mit den alten Kleidern. Wie man von baufälligen Kirchen eine Reihe von Freskobildern loszulösen und diese Bilder dann neuaufgerichteten Wänden wieder anzufügen versteht, so hat man auch das alte Haus des John Knox einem unerläßlich gewordenen Umbau zu unterwerfen gewußt, ohne dadurch die Formen und Verhältnisse des Hauses zu zerstören oder gar gewisse Apartheiten und Ornamente desselben zu beseitigen. Die Weise, in der dabei von seiten der Bauverständigen verfahren wird, entgeht zwar niemals den Angriffen der antiquarischen Enthusiasten, aber wer könnte ihnen genügen? Hier in London hab' ich vor kurzem den Beauchamp-TurmDer Beauchamp-Turm ist unter den vielen Türmen und Plätzen, die im Tower gezeigt werden, so ziemlich der interessanteste. Er diente während des 16. Jahrhunderts (unter den Tudors) als Staatsgefängnis. Im Jahre 1852, als ich ihn zuerst sah, war er noch wohlerhalten und allem Anschein nach durchaus intakt; das Hauptzimmer mit seinen zahlreichen in den Kalk gekratzten Sprüchen und Wappenbildern (Inschriften von den Dudleys, den Pooles etc.) machte den Eindruck völliger Echtheit. Seitdem hat man das Innere des Turms ganz umgebaut und in die Mörtelbekleidung der neuen Wände basreliefartig alle die alten, mit mehr oder mindrer Sorgfalt losgelösten Stücke eingefügt. Gegen das Prinzip, das diesem Verfahren zugrunde liegt, läßt sich gewiß nichts Erhebliches sagen, aber das »wie«, die Art der Ausführung, hätte allerdings eine sorglichere und pietätsvollere sein können. Man hat die historische Patina hinweggeputzt, ohne welche diese Dinge aufhören, sie selbst zu sein. (im Tower) nach einem ähnlichen Prinzip, wie oben beschrieben, restaurieren sehen. Die von außen wahrnehmbaren Sehenswürdigkeiten des John Knoxschen Hauses bestehen aus drei Dingen: erstens aus dem kleinen Eckfenster im ersten Stock, von wo herab der Reformator häufig zu dem unten versammelten Volk gesprochen haben soll; zweitens aus einer Inschrift, die da lautet: »Love God above all and your neighbour as yourself« (Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst), und drittens aus einer bunt bemalten kleinen Holzpuppe, die sich unmittelbar neben jenem Eckfenster befindet und den Reformator selber, wie er zum Volke predigt, darstellen soll. Diese Puppe, wahrscheinlich nicht älter als 50 Jahre, ist das Produkt guten Willens und wenig Geschmacks. Sie hat nur das Gute, daß sie das Haus in unverkennbarer Weise markiert und dem Fremden ein Führer oder Fingerzeig wird, ohne dessen Hilfe das ziemlich unscheinbare Haus unter einer Masse ähnlicher Baulichkeiten verschwinden würde.
High-Street weiter hinaufgehend, haben wir jetzt, zumal wenn wir uns auf der rechten Seite der Straße halten, einen Überblick über die drei Kirchen, die den Weg von Canongate bis Edinburg-Castle in drei fast gleiche Teile teilen und, ohne selber besonders schön zu sein, nicht wenig zu dem malerischen Effekt der ganzen Stadt beitragen. Vom Monumente Walter Scotts aus (siehe das zweite Kapitel), wo High-Street und Canongate im Profile vor uns liegen und eine Seiten-Vue gestatten, ist dieser Effekt freilich am größten, aber auch en face die Straße hinansteigend, so bald wir nur die eine Linie vermeiden, auf der die erste Kirche (Tron-Church) die beiden andren deckt, genießen wir eines prächtigen Anblicks.
Blick auf die Altstadt von Edinburg
Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit Tron-Church, haben diese alte, nichts Besonderes bietende Kirche unmittelbar zu unserer Linken und blicken nun, die Strecke bis zur St.-Giles-Kirche hinüberschauend, in den schönsten und historisch berühmtesten Teil von High-Street hinein. Die Dinge unterscheiden sich hier wesentlich von dem, was wir in Canongate gesehen. Die Häuser, die sich zu beiden Seiten der Straße erheben, sind ebenso alt oder noch älter als dort; die Leute, die drin leben, haben ebenso wenig oder noch weniger irgend etwas gemein mit jener Aristokratie, die hier wie dort einst ihre Paläste hatte; Schmutz, Armut und Hökerkram haben hier wie dort ihre Wohnung aufgeschlagen. Aber was den Unterschied macht, das ist das Massenhafte der Bauart, der wir hier begegnen. Die grauen Quaderhäuser mit breiten, vielfenstrigen Fronten steigen sechs und sieben Stock hoch in die Luft und geben der ganzen Straße das Ansehn einer Reihe von Palästen. Daß diese Paläste räuchrig und schmucklos, zum Teil schmutzig und halb verfallen sind, reicht nicht aus, der Straße diesen ihren Charakter zu nehmen. Die Häuser von Canongate gleichen vernachlässigten Sommerresidenzen, in denen der Adel früherer Jahrhunderte seinen temporären Aufenthalt nahm, hier auf dem Rücken des Hügels aber haben wir wirkliche Schlösser; hoch, fest, imposant. Diesen Charakter des Schloßartigen hat die Straße in so hohe Maße, daß die stattlichen Neubauten (Bank, Börse, Rathaus, Parlament) , die man hier und dort zu beiden Seiten der Straße aufgeführt hat, nicht imstande gewesen sind, den imponierenden Eindruck des Ganzen zu steigern – gegenteils. Ich komme später auf diesen Punkt zurück.
Die einzelnen Häuser, selbst die besten, zu beschreiben, ist nicht möglich. Was über sie zu sagen ist, das ist gesagt. Eines gleicht dem andern. Grau, steinern, schmucklos steigen sie in die Luft, unmalerisch einzeln, aber pittoresk als Ganzes und immer wirksam durch Masse und Proportion. Was ihnen bei genauerem Einblick einen aparten Zug verleiht, das sind die sogenannten »Engen«, jene wunderlichen Kreuzungsprodukte von Hof, Mauergang und Sackgasse, die unter dem Namen der »Closes von Edinburg« in ganz England eine Art von Notorität erlangt haben. Diese »Closes«, wie schon aus meiner obigen Umschreibung hervorgeht, sind nicht geradezu etwas Neues und Besondres. Neben jenem Mischlingscharakter, der sie allerdings eigentümlicher erscheinen läßt als sie sind, verdanken sie ihren Ruf wohl zumeist dem Umstande, daß es in ganz England wenig alte Städte gibt, d. h. Städte, die sich noch in ihrem ehemaligen alten Aufzuge der Welt präsentieren. In unseren alten deutschen Städten ist an solchen Closes kein Mangel; unsre »Höfe« in Wien, Augsburg, Leipzig, Danzig, sind im wesentlichen dasselbe. Noch ähnlicher sind ihnen die »Courts« in den alten Stadtteilen Londons: besonders am Strand, um Drury-Lane herum und in Fleet-Street. Die letztere Straße ist so reich daran, daß man sie der High-Street von Edinburg fast an die Seite setzen könnte. Aber was diesen Closes, weit über ihren eigentlichen Anspruch hinaus, wenigstens den Schein von etwas Besonderem leiht, das ist ihre ganz aparte Enge. Man passiert zuerst einen schmalen, überwölbten, leider oft als Rinnstein dienenden Gang, der sich durch die ganze Tiefe des Hauses zieht, etwa wie ein Festungstor durch die ganze Tiefe der Mauer läuft. Hat man, nach vorsorglicher Applizierung eines Taschentuches, diesen im Dunkeln fließenden Schleichbach hinter sich, so steht man auf einem mal stein-, mal fliesenbedeckten Hofe, der bei der Höhe der Häuser, die ihn dicht umschließen, mehr einem Rauchfang als einem Hofe gleicht. Treppen münden hier aus, unbeschreiblicher Schutt und Hausrat liegt in den Winkeln umher, und durch alle Etagen hindurch hängt Wäsche an Stöcken und Stangen zum Fenster hinaus. Wieviel Tage die letztere braucht, um hier ohne Luft und Licht zu trocknen, hätt' ich gern erfahren. Das sind die Closes von Edinburg. Sie zu betreten ist mißlich; aber von der Straße aus durch den dunklen schmalen Gang hindurch in den Hof und sein Getreibe hineinzublicken, verlohnt sich doch der Mühe. Neben manchem bloß Pikanten bietet sich auch Malerisches und durch Reiz und Schönheit Fesselndes dar. Ich entsinne mich einzelner Häuser, in denen der schmale Gang des Vorderhauses sich über den Hof fort noch durch die ganze Tiefe des Hinterhauses zog. In einem anderen Falle lief neben dem letzteren eine offene, als Garten benutzte Passage her. Dieser Gartenstreifen, kaum vier Fuß breit, hatte nach vorn hin eine Gittertür; ein dahinterstehender Rosenstrauch reichte seine Rosen durch die Eisenstäbe hindurch in den Hof hinein, über Gitter und Strauch aber schwebte ein Stück Himmel, auf dessen blauem Hintergrunde sich das bunte Leben von Princes-Street wie ein Camera-obscura-Bild auf und ab bewegte. Auf dem Wege von Tron-Church bis St. Giles haben wir das eigentliche High-Street-Leben um uns her. Wenig Fuhrwerk auf dem Straßendamme, aber desto mehr Verkehr auf dem Trottoir und dem Bürgersteige. In den Mittagsstunden und beim Dunkelwerden, wenn »Feierabend« begonnen hat, gesellt sich zu diesem Tages- und Geschäftsverkehr noch eine andere Art von öffentlichem Leben, das, soweit ich es kenne, in dem nördlichen Europa nichts Gleiches hat und durchaus an das Treiben italienischer Städte erinnert. Die Buntheit, die Heiterkeit des Südens fehlt, aber das Stehen und Schwatzen vor den Türen ist allgemein und geht rasch in jenes stille, behagliche Auf und Ab, in jene mußevolle Bewegung über, die kein Ziel verfolgt und sich selber Zweck ist. Die armen Leute von Edinburg gehen allabendlich auf ihrer High-Street spazieren. Das klingt nicht viel, ist aber eine große Sache und gibt jedenfalls der ganzen Straße einen Charakter, der uns durch seine Neuheit völlig frappiert. Unsre nordischen Straßen haben aufgehört, Versammlungsplätze zu sein, sie dienen ausschließlich dem Verkehr und gleichen abgesteckten Rennbahnen, auf denen nur gelaufen wird.
Aber selbst die Buntheit des Südens sollten wir nicht lange vermissen, als wir High-Street entlangschritten. An allen Ecken standen Hochlandssöhne mit Kilt und Plaid, nicht genau in die Farben ihrer Clans gekleidet, aber immer noch bunt genug, um das Bild zu beleben. Es waren Werbeunteroffiziere von den Highlanders, »Kameraden von der hohen Nummer«, was in England einen stolzen Klang hat, wo die Nummern 72. und 93. auf den Hochlandsschultern zweier berühmter Regimenter stehen. Vieles ist gegen die Hochlandstracht im allgemeinen gesagt und geschrieben worden, und gewiß mit Recht, aber malerisch ist und bleibt sie. Selbst das Zwitterkostüm der Hochlands- Regimenter, die oben den abgeschnittenen roten Frack der Engländer adoptiert, nach unten hin aber den Kilt und die Nacktbeinigkeit in aller Integrität bewahrt haben, ist immer noch eine Schöpfung von relativer Geschmacksfülle. Unter allen Umständen fehlt – die Hose, dieser Triumph des Praktischen über die Schönheit. Kurz vorher, eh' wir nach Schottland aufbrachen, hatten wir in London die Straßen und Plätze besucht, auf denen der englische Werbeunteroffizier sein Wesen treibt. Es war uns somit eine vortreffliche Gelegenheit zum Vergleich gegeben. Der Vergleich fiel sehr zugunsten Schottlands aus. In beiden Fällen, hier wie dort, war das Bierhaus Station und Sammelplatz; aber der echte Hochländer, der, wie das Sprichwort sagt, sich schon die Muttermilch mit Whisky verdünnt, scheint dem Werbegeschäft besser gewachsen zu sein. Er bleibt nüchtern. Breakfast und Lunch (zweites Frühstück) waren längst vorüber, doch unangefochten, fest, gradlinig, gravitätisch schritten ein paar Sergeanten vom Sutherland-Regimente auf und ab, uns musternd und dann grüßend, als wir an ihnen vorübergingen. Sie hatten in meinem Gefährten den »alten Offizier« herauserkannt. Dasselbe passierte uns in Stirling ein paar Tage später. Das Ganze gab ein schönes Bild; auf dem dunklen Hintergrunde hoben sich die bunten Trachten trefflich ab, gegenüber stiegen die grauen Häuser turmartig in die Luft, und aus der Ferne, nur leise von Nebel umhüllt, grüßte Edinburg-Castle.
Dieser Gruß mahnt uns zur Eile. Zunächst erreichen wir die Börse, die sogenannten Exchange-Buildings. Vor derselben, den Rücken gegen das Gebäude, machen wir halt, um Umschau zu halten. Wir blicken zunächst gegenüber auf die linke Seite der Straße. High-Street buchtet sich hier, nach Süden hin, platzartig aus; die St.-Giles-Kirche indes, die sich inmitten dieser Ausbuchtung (Parlaments-Square geheißen) erhebt und mit einer ihrer Seitenfronten bis in High-Street vorspringt, stellt dadurch die unterbrochene Straßenlinie wieder her. Wir befinden uns angesichts dieses Platzes im Mittelpunkte von High-Street und in mehr als einer Beziehung am wichtigsten Punkte Edinburgs überhaupt. Den ehrwürdigen Bau, in dem Knox predigte, unmittelbar vor uns, übersehen wir zu gleicher Zeit die Mehrzahl der Gebäude, die sich hakenförmig um diese Kirche herum gruppieren: das Rathaus, das Parlamentsgebäude und die Gerichtshöfe. Alle diese Häuser, einschließlich des Börsengebäudes, an das wir lehnen, sind entweder neu oder doch neuerlichst so gründlich repariert, daß sie den Eindruck von Neubauten machen. Es soll damit kein Tadel ausgesprochen sein, um so weniger, als die Änderungen, die vorgenommen wurden, aus Verkehrs- und Gesundheitsrücksichten dringend geboten erschienen. Auch wär' es unbillig, in Abrede zu stellen, daß der Platz, wie er da ist, immer noch den Eindruck des Stattlichen, des Großstädtischen macht. Das alles sei zugegeben. Aber andrerseits freilich trägt dieses Rathaus, das z. B. den athenischen Tempel des Erechtheus kopiert, ein völlig fremdes Element in die alte High-Street von Edinburg hinein und erzeugt notwendig den Wunsch in uns, daß es auf eine kurze halbe Stunde wieder so sein möchte wie vordem. Da war alles aus einem Guß; eckig, winklig, verbaut, aber malerisch. Links vor uns an der Nordostecke der Kirche erhob sich das Wahrzeichen der Stadt, das »City-Kreuz«, während rechts an der Nordwestecke das alte Tolbooth-Gefängnis mit seinen Erkern und Türmen aufwuchs und die High-Street beinah absperrte. Nichts von Säulen und Pilastern zog sich damals an den Steinfassaden der alten Gerichts- und Parlamentsgebäude entlang, und statt der ängstlichen Sauberkeit des frisch abgeputzten St. Giles, präsentierte sich der alte Bau im Schmuck seiner Buden und Kramläden, die sich eng und niedrig unter die gotischen Fenster gekauert oder in voller Breite zwischen den Strebepfeilern etabliert hatten. Das Mittelalter hatte doch recht, und unsere Purifikation, wo immer sie sich breit macht, hat oft herzlich wenig von dem guten Geschmack an sich, den sie in großen Buchstaben auf ihre Fahne schreibt. Die alten Kirchen wuchsen wie aus dem Leben des Volks hervor, und deutungsreich war es, wenn Bürger und Händler am Mauerwerk ihrer Kirche ihr Nest zu bauen liebten. Es war eine Verwachsenheit da, die jetzt fehlt. Kalt, sauber, sonntäglich erheben sich unsere Kirchen neben uns, und wir sehen uns in ein festtägliches Verhältnis zu jenen Plätzen gebracht, wo sonst der Umgang, die Liebe, die Vertraulichkeit, auch wohl die Ungeniertheit des alltäglichen Lebens war.
Mit der St.-Giles-Kirche und ihrer Umgebung haben wir den Höhepunkt des Interesses erreicht, das uns die High-Street gewähren kann. Weiter hinauf werden die Häuser wieder baufälliger und kümmerlicher, und die paar Ausnahmen, die uns begegnen, bieten nicht Stoff genug, um bei ihnen zu verweilen. Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit der dritten und letzten der High-Street-Kirchen (der sogenannten Assembly-Hall, in der alljährlich die General-Synode sich zu versammeln pflegt), biegen aber, anstatt den kahlen Wänden einer neugebauten schottischen Kirche einen bloßen Anstandsbesuch zu machen, lieber in die gegenübergelegene Gasse und ein dicht daran anstoßendes Gärtchen ein, um der Poetenwohnung Allan Ramsays, dieses nordischen Hans Sachs, einen Blick zu gönnen. Aber auch nur einen Blick; die Stille, die Abgeschlossenheit, die Lieblichkeit des Orts, die uns zu einer andern Zeit gewiß auf längere Minuten gefesselt hätte, hält uns heute nicht, denn immer näher hören wir militärische Musik die Wege und Windungen des Hügels heraufkommen. Die Neugier treibt uns zu sehen, was es gibt. In demselben Augenblick, wo wir den Platz erreichen (Esplanade genannt), der vor dem Mauer- und Festungswerk von Edinburg-Castle sich ausdehnt, erscheinen auch, Musik vorauf, die ersten Sektionen eines englischen Regiments zu unsrer Rechten und marschieren, den Platz in seiner Breite überschreitend, dem geöffneten Festungstore zu. Es sind dies die Sussex-Milizen unter Führung ihres Obersten, des Herzogs von Richmond. Bis vor wenig Tagen in Dover garnisoniert, hat eine vielleicht unerwünschte Ordre sie aus dem Süden Englands plötzlich nach Edinburg geführt. Edinburg-Castle tritt an die Stelle von Dover-Castle, Scharen von Volk, jung und alt, Weiber und Kinder, folgen ihnen nach, um an den »Southrons« (d. h. die Südlichen) ihren Witz und ihre Malice zu üben. Auch wir schließen uns dem Zuge an, und während das »Britische Grenadiere« lustig weiter klingt und die Schloßwache ins Gewehr tritt, ziehen wir durch allerhand Tor- und Gitterwerk lachend mit ein in Schloß Edinburg.
Edinburg-Castle
Wer kennt nicht das Edwin Landseersche Bild »Der Frieden«? Grasbewachsene Dünenhügel ziehen sich am Strand hin; glatt wie ein Spiegel dehnt sich die Meeresfläche; Kinder spielen, Schafe weiden umher; eines der Schafe aber naht sich der Öffnung einer rostigen, halb im Grase verstecken Kanone und nagt die Halme ab, die ihm friedlich daraus entgegen blühn. An dieses Bild mußt' ich denken, als ich oben auf Edinburg-Castle stand. Alles ringsum atmete Frieden; selbst die Halbmondbatterie, die ein Dutzend Geschütze oder mehr aus dem Wall- und Mauerwerk hervorstreckt, erschien mir so friedlich wie jene rostige Kanone im Grase. Die ganze Burg, mit ihren kriegerischen Prätentionen, ein gutherziger Polterer und nichts mehr! Mit einer Art Staunen hört' ich, daß im Jahre 1570 noch eine wirkliche Belagerung dieser Felsenfestung stattgefunden hat. Philipp le Grange, ein Anhänger Maria Stuarts, hielt sich hier 33 Tage lang gegen die vereinigten Anstrengungen einer englisch-schottischen Belagerungsarmee. Dreiunddreißig Minuten würden jetzt ausreichen, sämtliches Mauerwerk dieser Festung in einen Schutthaufen zu verwandeln. Daß im Jahre 1745 Prince Charlie keinen Angriff auf Edinburg-Castle unternahm und die Burg in den Händen der englischen Besatzung ließ, während die Stadt in seinen Händen war, darf auf keinen Fall als ein Beweis für die Festigkeit des Platzes gedeutet werden. Die Sache war, daß die nacktbeinigen Hochländer viel Mut, aber keine Kanonen hatten und daß es nutzlos gewesen wäre, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen. Edinburg-Castle, so scheinbar gebieterisch seine Lage ist, hat nichts mehr zu gebieten, seitdem eine Höhe von 300 Fuß aufgehört hat, eine Unerreichbarkeit für Kugel und Wurfgeschoß zu sein. Daher fallen alle historischen Erinnerungen, die sich an die Verteidigung oder Eroberung dieser Felsenfestung knüpfen, in das 14. und 15. Jahrhundert, Zeiten, in denen man jenseits des Tweed noch keine Geschütze kannte. Die interessanteste dieser Erzählungen ist eine Überrumpelung der Festung durch Randolph, Grafen von Murray, die 1313, also kurze Zeit vor der Schlacht von Bannockburn, stattfand. Sie wurde nach dem Erfahrungssatz ausgeführt, daß man da angreifen muß, wo sich der Feind am sichersten fühlt. Murray und 30 auserlesene Leute kletterten in einer Nebelnacht die senkrechte, für unersteiglich gehaltene Südwand des Felsens empor. Ihr Führer bei diesem Wagstück war ein alter Soldat, der auf dem Schloß geboren und großgezogen, in jungen Jahren die Wachsamkeit seines strengen Vaters oftmals getäuscht und die Südwand des Felsens hinab- und hinaufkletternd, die Nächte bei seiner unten in der Stadt wohnenden Geliebten zugebracht hatte. Ich nahm Gelegenheit, mir auf diese Erzählung hin ein paar Tage später die ganze Felsenlokalität von unten her anzusehn. Wenn nicht die Liebe dem Glauben darin gleichkäme, daß sie Berge versetzen, also am Ende auch erklettern kann, so würde man billigerweise die Wahrheit der ganzen Geschichte bezweifeln müssen. Es geht wirklich senkrecht in die Höh', an manchen Stellen mehr denn senkrecht. Der vielbesungene Schwimmer zwischen Sestos und Abydos erscheint im Vergleich mit diesem Schotten wie ein Usurpator, der Kränze trägt, die ihm nicht gebühren.
Schottland besitzt laut der Unionsakte 4 Festungen: Edinburg-Castle, Stirling-Castle, Blackneß und Durnbarton. Sie gleichen sich wie Brüder untereinander und sind alle, um sie durch ein einziges Wort zu bezeichnen, verkleinerte, niedrig gelegene, mehr burg- als festungsartige Königsteins. Für den, der in London war, vergleich' ich sie in mancher Beziehung noch besser mit dem Tower. Edinburg-Castle insbesondere rechtfertigt diesen Vergleich. Beiden gemeinschaftlich ist unter anderm der Umstand, daß sie als Aufbewahrungsplätze für die sogenannten »Regalien« (Kronjuwelen) dienen. Wir ließen uns in das Zimmer führen, wo der schottische Königsschmuck gezeigt wird, empfanden aber angesichts desselben womöglich noch weniger als beim Anblick der verschiedenen Kronen und Zepter, die im Tower zu London gezeigt werden. Pflichtschuldigst sieht man sich solche Dinge an, hört mit halbem Ohr die hergeleierten Erklärungsworte, bezahlt den üblichen Sixpence und ist froh, wenn man aus dem Zimmer mit seinem großen sechseckigen Glaskasten wieder heraus ist. Ich legte mir die Frage vor: »Woher diese Indifferenz?« Der Hauptgrund scheint mir der zu sein, daß diese Dinge in ihrer Allgemeinverwendetheit den Reiz des Besonderen, sozusagen des Persönlichen verlieren. Alles Reliquienwesen müssen wir auf eine ganz bestimmte Person zurückführen können. »Dies ist das Gebetbuch Jane Greys, dies der Eisenhut des Großen Kurfürsten, dies die Tabaksdose des Alten Fritz«, das hat ein Interesse; die Person selbst steht wie aus dem Grabe auf, trägt wieder die Sache oder stellt sich hinter dieselbe und gibt ihr dadurch ihren Reiz und Wert. Was soll aber vor unser geistiges Auge treten, wenn wir hören, »das ist das Reichsschwert von Schottland!« Nichts. Alle die sieben Jakobs, die sich herzudrängen, selbst wenn wir was von ihnen wissen, verwirren uns nur, und wir sind schließlich froh, diesem wirren Getriebe entkommen zu können.
Die meisten Gebäude, die sich auf Edinburg-Castle vorfinden, sind, wie beim Londoner Tower, von modernem Datum. Während der Tower indes neben seinen Baracken, Speichern und Munitionshäusern noch ein Dutzend wirkliche Sehenswürdigkeiten: Traitors-Gate, den Bell-Tower, den Beauchamp-Turm, den Blutturm, die Kapelle St. Peter ad Vincula und vor allem den erinnerungsreichen, teilweise intakt erhaltenen White Tower aufweist, reduzieren sich die historisch interessanten Baulichkeiten von Edinburg-Castle eigentlich auf zwei Punkte: auf eine kleine, schmucklose, bis in die Pikten-Zeit zurückreichende Kapelle, in der jetzt die zur englischen Episkopalkirche gehörigen Soldaten der Besatzung ihre Kinder taufen lassen, und auf ein anderes an der Südostecke des Hügels gelegenes, unscheinbares Wohnhaus, in dem Maria Stuart, drei Monate nach der Ermordung Rizzios, den späteren König Jakob VI. gebar. Zwei Zimmer sind es, die in diesem Wohnhaus gezeigt werden: eine Art Vorsaal oder Wachtstube, mit langen Tischen und Bänken darin, und daran anstoßend das Klosett der Königin selbst. In jenem Vorsaal befinden sich zwei Bildnisse, das eine davon Maria Stuart darstellend. Wiewohl eine Kopie en miniature nach diesem Ölfarbenbildnis (Bruststück) existiert, die erweislich schon über 150 Jahre alt ist, so glaub' ich dennoch nicht an die Echtheit dieses Porträts. Weder ist es den beiden, unzweifelhaft beglaubigten Bildnissen der Königin irgendwie ähnlich, noch deutet die Technik auf irgendeinen Maler des 16. Jahrhunderts, von dem es bekannt geworden wäre, daß er damals in England oder gar in Schottland gelebt hätte.