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„Wenn der Angreifer direkt vor ihm gestanden und das rechte Auge getroffen hat, dann ist er Linkshänder“, überlegte Inka laut.
„Davon könnt ihr ausgehen. Zumindest, was die Prügelei angeht. Aber ob der Prügelknabe auch der Mörder war?“
„Kriegen wir heute noch Ergebnisse, Terry?“
„Ich geb mein Bestes“, sagte die Rechtsmedizinerin. „Allerdings liegen bei mir im Institut zwei Alkoholleichen auf dem Tisch und eine Dreißigjährige, bei der der Todesumstand von Suizid bis Mord schwankt.“ Teresa stand aus der Hocke auf und schloss ihre Arzttasche. „Ich vermisse Sebastian. Schläft er noch?“ Suchend sah sie über Inkas Schulter.
„Sebastian ist in Hamburg bei seinen Eltern“, sagte Inka kurz. Dass Sebastian seit zwei Tagen bei seinen Eltern lebte, weil er glaubte, den Kreuzer so von ihr fernzuhalten, gefiel ihr nicht. Sie vermisste ihn. Aber es war seine Entscheidung und die fand sie allemal besser als den gefährlichen Plan, den er mit Flora, Teresas Lebensgefährtin, umsetzen wollte. Auch wenn die Idee der beiden, den Kreuzer aus seinem Versteck zu locken, noch nicht ausgereift war.
Teresa Hansen umarmte erst Inka, dann Mark, nickte Amselfeld zum Gruß zu und winkte Finn Reuscher, dem Polizeifotografen, und Fridolins Team der Spurensicherung, die mit schnellen Schritten die Brücke erreicht hatten. „Lasst mir das Opfer ins Institut bringen“, rief sie ihren Kollegen zu, bevor sie hinter den Bäumen in der Dunkelheit des frühen Morgens verschwand.
„Also gut“, sagte Inka, als Fridolins Team in weißen Schutzanzügen an ihr vorbeiwirbelte, Schildchen aufstellte, mit Lampen den Tatort belichtete, Pinzetten und Pinsel aus ihren Köfferchen holte und mit der Arbeit begann. „Folgen wir der Blutspur.“ Mit der Taschenlampe leuchtete Inka über die Holzbohlen und weiter auf den sandigen Waldweg, der Richtung Parkplatz führte.
„Wie merkwürdig“, hörte sie Mark sagen. „Warum flüchtete er nicht gleich in sein Auto?“
„Auf dem Parkplatz stand außer dem Smart mit Werbeaufdruck des Café-Restaurant Seestübchen kein anderes Auto“, erwiderte Inka.
„Vielleicht hat er seinen Wagen oben an der B209 abgestellt“, bemerkte Amselfeld.
„Unwahrscheinlich“, sagte Inka kopfschüttelnd. „Die Holzbrücke liegt vom Parkplatz aus auf der rechten Seite des Sees. Er müsste einen riesigen Bogen gegangen sein, um hier anzukommen. Wer macht so etwas, wenn es einfacher ist, den Wagen auf dem Parkplatz vor Ort abzustellen?“
„Stimmt“, pflichtete Mark bei. „Aber möglich ist, er wurde mitgenommen und am See abgesetzt. Oder er ist mit dem Taxi gekommen.“
„Und wie kommt er zurück?“
„Zurück wohin?“, fragte Amselfeld und sah Mark mit schläfrigen Augen an. „Wir wissen nicht, wo er wohnt, und wir wissen ebenfalls nicht, ob er verabredet war oder nur spazieren gehen wollte.“
„Mit zwanzigtausend Euro und einem Diamantring in der Tasche zu einem Abendspaziergang aufbrechen ist seltsam. Kriegen Sie raus, Amselfeld, wie das Opfer zum See gekommen ist? Mit dem Taxi, einem Freund, der Freundin oder wie auch immer? Fragen Sie in den umliegenden Taxizentralen nach, wer eine Fahrt zum See mit einem Fahrgast oder mehreren Gästen um die Tatzeit herum getätigt hat. Möglicherweise hat unser Opfer das Geld von seinem Mörder bekommen. Erpressergeld, Schutzgeld oder Schweigegeld, irgendetwas wird es gewesen sein. Wir brauchen die Fingerabdrücke auf dem Geld, Hendriks Kontobewegungen und die Bewegungsanzeigen sowie Anrufprotokolle auf seinem Handy“, ordnete Inka an. Sie leuchtete zurück auf die Blutspuren, die sie weiter Richtung Parkplatz führten. Mit der Taschenlampe schwenkte sie in den Busch- und Laubstreifen, der See- von Waldweg trennte. „Hier hört die Blutspur auf und macht einen Bogen. Amselfeld, Sie gehen den Seeweg entlang Richtung Aussichtsplattform. Mark, wir gehen zum Parkplatz und zum Café zurück, um nicht alle Spuren zu zertrampeln.“
Je näher sie dem Seestübchen kamen, desto lauter wurde das Stimmengewirr, das ihnen entgegenschlug. Inzwischen waren fast alle Eltern der Jugendlichen eingetroffen.
„Ich würde gerne mit Ihrer Tochter alleine sprechen“, bat Inka die Eltern der Schülerin Lea Ohlsen.
„Und was ist mit uns, wann können wir gehen?“, wollte Sigfried Grünhagen wissen.
„Mein Kollege nimmt Ihre Personalien auf.“ Sie nickte zu Mark.
„Wollen wir?“, fragte sie Lea und bat sie um ein paar Schritte. „Lea, bitte verraten Sie mir … oder darf ich Du sagen?“ Inka blieb an der Schranke stehen.
Das Mädchen nickte. Es war blass und Inka sah, dass seine Hände leicht zitterten.
„Lea, ich weiß, was du gesehen hast, war grausam. Wir reden nur so lange, wie du meinst, es verkraften zu können. Aber ich brauche ein paar Antworten. Was ist am See geschehen? Wann seid ihr am See angekommen? Wer kam auf die Idee mit dem Paintballspiel? Was hat es mit dem Untier, dem Werwolf, auf sich?“
„Es war eine dumme Idee“, flüsterte Lea. „Eigentlich wollten Konstantin und ich nur einen Abend, also eine Nacht, alleine verbringen. Seine Eltern waren zu Bekannten nach Soltau zu einer Hochzeit gefahren und wollten erst am nächsten Tag wiederkommen. Meine Eltern dachten, dass ich bei Kristina schlafe, aber …“ Lea zögerte, senkte den Kopf und sah auf den Sandboden.
„Ist Konstantin dein Freund? Er sieht nett aus.“ Inka fand, Lea verhielt sich ganz anders als die dickköpfigen Jugendlichen, mit denen sie sonst ab und an zu tun hatte.
„Ja, ist er auch. Und lange nicht so eingebildet wie Jannik, Peer oder alle anderen Jungs. Obwohl seinen Eltern das große Autohaus in Amelinghausen gehört.“
Inka warf einen schnellen Blick zu Konstantin und seinen Eltern. Als letztes Elternpaar kamen sie mit einem Golf zum See, nicht mit einem SUV. Mit Leas Eltern standen sie als restlich verbliebene Gruppe neben dem hölzernen Wagenrad und gaben Kollege Rommel Auskunft.
„Okay“, sagte Inka, „ihr wolltet den Abend alleine verbringen. Was hat eure Entscheidung geändert?“
„Der Anruf von Peer. Konstantin wollte mit mir Mathe üben, aber Peer meinte, er solle kein Weichei sein, Mathe und ich würden ihm nicht weglaufen, aber das Spiel sich so schnell nicht wiederholen. Und dass Max, Jannik, Peer und die Mädchen, Amanda, Kristina und Klara, auch dabei wären. Um elf Uhr ginge es am Parkplatz beim Seestübchen los.“ Lea biss sich auf die Unterlippe. „Es ist schwer, sich aus der Clique zu lösen, ohne dabei überheblich zu wirken. Alleingänge werden nicht gern gesehen, womöglich gibt es Streit. Ich hab Konstantins Entscheidung verstanden, als er eingewilligt hat.“
„Peer hat euch also am Freitagabend zu dem Spiel überredet.“
„Ja, Konstantin. Er wollte nicht sagen, dass wir alleine sein wollten, die anderen hätten ihn aufgezogen.“
„Kamen alle deine Mitschüler mit Fahrrädern zum See?“
„Ja.“
„Und mit dem Spiel habt ihr wann begonnen?“
„So um halb zwölf. Peer hat die Spielregeln erklärt und Jannik eine Flasche Gin rumgereicht.“
„Wer ist Peer? Wer ist Jannik?“, fragte Inka, den Blick den eingetroffenen Eltern und ihren Kindern zuwerfend.
„Peer ist der Kleinere, der Dunkelhaarige. Jannik ist der Größere, der mit den Dreadlocks“, antwortete Lea.
„Wie ging es weiter?“
„Jeder hat etwas Alkohol getrunken, dann haben wir die Westen angezogen und die Gewehre geladen. Die Jungs gaben uns einen zehnminütigen Vorsprung. Wir Mädchen sind Richtung Waldbad. Klara ist zum Wassertretbecken, Amanda zum Jugendzeltplatz und Kristina Richtung Campingplatz Mühlenkamp. Eine Stunde später, nach Ende des Spiels, wollten wir uns wieder auf dem Parkplatz treffen. Ich war mit Konstantin am Waldbad verabredet.“
„Und haben die Jungen die verabredeten zehn Minuten eingehalten?“
„Ja, kann sein. Ich hab mich vor ihnen im Gebüsch versteckt.“
„Woher habt ihr die Westen, die Gewehre und die Farbe?“
„Peer hat die Sachen von einem Freund seines Vaters besorgt.“
„Erzähl mir, wann dir das Untier begegnet ist und wann du deinen Lehrer gefunden hast.“
Lea Ohlsen stupste mit der Turnschuhspitze in den Sandboden und holte tief Luft. „Wie ich sagte, wir Mädchen rannten los durch den Wald, am Waldbad haben wir uns getrennt und jeder ist in seine Richtung. Dass ich mich mit Konstantin am Waldbad treffen wollte, haben wir niemandem erzählt. Wir wollten das dämliche Spiel nicht mitmachen, sondern für uns alleine sein. Sollten sie sich alle gegenseitig abknallen. So um halb eins hab ich immer noch auf Konstantin gewartet. Alles war still, nur ab und an hörte ich ein Gewehr knallen und einen kurzen Aufschrei. Es ging Mädchen gegen Jungen, wer verliert, muss die nächste Party bezahlen. Konstantin und ich wären übrig geblieben und das Spiel wäre unentschieden ausgegangen, so haben wir es vereinbart. Doch Konstantin kam nicht. Dabei wusste er doch, dass ich den Wald schon am Tage nicht mochte und dann bei Nacht erst recht nicht. Außerdem war mir eisig kalt. Als ich wieder zum Parkplatz zurückgehen wollte, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Es raschelte und knackte. Ich dachte, es wäre einer der Jungs, der mir gefolgt war. Sicher Peer. Mit Peer war ich vor Konstantin zusammen. Irgendwie ist er noch immer sauer auf mich. Er wollte nur das eine, wie bei seinen anderen Freundinnen, ich aber nicht.“
„Wie lange lief eure Beziehung?“
„Nicht lange. Zwei Wochen. Peer ist einer von den beliebtesten Jungs in der Schule. Alle Mädchen stehen auf ihn. Er ist zwar nicht so groß und muskulös, aber er sieht toll aus.“
„Also Peer ist der dunkelhaarige junge Mann, der neben der zierlichen blonden Frau im Jogginganzug steht?“
„Ja, das ist seine Mutter. Den Bachs gehört das Reiterhotel in Rehlingen. Seine Mutter ist Turnierreiterin und der Vater …“, Lea stockte, „weiß ich eigentlich nicht so genau. Ich glaub, er züchtet irgend so eine amerikanische Rassepferdeart. Teuer und edel, wie alles bei den Bachs.“
„Und dann bist du mit Konstantin zusammengekommen. Wie lange geht das schon mit euch?“
„Wir sind fast ein Jahr zusammen. Konstantin ist anders, er versteht mich. “
Inka nickte. „Wie ging es weiter?“
„Na ja, ich hab noch einen Augenblick gewartet und mir eingeredet, dass die Geräusche ein Reh oder ein Hirsch, ein Wildschwein oder ein Hase verursacht. Doch es knackte immer mehr im Gebüsch, und dann war da der stechende Geruch, faulige Eier, so etwas in der Art. Ich hab nach Konstantin gerufen, leise, aber so laut, dass er mich hätte hören müssen. Doch er tauchte nicht auf. Plötzlich griff jemand von hinten auf meine Schulter, und als ich mich umdrehte, sah ich Jannik ins Gesicht. Er stank nach Schnaps und sicher hatte er wieder einen Joint geraucht. Er zielte mit dem Gewehr auf mich und brüllte: Hab ich dich erwischt, du Bitch. Ich riss ihm das Gewehr aus der Hand und warf es ins Gebüsch. Er fluchte wie wild und krabbelte auf allen Vieren am Boden herum, um es wiederzufinden. Ich bin Richtung Kiosk davongerast und einmal rund ums Bad gelaufen. Hinter mir schrie Jannik – ich kriege dich, ich kriege dich. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinter mir her, schoss, aber traf mich nicht. Jannik ist ein Zornkopf. Immer schnell auf hundertachtzig. Ein eingebildeter Spinner, genauso wie Peer. Beide haben so viel Hirn wie ein Eimer Pokémons.“
Inka krauste die Stirn. Von Pokémons hatte sie gehört, doch einordnen konnte sie diese Dinger nicht. Bevor sie weiter überlegen konnte, begann Lea neu.
„Jedenfalls hab ich Jannik abgehängt oder er hat es aufgegeben, mich zu verfolgen. Dann bin ich zurück zum Waldbad, weil ich sehen wollte, ob Konstantin endlich da ist. Aus der Ferne hörte ich Geschrei und Geballere, aber um mich herum war alles ruhig. Mir war wieder so kalt und ich hatte auch keine Lust mehr, auf Konstantin zu warten. Als ich zum Parkplatz aufbrechen wollte, hörte ich ein Brummen und Knurren und roch wieder diesen widerlich stechenden Gestank. Das war echt spooky. Erst dachte ich, Jannik hat mich wieder erwischt, doch als ich mich umgedreht hab, sprang dieses Tier mit den roten glühenden Augen aus dem Gebüsch und starrte mich an. Aus seinem Maul kam Schaum, wie bei einem tollwütigen Hund. Es stand auf zwei Beinen, hatte große spitze Zähne und streckte seine Pranken nach mir aus.“
„Ein Tier, das auf zwei Beinen stand?“
„Ja, auf den Hinterbeinen. Es war ein Werwolf, der mich fangen wollte.“
„Ein Werwolf in der Lüneburger Heide. Bist du dir da sicher, Lea? Ich meine, es war dunkel und …“
„Nein! Ja, natürlich bin ich mir sicher! Ich weiß doch, wie diese Viecher aussehen“, trotzte die Siebzehnjährige. „Außerdem war es hell, der Vollmond schien. Ich hab den Wolf genau gesehen. Er stand nur ein paar Meter von mir entfernt.“
„Ein paar Meter reichen aus, um sich zu täuschen. Es war eine gespenstische Atmosphäre, der Vollmond schien und …“
Wieder unterbrach das Mädchen. „Nein. Ich hab mich nicht geirrt. Es war ein Werwolf. Er war mindestens zwei Meter groß, hatte lange spitze Zähne, war am ganzen Körper behaart und seine Augen haben rot geglüht“, wiederholte sie beharrlich. „Er machte einen Satz auf mich zu, packte mich an den Oberarmen und riss sein Maul noch weiter auf. Die langen spitzen Zähne sah ich deutlich vor mir. Er schüttelte mich erst an den Armen, dann an der Schulter. Ich hab so gut, wie ich konnte, wild um mich geschlagen und mit den Füßen an seine Beine getreten. Er hat gestöhnt und ließ mich für einen kurzen Augenblick los. Da konnte ich mich befreien. Ich bin einfach losgerannt. Immer weiter Richtung Parkplatz.“
„Hast du nicht um Hilfe gerufen?“
„Doch, natürlich. Ja, ich glaub schon. Ich weiß es nicht. Ich bin nur gerannt und gerannt. Aber ich war ja schon fast wieder an der Brücke und die anderen noch irgendwo im Wald. Hinter mir dieses unheimliche Schnaufen und Knurren. Auf der Brücke bin ich gestolpert und über etwas Weiches gefallen. Als ich aufstand, sah ich, dass es Hendrik ist, über den ich gefallen war. Überall war Blut. Dann kam Klara über die Brücke gerannt.“
„Klara?“
„Ja, sie ist meine beste Freundin. Amanda und Kristina auch, aber Klara und ich sind auf einer Wellenlänge. Wir wollen beide nach dem Abitur in Heidelberg Medizin studieren.“
„Verstehe. Wie ging es weiter? Was war mit der Bestie?“
„Die war verschwunden. Glücklicherweise kamen Max und Kristina aus dem Wald. Max hat alle auf ihren Handys angerufen und gesagt, sie sollen sofort zur Brücke kommen. Wir waren so entsetzt über … Hendrik war ein toller Lehrer.“
„Du hast deinen Biologielehrer mit Vornamen angesprochen?“
„Das haben wir alle, er war Vertrauenslehrer. Er war echt cool.“
„Habt ihr euren Lehrer auf der Brücke angefasst?“
„Er war tot und voller Blut! Nein!“ Angewidert verzog Lea das Gesicht. Ihre Stirn- und Nasenpartie krauste sich wie bei einer alten Frau. „Natürlich haben wir ihn nicht angefasst! Nur ich, ich bin ja über ihn gestolpert und …“ Lea wischte ihre Handflächen über die Seiten ihrer Jeans.
„Haben deine Schulkameraden die Bestie gesehen?“
„Ich sag doch, die waren nicht in meiner Nähe. Klar hab ich ihnen erzählt, dass mich ein Werwolf verfolgt hat, aber Peer meinte, ich sei verrückt, das wäre wohl mein Running Gag des Tages und ich hätte zu viele Horrorfilme gesehen. Jannik hat gesagt, ich hab ihm wohl einen Joint geklaut und heimlich im Wald geraucht. Sie haben mich ausgelacht.“
„Und Maximilian Grünhagen?“
„Der hat natürlich mitgelacht. Klar. Wir Mädchen fanden es nicht lustig, außer Kristina, die hat sich zu den Jungs gesellt. Das hat mich echt geärgert, die kann sich meine Freundschaft abschminken. Aber irgendwie war das klar. Kristina von Kleist, reich und verwöhnt. Ihre Partys sind begehrt. Wer bei den von Kleists eingeladen wird, der gehört dazu. Ihnen gehört das riesige Gestüt am Ortsrand. Es ist noch größer als das Reiterhotel der Bachs in Rehlingen.“ Lea verdrehte die Augen. „Mich interessiert dieses Gehabe nicht. Wer hat das größte Haus, Boot und Auto?“
„Wo war Konstantin? Hat er dich auch ausgelacht?“
„Nein. Konstantin hat sich mit Peer, Max und Jannik gestritten. Sie sollten mich in Ruhe lassen, sonst schickte er ihnen seine Rechte, das wäre dann der Running Gag des Tages, nicht ihr blödes Lachen.“ Lea strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die an ihrer nassen Wange klebte. Über ihrer rechten Augenbraue und der rechten Wange hatte sie eine blutende Schürfwunde, und ihre Hände waren von Büschen und Zweigen zerkratzt. Auf ihrem dunkelblauen Blouson und ihrer Bluejeans zeigten sich Blutspuren, die von ihrem Sturz über ihren Lehrer herrührten.
„Er wollte es gleich mit allen dreien aufnehmen? Du hast einen tollen Freund, Lea“, sagte Inka, dann: „Aber wieder zurück. Hat Konstantin gesagt, warum er nicht zu eurem verabredeten Treffpunkt gekommen ist?“
„Ich hab gar nicht gefragt. Ich war nur froh, dass er bei mir war.“
„Natürlich. Ihr standet inzwischen alle auf der Brücke. Was geschah weiter?“
„Klara sagte, wir müssen sofort die Polizei rufen. Peer riss ihr aber das Handy aus der Hand. Er meinte, niemals würde er einen toten Biolehrer melden und schon gar keinen Werwolf. Wenn rauskäme, dass sie ein Paintballspiel veranstaltet hätten, er die Sachen aus der Halle des Kumpels seines Vaters heimlich ausgeliehen hätte, könne er sich für die nächsten Monate im Keller einquartieren. Sein Alter würde garantiert vor Wut kochen und ihm alle Vorzüge einschließlich der Kreditkarte streichen. Mir war das egal, ich hab mein Handy aus der Hosentasche gezogen und die Hundertzehn gerufen. Auch Jannik hat geflucht und mich wieder als Bitch beschimpft. War logisch, dass Ärger mit der Polizei auch Ärger mit den Eltern bedeutete, so angetrunken, wie er war. Peer sagte, er würde abhauen, auf den Zoff hätte er keinen Bock. Konstantin hielt ihn am Arm fest. Er müsse dableiben, wie wir anderen. Wenn nicht, hielte er garantiert nicht den Mund, sondern würde rausposaunen, wer am Spiel teilgenommen hat. Peer ist trotzdem abgehauen. Jannik auch, er meinte, seine Alten würden das schon klären.“
„Wie hat er das gemeint? Klären?“
„Seine Eltern sind Rechtsanwälte. Macht Jannik Unsinn … na ja, er ist von den Herzog-Brüdern das schwarze Schaf in der Familie, aber seine Eltern pauken ihn immer wieder aus der Scheiße.“
Inka nickte. „Das soll es geben.“
„Max und Jannik sind Peer über die Laufstrecke der Seepromenade hinterher, die wir einmal die Woche mit unserem Sportlehrer laufen. Doch weit sind sie nicht gekommen, weil ein Streifenwagen die Auffahrt zum See hochkam und sie einfangen hat. Diese Idioten.“
„Habt ihr den Fußabdruck über dem Kopf eures Lehrers gesehen?“
„Ja klar, aber dass mich ein stinkendes Ungeheuer, dieser Werwolf, verfolgt hat, hat trotzdem niemand geglaubt. Selbst Konstantin hat mich skeptisch angesehen. Ich kann es ja selber nicht glauben, aber es war so. Ich schwöre es. Einfach grauenhaft. Dieses Vieh wollte mich töten.“
„Und das geschah, bevor du Hendrik gefunden hast. Ist das richtig?“, vergewisserte sich Inka erneut.
„Ja, diese stinkende Bestie hat mich bis auf die Brücke gejagt, bis ich über Hendrik gestolpert bin. Als ich aufgestanden bin, war sie plötzlich verschwunden und Klara kam mir entgegen.“
„Und das Zeichen der …“
„Sie meinen die Wolfsangel“, nahm Lea Inka das Wort aus dem Mund. „Sicher haben wir das gesehen. Taucht ja geschichtlich im Unterricht immer wieder auf. Hermann Löns, Hitler, Himmler und so. Bei uns an der Hofeinfahrt liegt auch ein Grenzstein mit dem Zeichen.“
„Ja, der ist vielerorts zu finden“, bestätigte Inka. Sie erinnerte sich an ihren Vater, als der vor dem großen grauen Grenzstein an ihrer Hofeinfahrt stand. Mutter wollte den Stein entfernen, aber Vater war dagegen, weil es ein Stück Geschichte sei. Irgendwann pflanzte Mutter Bodendeckerpflanzen um den Stein, die im Laufe der Jahre mit immergrünen Blättern den Stein und seine Geschichte fest umschlossen. „Wie spät war es, als du Hendrik gefunden hast?“
„Es muss halb zwei gewesen sein. Es war so … so schrecklich“, flüsterte Lea. Tränen rannen über das Gesicht der Schülerin. „Hendrik war ein wirklich netter Lehrer“, schniefte sie. „Ich hör noch immer die schweren dumpfen Schritte, das Keuchen und Schnaufen, die brennenden Augen, die mich verfolgten. Ich hatte eine Höllenangst. Das Tier war so gewaltig groß. Und dann Hendriks blutiges Gesicht und sein zerfetzter Oberkörper. Ich glaub … ich glaub, mir wird schlecht.“ Lea eilte hinter die Schranke und erbrach sich neben einem Wacholder.
„Es tut mir sehr leid. Eine Leiche zu finden, ist schwer zu verkraften“, sagte Inka, während sie sich neben Lea stellte, ihr den Rücken streichelte und ihr ein Paket Papiertaschentücher reichte. Im Hintergrund waren die Stimmen der Eltern und Schüler zu hören, die von ihren Kollegen befragt wurden. Im Licht der Scheinwerfer sah Inka, wie die letzten Fahrräder in Kofferräumen verstaut wurden. „Ich könnte dir einen Psychologen …“
„Nein“, wehrte Lea ab und wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund. „Ich schaff das schon. Außerdem sind meine Eltern Psychologen. Ich will nur nach Hause, die Klamotten ausziehen und unter die Dusche.“ Sie sah an ihrer blutverschmierten Jacke und der Jeans herunter.
„Das kannst du auch“, sagte Inka.
Sie sah Lea nach, wie sie in die Arme ihrer Eltern flüchtete, als wäre wieder eine Bestie hinter ihr her. Ein Werwolf. Wie sollte sie das nur glauben? Doch was hatte das Mädchen dann im Wald gesehen? Konnte es ein verkleideter Mitschüler gewesen sein, der Lea erschrecken wollte? Aber warum? Und wer hatte Stunden zuvor den Lehrer getötet? Oder spielten dem Mädchen in der Dunkelheit ihre Wahrnehmung und der Alkohol, den sie getrunken hatte, einen Streich? Womöglich war nicht nur die Flasche Gin, sondern auch ein Joint herumgereicht worden. Unmerklich schüttelte Inka den Kopf.
Jannik Herzog debattierte mit seinen Eltern, wobei er heftig schwankte und sich immer wieder an den Kotflügel des SUV seiner Eltern lehnen musste, um nicht umzufallen. Inka sah, wie sein Vater ihn an den Oberarmen packte und aufrichtete. Beim Vorbeigehen schnappte sie Wortfetzen auf. „Verdammt! Reiß dich zusammen! Wieder mal du! Beispiel an deinem Bruder! Angestellt! Ehrenrunde! Nachspiel!“
Kapitel 2
Wolfgang Kohlhase, der Reporter des Hanstedter Heideblattes, traf am Tatort ein.
„Du meine Güte, der hat mir noch gefehlt. Hat er am See geschlafen oder warum taucht er jetzt schon auf, es ist gerade kurz vor drei am Morgen?“, fragte Inka ihre Kollegen Mark und Amselfeld, als sie den Reporter in seinem weißen Transporter über die schmale asphaltierte Auffahrt bis vor die Absperrung fahren sah. Sie konnte den Kerl einfach nicht ausstehen. Mit seinem Transporter, in dem es aussah wie in einer Raumstation, war er zu jeder Tageszeit an jedem Heideort präsent. Und ob Diebstahl, Wohnungsbrand oder Mord, seine Mediengeilheit fand keine Grenzen. Grenzen, die er gerne in seinen Artikeln mit eigener Meinung überschritt und ausufernd ausschmückte.
Wolfgang Kohlhase wuchtete seine massigen Kilos aus dem Wagen und winkte Inka mit seinem Basketballcape zu. Knapp eins sechzig groß, untersetzt und kaum Haare auf dem Kopf, sah der Reporter in seiner Jogginghose aus, als käme er gerade aus dem Bett. Inka konnte sich dem Gedanken nicht verwehren, dass er tatsächlich in seinem Transporter nächtigte, um so schneller am nächsten Geschehen zu sein.
„Kohlhase, was treiben Sie hier?“, fragte Inka. Mit schnellen Schritten eilte sie auf den Reporter zu, der sich unter dem Absperrband hindurchzudrücken versuchte.
„Was ist los, Frau Brandt? Schlecht geschlafen? Ich mach nur meine Arbeit.“ Er richtete sich vor Inka auf.
„Es gibt keine Auskunft.“ Sie verwies den Reporter zurück hinter die Absperrung.
„Aber ein Mädchen …“, er nickte in die Gruppe der Eltern und Schüler, „… ist über eine Leiche gestolpert. Wie ich hörte, war der Täter ein Werwolf. Das ist eine Sensation, die die Heidebevölkerung erfahren muss.“
„Wir haben einen Toten, ja, aber mehr gibt es für Sie nicht zu schreiben. Es gibt keinen Namen oder weitere Ermittlungen, die ich Ihnen preisgeben werde, und es gibt keinen Werwolf. Also verschwinden Sie.“
„Haben die Schüler etwas mit dem Mord zu tun? Den Wolf mit Silberkugeln erlegt? Wurde jemand gebissen? Wird es eine Gestaltwandlung geben?“ Kohlhase war nicht zu stoppen. „Ich sehe Grünhagen aus der Steuerkanzlei und die Bachs vom Reiterhotel. Und da drüben stehen Anwalt Herzog und der vom Autohaus, der Sahlmann, Arztfamilie Ohlsen, das Hübner Schauspielerehepaar, die von Kleists sind da und die Doktoren Waldmann ebenfalls. Ihre Kinder gehen alle auf das Eliteprivatgymnasium unseres Heidepastors Wilhelm Bode in Amelinghausen. Stimmt’s, Frau Brandt?“ Er hob die Hand und stach mit einem seiner Wurstfinger durch die Luft in Richtung des Cafés, neben dem sich die Schüler in kleinen Grüppchen mit ihren Eltern aufhielten.






