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»Ach, das mein ich ja nicht, Mutter. Ich meine bloß, ob sie dir's aus freien Stücken gegeben haben oder ob du darum gebeten hast?«
»Versteht sich, hab ich drum gebeten. Alle haben...«
»Opitz auch?«
»Nu, der wohl nich. Der is ja was Vornehmes. Und Siebenhaar auch nich.«
»Siebenhaar? War denn Siebenhaar auch da?«
»Gewiß war er da. Der von Wang hat freilich getraut, aber Siebenhaar kam auch noch und kam justement, als alles zu Tisch ging, und war großer Jubel, als er kam, und saß gerade der Braut gegenüber und hat auch eine Rede gehalten. Und als sie die Tische wegtrugen und das Tanzen anfangen sollte, da nahm Siebenhaar Opitzen am Arm und gingen beide, wohl an die vier- oder fünfmal, um die Wiese rum. Und immer, wenn sie wieder an dem Staketzaun vorüberkamen, hab ich gehorcht.«
»Das glaub ich. Du horchst immer. Aber der Horcher an der Wand...«
»Diesmal nicht, Lehnert. Es war bloß Gutes, und daß es von dir war, ist sicher; ich habe deinen Namen gehört. Und Opitz, der wieder etwas fißlig war, er hielt sich aber und ließ sich nichts merken. Opitz nickte. Das hab ich mit diesen meinen Augen gesehen. Und einmal hört ich ganz deutlich, daß er sagte: ›Nu, ja, ja. Jeder ist ein Mensch, und jeder hat seine Menschlichkeiten und seine Fehler. Und ich auch.‹ Siebenhaar hat ihm also ins Gewissen geredet. Und du sollst sehn, Lehnert, es wird noch alles gut, und du kommst mit ihm auf Freundschaft und du und du. Und dann guckt er uns durch die Finger, und wir haben gute Tage.«
»Ja, ja«, sagte Lehnert, »durch die Finger gucken, das kenn ich. Is ja das alte Lied. Na, gute Nacht, Mutter. Ich bin müde.«
Und dabei nahm er einen Blaker und das Amerika-Buch und stieg in seine Giebelkammer hinauf. Oben aber schob er einen Stuhl an sein Bett. Und eh er das Licht auslöschte, sah er noch einmal auf den Titel des Buchs. Der lautete: »Die Neue Welt oder Wo liegt das Glück?«
Opitz hatte wirklich, ganz wie Frau Menz erzählte, während der Brückenberger Hochzeit in entgegenkommender Weise mit sich reden lassen, und als Siebenhaar, wie durch einen glücklichen Zufall, am folgenden Tage schon einen schwarzgesiegelten Brief empfing, der ihn in die Notwendigkeit versetzte, für einen unbemittelten und brustkranken Amtsbruder samt Schwägerin und fünf in kürzesten Zwischenräumen aufeinander gefolgten Kindern (die Mutter war dann schließlich im Kindbett gestorben) eine hochgelegene, möglichst geräumige, vor allem aber möglichst billige Wohnung im Gebirge zu mieten, beschloß er, sich dieses Auftrages auf der Stelle zu entledigen und bei der Gelegenheit seinen längst beabsichtigten Besuch bei den Menzes in Wolfshau zu machen und seinen Freund Lehnert wissen zu lassen, daß alles gut stehe.
Siebenhaar, trotz seiner siebzig, war noch ein rüstiger Steiger und hielt deshalb zu dem Satze, »was sich zu Fuß tun lasse, nicht auf kostspielige Weise zu Roß und Wagen machen«. Er griff also zu Hut und Stock, um gegen elf in Krummhübel und, nach einem Imbiß in der »Schneekoppe«, spätestens um zwölf in Wolfshau zu sein.
Der Morgen war prachtvoll, und der Heugeruch zog vom Feld her über den Weg. Aber dieser selbst, trotzdem es die große chaussierte Straße war, war noch wenig belebt, und erst als Siebenhaar, an der Untermühle vorbei, bis an die steile, zu den ersten Häusern von Krummhübel hinaufführende Berglehne gekommen war, war auch Leben da: die Schule war aus, und die flachsköpfige Jugend, Jungen und Mädchen, mit Mappen unterm Arm und auf dem Rücken, stürmten übermütig den Abhang hinunter. Aber mit einem Male Siebenhaars ansichtig werdend, hielten sie mitten im Jagen inne und grüßten und stürmten dann erst weiter. Dem alten Herrn lachte das Herz bei dieser Begegnung, und die Freude darüber erleichterte ihm den Aufstieg bis auf die Höhe, von der aus, bis weiter hinauf zum Exnerschen Gasthause, nur noch eine kleine Strecke war. Aber so klein sie war, so war sie doch bestimmt, ihm eine freundliche Überraschung zu bringen: eine Feuerwehrparade. Für gewöhnlich war diese, samt nachfolgender Mannschaftsübung, eine Sonn- und Feiertagssache, die Brückenberger Hochzeit aber, die gestern alles in Atem erhalten hatte, hatte diesmal eine Verlegung gefordert, und so kam es denn, daß Siebenhaar an einem Schauspiel teilnehmen konnte, das er seit Jahr und Tag nicht mehr gehabt hatte. Die Dorfgasse hinauf, hart an einem kleinen Rinnsal entlang, standen die Spritzen und Wasserwagen, aus deren Mitte hohe Leitern aufragten, während auf dem frei gebliebenen Straßenteil die Feuerwehr selber stand, dreigliedrig aufmarschiert, prächtige Gestalten in bayerischen Helmen und mit Musik am rechten Flügel. In Front seiner Mannschaften aber stand Exner junior aus der »Schneekoppe«, der, ein Jahr jünger als Lehnert, gleich nach dem Kriege bei den Görlitzern gedient und den Schneid und Pli dieser erlesenen Truppe weggekriegt hatte. Das, und mehr noch seine gesellschaftliche Stellung als Reichster und deshalb Erster im Dorf, hatte dafür Sorge getragen, daß ihm das Feuerwehrkommando wie selbstverständlich zugefallen war. Er war gekleidet wie der Rest der Mannschaften, roter Kragen und Aufschläge zu dunkelblauem Rock, trug aber die Galons und Achselbänder des Offiziers. Die von ihm abzunehmende Revue hatte just abgeschlossen, wie kaum gesagt zu werden braucht, »zu seiner besonderen Zufriedenheit«, und eben schien er den Befehl zum Abmarsch auf das mehr talwärts gelegene Dorf Steinseiffen zu, wo dann mit Leitern und Rettungsapparaten ein Scheinfeuer bekämpft werden sollte, gehen zu wollen, als er, des alten Siebenhaar, seines Freundes und Lehrers, ansichtig werdend, sich plötzlich eines andern besann und »Stillgestanden... Rückwärts richt't euch... Präsentiert das Gewehr« kommandierte. Wie da die Griffe klappten; alles fuhr stramm zusammen, und unter Ehrenbezeigungen wie diese passierte der Alte die für ihn freigegebene Gasse. Nun erst nahm Exner sein ursprüngliches Kommando wieder auf: »Rechtsum.. . Feuerwehr, marsch«, und unter Trommelschlag und Querpfeife setzte sich der lange Zug bergab, auf Steinseiffen hin, in Bewegung. Aber eine kleine Strecke nur, dann schwiegen die Trommeln und Pfeifen, und Horn und Klapptuba stimmten statt ihrer eine militärische Musik an, und Becken und Pauke fielen ein. Siebenhaar, ein alter Burschenschafter, sah ihnen nach, und eine Träne stand in seinem Auge: »Wie dank ich dir, Gott, diese Tage noch erlebt zu haben«, und erst als die Kolonne seinem Blick entschwunden war, stieg er weiter hinauf auf den Exnerschen Gasthof zur »Schneekoppe« zu, woselbst er einen Imbiß nehmen und wegen der für den Amtsbruder zu mietenden Wohnung einige Erkundigungen bei der guten alten Frau Exner, der Mutter des Feuerwehrkommandanten, einziehen wollte.
Selbstverständlich nahm Siebenhaar, als er sein vorläufiges Ziel erreicht hatte, seinen Platz in Front der Halle, just an der Stelle, wo sonst Espes und Lieutenant Kowalski zu sitzen pflegten. Der Garten war, der frühen Stunde halber, noch leer, und nur in der Siebenhaar zunächst befindlichen Laube standen, angesichts einer über den Tisch hin ausgebreiteten Karte, drei Touristen von eleganter und beinah weltmännischer Haltung, die trotz ihres prononciert sächsischen Dialekts unschwer erkennen ließen, daß sie viel »drüben« gewesen sein mußten, in England oder vielleicht gar in Amerika. Siebenhaar, wenn er nach der Seite hin schärfer zu beobachten gewußt hätte, würde sofort auf Chemnitzer oder doch mindestens auf Meeraner Industrielle geraten haben. Aber dergleichen Beobachtungen lagen ihm fern. Er sah nur nach der Laube hinüber und horchte neugierig auf den Gang der von nur zu deutlichen Stimmen geführten Unterhaltung. Einer der drei, der der Kritischste zu sein schien, unterzog – ein großes gelbes Kursbuch in der Hand – die von dem über die Karte gebeugten Hauptsprecher in einem fort vorgebrachten Zeit- und Ortsangaben einer beständigen Kontrolle, was den Reisestrategen, den »Mann der Karte«, natürlich sehr verdroß. Überhaupt schien die Stimmung nicht die beste zu sein, denn zwei junge hübsche Frauen, die mit zur Partie gehörten, sahen sich entweder unter ironischem Lächeln an oder schlugen ungeduldig die fünf Finger ihrer Hände ineinander. Es half ihnen aber nichts.
»Ich denke also«, fuhr der Hauptsprecher und Kartenstratege fort, »wir gehen über das Gehänge. Führer brauchen wir nicht, denn wir haben eben die Karte. Hier läuft der Weg – ein bemerkenswert dicker Strich, alles klar und deutlich. Willst du so gut sein, Agnes, und dich durch den Augenschein überzeugen, daß er hier läuft. Bitte, Mathilde, tritt auch heran! Ich habe nicht Lust, mir nachher Vorwürfe machen zu lassen oder Anklagen zu hören über Nichtwegekenntnis und Verlaufen und Irrfahrten. Freilich, wenn die Schuhe drücken, so ist das eine Sache für sich, die mit dem Weg und der Führung nicht das geringste gemein hat. Auf Reisen sollten Eitelkeiten der Art aufhören. Denn enge Schuhe sind Eitelkeiten. Es ist jetzt elf Uhr fünf Minuten, wir müssen also spätestens drei Uhr fünfzehn Minuten oben sein. Schnitzel oder Koppen-Beefsteak, je nachdem. Ich rechne darauf vierzig Minuten. Aber sagen wir fünfundvierzig, was hoch gerechnet ist. Jedenfalls sind wir mit dem Glockenschlage vier auf der böhmischen Seite. Dann im Laufschritt bergab; Laufschritt, wenn die Terrainbeschaffenheit ihn irgendwie gestattet, ist bekanntlich bequemer und sicherer als ewige Vorsicht und Trippelei. Um sechs Uhr sind wir in Johannisbad und sieben Uhr fünf Minuten in Trautenau. Hier treffen wir den Zug und sind um Mitternacht in Prag.«
»Der Zug von Trautenau geht aber schon sechs Uhr fünfundfünfzig«, sagte der mit dem Kursbuch, der auf diesen abzugebenden Zwischenschuß mit einer Art Schadenfreude gewartet zu haben schien.
»Sieben Uhr fünf oder sechs Uhr fünfundfünfzig ist gleich. Eine Differenz von zehn Minuten ist keine Differenz; jedenfalls aber durch ein rascheres Tempo leicht einzubringen. Außerdem gehen von Johannisbad aus immer Retourwagen. Aber wenn auch nicht, mit Hilfe von...«
Er kam nicht weiter in seinen Auseinandersetzungen, denn beide junge Frauen, welche die »ewige Rennerei« längst satt hatten, faßten sich in diesem Augenblick unter und traten ziemlich demonstrativ vom Tisch fort an den plätschernden Springbrunnen.
»Ach, Mathilde«, sagte die eine, »wenn wir den doch mitnehmen könnten.« Und dabei stellte sie sich aufatmend in den Sprühregen. »Weißt du, daß ich hier bleiben möchte?«
Die andere nickte.
»Und was wohl die Kinder machen mögen?«
»Ach die! Aber wir!«
Siebentes Kapitel
Siebenhaar war entzückt, ebenso von dem feierlichen Ernste, mit dem die Fehde zwischen dem Karten- und dem Kursbuchmann geführt wurde, wie von den kleinen Verstimmungen des verbleibenden Restes der Gesellschaft. Er sah denn auch, um diese Verstimmungen besser verfolgen zu können, eben neugierig nach dem Springbrunnen hinüber, auf dessen Rand sich die beiden Damen und mit ihnen der dritte, jüngere Herr (welcher der Unverheiratete der Partie zu sein schien) gesetzt hatten, als er, einigermaßen verlegen – weil es mit dem Weiterbeobachten nun natürlich vorbei sein mußte –, die gute Frau Exner auf sich zukommen sah, seine liebe, alte Freundin, die vor vierzig Jahren oder, was dasselbe sagen will, bald nach seinem Amtsantritte von ihm eingesegnet und zehn Jahre später getraut worden war. Sie nickte schon von weitem und setzte sich zu ihm, um eine kleine Plauderei mit ihm zu haben. Die machte sich denn auch – nur noch von einzelnen Streifblicken nach dem Springbrunnen hin begleitet – ebenso rasch wie gemütlich, und erst als eine Viertelstunde später die Touristen, Männlein und Weiblein, aufgebrochen waren, entsann sich Siebenhaar, mitten im Gespräch über die glänzende Vermögenslage des alten Zölfel, auch seines Amtsbruders, um dessentwillen er eigentlich gekommen war, und las nun aus dem Briefe desselben die Stelle vor, die des kranken und kinderreichen Mannes Wünsche noch einmal kurz zusammenfaßte. »So handelt es sich denn, lieber Bruder«, so hieß es im Wortlaut, »vor allem um reine Luft und gesunde Lage, wenn es sein kann, an einem Hochwalde hin, selbstverständlich mit Ausschluß von Sumpf und Wiesengrund, zum zweiten aber um drei geräumige Zimmer mit sieben Betten, am liebsten über dem Kuhstall, wenigstens das meinige. Daß ich vor Hundebleff geschützt bin, darf ich wohl voraussetzen, ebenso daß das Haus oder die Baude nicht unmittelbar an der Lomnitz steht. Ich leide nämlich seit letztem Winter an einer Trommelfellaffektion oder vielleicht auch bloß an allgemeiner Nervenüberreizung und bedarf deshalb absoluter Stille. Was ich eingangs über den Preis geschrieben habe, brauche ich Dir nicht zu wiederholen.«
Siebenhaar, als er gelesen, steckte den Brief wieder ein und sagte: »Ja, das wär es, liebe Frau Exner. Und nun sagen Sie, was meinen Sie dazu?«
Diese lachte still vor sich hin.
»Es fehlte bloß noch, daß er geschrieben hätte, nicht Wind, nicht Sonne haben zu wollen. Aber ich werde mir's überlegen, und wenn ich was finde, so schick ich einen Boten oder komm auch wohl selbst und sehe mir mal wieder die Konfirmandenstube an.«
»Das soll ein Wort sein, liebe Frau Exner. Und dann zeig ich Ihnen auch gleich meine Kanarienvogelhecke, zwei Schläger, wie sie die Harzer nicht besser haben.«
Er blieb noch eine kleine Weile, dann stand er auf und ging in einem langsamen Schritt, denn es war heiß geworden, bis zum Gerichtskretscham und dem gleich dahinter gelegenen katholischen Kapellchen, um von hier aus nach Wolfshau abzubiegen. Der Weg schlängelte sich durch Kusseln und Heidekraut und mündete zuletzt auf die breite Hauptstraße, die neben der Lomnitz hinlief und weiter aufwärts die Grenze zwischen dem Opitzschen und dem Menzschen Gewese zog. Als er diesen Teil der Straße fast schon erreicht und jedenfalls die beiden Häuser schon in Sicht hatte, hielt er noch einmal an, weil er etwas außer Atem war, und schritt dann erst auf den Brückensteg zu, der nach dem Inselchen hinüberführte.
Von dem Kapellchen her klang gerade das Mittagsläuten, Lehnert aber, der, wenigstens bei der Arbeit, nicht für strenges Stundenhalten war, blieb in seinem Schuppen und schnitzelte weiter, ohne des Läutens und der Mahnung zur Mittagsmahlzeit zu achten. Erst als der Hahn in ein ungewöhnliches Krähen kam und mit seinem ganzen Hühnergefolge nach dem Arbeitsschuppen hin retirierte, sah er auf und bemerkte nun Siebenhaar, der eben vom Brückensteg her auf den Vorgarten und die kleine Steintreppe zuschritt. Er legte nun das Schnitzeisen aus der Hand und ging auf den Alten zu, den er, seine Kappe ziehend, respektvoll begrüßte. Dabei wollte Lehnert etwas von Dank und Freude sprechen, aber Siebenhaar, der nicht bloß eine Kanarienvogelhecke hatte, sondern vor allem auch ein Rosenzüchter war, war von dem das ganze Haus umfassenden und überall hin mit Knospen und gelben Blüten überdeckten Rosenbusche viel zu sehr entzückt, um Lehnert ausreden zu lassen, und sagte nur ein Mal über das andere: »Lehnert, Junge, wo hast du diesen Busch her? Der ist ja schöner als der Hildesheimsche. Rote, die hat jeder; aber gelbe, gelbe. Wie nennt ihr sie denn? Ei, das ist ja eine wahre Gottesgabe.«
Während er noch so sprach, war er auf den Flur und gleich danach in die Stube getreten, drin Frau Menz eben am Ofenherd stand und die Kartoffeln, frische, die von ihr wie Gold behandelt wurden, in den Topf zählte. Kaum aber, daß sie des Besuchs ansichtig wurde, so fuhr sie zunächst mit der nassen Hand über die Schürze, band diese dann rasch ab und kam auf Siebenhaar zu, den sie jetzt umknickste und mit einer Flut von kriecherischen Worten überströmte.
Lehnert schüttelte den Kopf, aber die Alte sah es nicht oder wollt es nicht sehen und fuhr in ihrem Wortschwall unverändert fort: »Aber nun bitt ich, Herr Pastor; hier dieser, der hat die beste Lehne... setzen müssen Sie sich... Sie werden uns doch die Ruhe nicht mit fortnehmen wollen... Ich denke, hier an den Ofen. Oder soll ich das Fenster aufmachen? Ja, das will ich, das wird das beste sein, ich werde das Fenster aufmachen. Der Herr Pastor, soviel habe ich wohl gesehn, haben immer das eine Fenster auf, und auch noch ein Fliegenfenster dazu, da zieht es noch mehr. Ja, was die Reichen sind und die Studierten, die sind immer so sehr für frische Luft, auch wenn es kalt ist; aber unsereins will gern warm sitzen, weil man sonst nichts Warmes hat, und das bißchen Kleinholz gibt es ja auch, das heißt, wenn man den Zettel hat, sonst ist Opitz gleich bei der Hand und schreibt einen auf, und man hat seine vierzehn Tage weg, man weiß nicht wie... Gott, wenn ich nur noch von dem Hochzeitskuchen hätte... Nun hab ich so gut wie nichts für den Herrn Pastor... Aber wenn arme Leute so was im Hause haben, dann sind sie wie die Kinder, und Lehnert ist eigentlich schuld... Ja, Lehnert, du bist schuld, du sagst doch sonst immer: ›Mutter, verdirb dich nicht, Mutter, sei nicht so naschig.‹ Aber du hast kein Wort gesagt, und da hab ich alles verputzt und verurscht, und is kein Krümel mehr da.«
Lehnert war aufgestanden und trommelte vor Ungeduld an die Fensterscheibe, Siebenhaar aber, der sich noch der Zeiten erinnerte, wo so mancher aus dem armen Volk hier diese Sprache der Unfreien und Hörigen gesprochen hatte, lächelte nur und sagte: »Liebe Frau Menz, ich habe ja selber von dem Hochzeitskuchen gehabt und hab es geradeso gemacht wie Sie und hab ihn auch aufgegessen oder ›verputzt‹, wie Sie sagen, jedenfalls viel zuviel, was man eigentlich nicht soll. Und Lehnert hat ganz recht, wenn er gegen das Naschen ist. Aber das ist nun mal nicht anders, auch die Alten bleiben Kinder. Und wissen Sie, wer der dritte war, der auch zuviel gegessen hat, und noch dazu gleich oben, als der Kaffee kam? Der dritte war unser Freund Opitz...«
Die Alte nickte und kicherte vor sich hin. Siebenhaar aber wiederholte:
»Ja, unser Freund Opitz. Und sehn Sie, liebe Frau Menz, wenn ich hörte, daß er diese Nacht ein großes Alpdrücken gehabt und seine Frau mit seinem Tode geängstigt habe, so würd ich mich nicht wundern. Aber, wie gesagt, es haut eben jeder mal über die Schnur, Sie und ich und natürlich auch ein Förster. Und ist auch nicht so schlimm, wenn einer nur sonst brav und tüchtig ist. Und das ist Opitz und auch gar nicht so hart, wie die Leute glauben, und wenn man ihn nur zu nehmen weiß und ihm seine Ehre gibt, darauf hält er, und darauf muß er halten, so läßt sich ganz gut mit ihm leben, und ist auch nicht so gehässig und unversöhnlich, wie mancher meint, wovon ich mich erst gestern wieder überzeugen konnte...«
»Hörst du, Lehnert, hörst du? Das ist es ja, was ich auch immer sage. Der Förster ist doch eine Obrigkeit, und die Obrigkeit ist von Gott. Ja, das haben Sie gepredigt, Herr Prediger, und das vergeß ich nicht wieder. Opitz ist Obrigkeit und ein guter Mann und steht eigentlich in Gottes Namen da...«
»Ach, Mutter, rede doch nicht solchen Unsinn. Er ist bei dem Grafen in Dienst, und für den steht er da. So was darfst du nicht sagen, und am wenigsten, wenn der Herr Pastor da ist, das ist ja die reine Gotteslästerung. Und du sagst es auch alles bloß so hin und weißt recht gut, daß er nicht anders ist als du und ich und vielleicht noch ein bißchen schlechter.«
Siebenhaar nahm Lehnerts Hand und lächelte:
»Mußt dich nicht so ereifern, Lehnert. Die Mutter sagt es bloß, weil sie den ewigen Streit nicht will und sich ängstigt und Ruh und Frieden und gute Nachbarschaft haben möchte. Treff ich's? Sage selbst...«
»Und weil ihr alles gleich ist, Herr Pastor, wenn sie nur ihren Vorteil hat. Das ist es. Und wenn sie drüben ein ranzig Stück Speck haben oder mit einem Rehviertel nicht mehr wissen, wo sie mit hin sollen, dann ist sie gleich bei der Hand und will sich's schenken lassen. Ich will aber nichts Geschenktes haben aus dem Haus da, und wenn es denn durchaus ein Reh oder ein Rehviertel sein soll...«
»Dann weißt du, wo du's hernimmst... Ja, Lehnert, das ist es eben, und darüber klagt Opitz und über deinen Trotz, der das Verbotene nicht bloß tut, sondern sich's auch noch berühmt. Wie viele Male hab ich dir das schon vorhalten müssen. Erst neulich wieder. Ist es nicht so? Du schweigst... Sieh, ich bin gestern mit ihm eine halbe Stunde lang um die Brückenberger Waldwiese herumgegangen und hab ihn beschworen, nicht alles sehen und nicht alles hören zu wollen, und hab ihm Vorstellungen gemacht und ihm ins Gewissen geredet. Und ich kann dir sagen, wörtlich sagen, oder doch so gut wie wörtlich, was ich ihm bei der Gelegenheit alles gesagt habe. ›Sehen Sie, Opitz‹, so hab ich ihm gesagt, ›Sie reden immer von Recht und Ordnung, aber was heißt Recht und Ordnung? Das sind alles sehr schöne Sachen, und doch ist es mit Recht und Ordnung geradeso wie mit Zucht und Sitte.‹«
Lehnert nickte.
»›Wie mit Zucht und Sitte. Die sollen sein. Gewiß, Zucht und Sitte sollen sein; wer will das bestreiten? Und wenn ich dann im Unterricht und zuletzt noch mal am Einsegnungstage den jungen Dingern zurede, daß sie sie gut halten sollen, dann tu ich das nicht bloß, um was zu sagen, dann tu ich es auch, weil mir's mein Herz so vorschreibt und weil ich weiß, was ein guter Wandel nicht bloß vor Gott, sondern auch vor den Menschen bedeutet und daß Glück und Unglück daran hängt. Ja, Opitz‹, so hab ich ihm gesagt, ›ich bin für Zucht und Sitte. Aber wenn's dann nachher anders geht und wenn eine Braut vor den Altar tritt mit einem Myrtenkranz, der ihr eigentlich nicht zukommt, dann nehm ich ihr den Kranz nicht aus dem Haar und fahre nicht mit Feuer und Schwefel drein und sprech auch nicht von ewiger Verdammnis und verzichte darauf, aus der Altarstufe, darauf das arme Ding kniet, eine Armensünderbank zu machen. Ich verzichte darauf, sag ich, und tue sie beide zusammen und empfehle sie in meinen Worten und vor allem auch in meinem Herzen der Gnade Gottes. Ich will nicht wissen, was ich weiß, und will die Kirchenzucht nicht üben, trotz dem ich sie wohl üben dürfte, ja, wie die Strengen meinen, auch wohl üben sollte. Und sehen Sie, Opitz, wie's in der Kirche ist, so ist es auch im Wald. Sie müssen der Armut war nachsehen und nicht bloß dem Gesetze nichts vergeben, sondern auch der Liebe nichts vergeben. Es ist eine Täuschung, wenn wir uns immer und ewig auf unser Amt und unsere Pflicht oder gar auf unseren Schwur und unser Gewissen berufen. Das meiste, was wir tun, tun wir doch aus unserer Natur heraus, aus Neigung und Willen.‹«
Die Alte, während der Prediger so sprach, hatte mit gefalteten Händen dagesessen und allerlei vor sich hin gemurmelt, wie um ihre Andacht zu bezeugen. Aber auch auf Lehnert waren die Worte nicht ohne Einfluß geblieben, denn er war klug genug, nicht bloß das herauszuhören, was sich gegen Opitz richtete. Nein, er hörte ganz allgemein den Geist christlicher Liebe heraus und sagte sich, daß er dieser Liebe geradesogut entbehre wie Opitz und daß er sein Recht geradeso heftig und eigensinnig vertrete wie Opitz das seine. Und sein Recht war doch nur sein Recht, Opitz' Recht aber war das anerkannte, das gültige, das uralt bestätigte.
Siebenhaar, der wohl sehen mochte, was in ihm vorging, hütete sich, durch eine Zwischenbemerkung zu stören. Und so verging eine geraume Weile. Dann erst nahm Lehnert seinerseits das Wort wieder und sagte: »Und was sagte da Opitz, Herr Pastor? Ich weiß von Christine...«
»Daß er einen hochfahrenden Sinn hat und sich in dem, was seines Amtes ist, nicht gern dreinreden läßt. Ja, so heißt es von ihm und wird auch wohl seine Richtigkeit damit haben. Aber es kommt doch auch darauf an, wer mit ihm spricht, und vor allem, wie man mit ihm spricht, und ich hab ihn gestern als einen christlichen Mann befunden, das heißt als einen Mann, der vergeben kann, weil er fühlt, daß er selber der Vergebung bedürftig ist. So wenigstens schien es mir, als ich ihm nach den Augen sah, und war mir fast, als ob ich eine Träne darin gesehen hätte.«
Lehnert lachte. »Wohl, wohl. Wenn er unter Wein ist, ist ihm immer das Weinen nah. Das kenn ich. Aber es hält nicht lange vor, und von gestern auf heute wird er sich wieder anders besonnen haben.«
»Kann sein, Lehnert, aber es ist nicht wahrscheinlich. Und unter allen Umständen mußt du vorläufig an seine Versöhnlichkeit glauben und dein Betragen danach einrichten. Du hast es mir versprochen, neulich schon, und ich könnte dich beim Worte nehmen. Aber ich will es nicht. Ich will es nach allem, was er mir gestern gesagt hat, aufs neue von dir hören und, wenn es sein kann, aus einem freudigeren Herzen und einem festeren Entschluß.«