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„Ende der Woche gibt es eine Pressekonferenz, auf der Sie sich informieren können.“ Ohne einen Gruß drehte sich Inka um. Sie hörte, wie der Kameraauslöser klickte und kleine Blitze wie Pfeile an ihr vorbeischossen. Inka warf dem Reporter einen Schulterblick zu. „Verschwinden Sie, Kohlhase, sonst lass ich mir für Sie etwas einfallen.“
Als Kohlhase zu seinem Wagen schlurfte, trudelte der nächste Nachrichtenvan ein. Die Nachricht, dass ein Werwolf in der Lüneburger Heide am Lopausee in Amelinghausen gesichtet wurde, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Eine hochgewachsene Brünette stieg aus ihrem Wagen. Wie bei Kohlhase hing ihr eine Kamera um den Hals, die bei jedem ihrer schweren Schritte über ihrem Bauch hin und her baumelte. Auf der Seite ihres schwarzen Vans las Inka in weißer Aufschrift LAN-Fernsehen.
„Guten Morgen“, sagte sie. „Entschuldigung, das Händeschütteln hab ich mir abgewöhnt.“ Sie lächelte. „Sie müssen Frau Brandt sein.“ Ohne auf Inkas Antwort zu warten, plauderte sie munter weiter. „Ich bin Beas Mutterschaftsvertretung.“ Sie winkte Mark zu, der inmitten der Eltern stand und Personalien aufnahm. „Mark weiß Bescheid, dass ich hier bin.“
„So, na dann. Was kann ich für Sie tun?“, fragte Inka.
„Mir erzählen, was hier los ist. Ein Werwolf soll am Lopausee sein Unwesen treiben und gemordet haben. Was sagen Sie dazu, Frau Brandt? Was ist wahr daran und was nicht?“
„Frau …“
„Entschuldigung, ich hab mich nicht vorgestellt. Helma Flöter.“
„Frau Flöter, ich weiß nicht, was Sie mit meinem Kollegen Mark Freese besprochen haben, aber ich werde Ihnen zu diesem Zeitpunkt keine Auskunft erteilen.“ Inka spiegelte sich in den Brillengläsern der Reporterin. Und auch ohne in einen Spiegel zu sehen, erkannte sie, dass sie verdammt müde aussah.
„Och, kommen Sie, Frau Kommissarin. Nur ein paar kleine Details, so unter dem Tisch. Ich muss doch was über den Sender laufen lassen. Sind Drogen und Alkohol bei den Kids im Spiel? Das Elitegymnasium war ja vor einem Jahr bereits in den Schlagzeilen. Nur die eine Frage, Bea ist doch …“, begann sie munter ohne einen Anflug von Müdigkeit zu dieser frühen Morgenstunde.
„Woher stammen Ihre Informationen über den Werwolf, Frau Flöter?“
„Aber, aber, Frau Brandt, Sie wissen doch, wir Reporter dürfen unsere Quellen nicht preisgeben.“ Helma Flöter blinzelte verschwörerisch. „Aber so unter der Hand, ein paar Informationen austauschen, das …“, begann die Reporterin, als Inka sie barsch unterbrach.
„Ich weiß nicht, was Sie für eine Vorstellung von meiner Arbeitsmoral haben, Frau Flöter, aber um es klar auszudrücken, es gibt keine Sonderbehandlung, nur weil Bea mit meinem Kollegen verheiratet ist. Sie werden die Pressekonferenz, die möglicherweise in der nächsten Woche stattfindet, abwarten müssen. Einen schönen Tag.“
Inka drehte sich um und ließ die Fernsehreporterin stehen, die hinter ihr herrief, sie möge ihr wenigstens eine Frage beantworten. In der Vergangenheit waren die Presse und das Fernsehen bei der Suche nach Zeugen oder Verdächtigen öfter eine Hilfe gewesen, und die Frage der Reporterin nach Alkohol war, so wie Jannik schwankte, durchaus berechtigt. Trotzdem konnte sie die neugierigen Fragen der Reporter nicht ausstehen. Bea, mit vollem Namen Joulie Sophie Beatrice de Leclerc, seit vier Monaten Marks Ehefrau, benahm sich zurückhaltend und bewies Diskretion, bis Fritz Lichtmann, Inkas Chef, ihren Artikel abgesegnet hatte. Eine Übereinkunft, die funktionierte. Mit Helma Flöter würde er nicht warm werden, das war gewiss. Sie sah zu Mark, der seinen Notizblock zuklappte und mit großen Schritten auf sie zueilte.
„Na, bist du durch?“, fragte Inka und beobachtete, wie sich die letzten Elterngruppen mit ihren Kindern auflösten.
„Ja. Rommel nimmt die letzten zwei Personalien auf“, sagte Mark. „Das war die Flöter.“ Mark wippte mit dem Kinn zum Fernsehvan, der über den Sandweg Richtung Hauptstraße davonrollte. „Sag mir nicht, sie wusste, was hier los war?“
„Sie meinte, du wüsstest, dass sie hier auftaucht.“
„Sicher nicht!“, protestierte Mark. „Bestimmt hat sie sich mit Kohlhase zusammengerottet.“
Inka nickte. „Ich frag mich nur, woher die beiden das mit dem Werwolf haben.“
„Na, woher wohl? Kohlhase hat wieder den Polizeifunk abgehört, was sonst?“, sagte Mark und wippte mit dem Kinn zum Transporter, in dem der Reporter weiter auf Nachrichten hoffend ausharrte.
Inkas Handy klingelte. Amselfeld ruft an, las sie auf dem Display.
„Ja, Kollege“, sagte sie.
„Wir haben den Platz gefunden, an dem Schubert angegriffen wurde.“
Inka suchte mit den Augen die Umgebung ab. Weit konnte Amselfeld nicht sein, seine Stimme klang, als würde er neben ihr stehen. „Wo sind Sie?“
„Neben dem Parkplatz. Ungefähr zehn Meter von Ihnen entfernt.“
Inka scannte erneut die Umgebung. Durch das winterlich lichte Buschwerk auf dieser Seite des Sees stachen die Scheinwerfer der restlichen Autos, die kreuz und quer auf dem Parkplatz standen. Hinter dem Absperrband auf dem Weg der Seepromenade stand Amselfeld und winkte mit den Armen in der Luft, als wolle er eine Schar Fliegen vertreiben.
„Ja, ich sehe Sie, Amselfeld. Ich komme.“
Fridolin Kärcher und sein Team der Spurensicherung stellten erneut Scheinwerfer auf, verteilten, wie am Tatort, Schildchen mit Nummern. Vom gleißenden Licht angelockt, umschwärmten ganze Heerscharen von Insekten die von einem Metallgeländer umzäunte kleine Plattform, die in den See hineinführte. Neben einer Holzbank standen eine Flasche Champagner und zwei Gläser. Ein brauner Ledersneaker lag in einer Blutspur.
Inka sah über den See, der vom Mondlicht und von den Scheinwerfern angestrahlt wie eine große ausgebreitete silberne Folie glänzte. Rechts hinter dem See lag die rasenbewachsene Lichtung, dann der dichte Wald und dahinter die Hauptstraße, die in weitere Heideorte führte.
„Habt ihr hier auch Fußabdrücke gefunden?“, fragte Mark.
„Du meinst von einem Werwolf.“ Fridolin Kärcher schmunzelte. „Sieh her. Zwei große Abdrücke, Größe achtundfünfzig, wie neben dem Opfer. Was für ein Tier hinterlässt solche riesigen Abdrücke?”
„Ein Bär.“ Mark musterte den Fußabdruck skeptisch.
„Hier in der Heide? Ein Bär? Du hast dich wohl in der Landschaft geirrt. Oder hast du irgendwo gehört, dass bei uns heutzutage noch Bären rumlaufen?“
„Mir fällt gerade ein … vor einer Woche gastierte ein Zirkus in Amelinghausen“, sagte Amselfeld. „Der ließ zwei Tanzbären im Programm auftreten.“
„Sollte diese Quälerei nicht längst verboten sein?“, brüskierte sich Inka.
„Ja. Ich bin mit meinen Kleinen nur hingegangen, weil nichts von Tierakrobatik in der Werbung stand. Ansonsten boykottiere ich den Zirkus, der mit Tieren arbeitet.“
„Das ist richtig“, mischte sich der Kriminaltechniker ein. „Ebenso im Zoo. Was haben eine Giraffe, ein Zebra, ein Nilpferd und was weiß ich noch, eingesperrt hinter Gittern, bei uns in Deutschland zu suchen? Noch schlimmer sind die Delfinarien, in denen die Tiere im Kreis in einem gefliesten Becken herumschwimmen“, empörte sich Fridolin.
Inka wusste, dass sich Fridolin in seiner Freizeit für den Tierschutz einsetzte und Mitglied in einer Organisation war, die sich gegen Missstände des vermeintlichen Tierwohls auflehnte. „Ich stimme euch ja zu, aber kommen wir für den Augenblick auf den Fall zurück.“ Sie nickte zum Fußabdruck. „Ist es möglich, dass der Abdruck auch von einem Menschen stammt?“
„Das wäre Schuhgröße achtundfünfzig. Den Riesen musst du mir zeigen.“
„Vielleicht ein Waldarbeiter, der …?“
„Um diese Jahreszeit sind keine Waldarbeiter unterwegs, Inka. Und selbst wenn, gäbe es einen Schuhabdruck und keinen Fußabdruck.“ Kärcher wies auf die langen Zehen und Krallenspuren, die sich deutlich in den Sand und das Blut gegraben hatten.
„Was soll es sonst gewesen sein? Ein Werwolf, den Lea Ohlsen gesehen haben will und der Hendrik Schubert und eine Frau angefallen hat, die sich hier“, Inka wies auf die Champagnerflasche und die Gläser, „bei einem Stelldichein, einem Heiratsantrag oder was auch immer getroffen haben?“
„Wir haben nur ein Opfer“, resümierte Amselfeld.
„Möglich, dass die Frau vom Angreifer verschleppt wurde.“
„Wohin, Fridolin? Vielleicht in eine Wolfshöhle? Verdammt, jetzt sag mir nicht, dass du, trotz deiner Tierliebe, diesen Unfug glaubst. Das sind doch alte Geschichten, die irgendwer verbreitet und Hermann Löns irgendwann zu Papier gebracht hat. Werwolf, so ein Blödsinn.“ Lea Ohlsens Aussage kam ihr in den Sinn. Eine riesige stinkende Bestie mit roten glühenden Augen, die sie verfolgt hatte.
„Das hab ich ja nicht gesagt, aber …“
Inka winkte ab. Wie konnte Fridolin Kärcher an solch einen Unsinn glauben? „Was ist mit der Flasche Champagner und den Gläsern?“
„An einem der Gläser befinden sich Lippenstiftspuren.“
„Das passt zu dem Ring in Schuberts Hand. Das ganze Drumherum sieht tatsächlich nach einem Heiratsantrag aus“, sinnierte Inka.
„Wobei er gestört wurde“, ergänzte Mark.
„Ich hab noch etwas für euch.“ Fridolin sah sie süffisant schmunzelnd an. In der Hand hielt er den dunkelbraunen Sneaker, der Inka bereits bei Betrachtung der Plattform aufgefallen war.
„Was ist mit dem Sneaker?“, wollte sie wissen.
„Es ist ein Damenschuh der Größe achtunddreißig. Braunes Leder, kaum getragen und ein Markenschuh der Firma Dassenberg. Ziemlich teuer. Meine Frau hat sich vor vier Wochen die gleichen Schuhe gegönnt, nur in Knallrot. Hier, sieh auf das Emblem an der Innenseite“, erklärte er. „Es sollte nicht schwer festzustellen sein, welchem Aschenputtel dieser Schuh gehört. Es gibt nur ein Geschäft in der Heide, das diese Schuhe führt, und das hat seinen Sitz in der Bahnhofstraße der Lüneburger Innenstadt.“
„Einen zweiten Schuh habt ihr nicht gefunden?“, fragte Inka. Erst ein Werwolf und jetzt Aschenputtel. Es reicht, dachte sie, während sie die goldfarbene Stickerei des Schuhs betrachtete.
Kärcher verneinte. „Aber einen weiteren Fußabdruck mit Faserspuren, der von schwarzen Socken stammt und Richtung See weist. Die Frau hat den Schuh verloren, als sie in den See gesprungen ist.“
„Die Frau ist in den See gesprungen, bist du dir da sicher, Fridolin?“
„Absolut. Der Abdruck zeigt Richtung See und hört kurz vor der Kante der Plattform auf. Möglicherweise ist sie im See ertrunken, weil …“
„… die Bestie sie vorher getötet hat“, vervollständigte Mark den Satz des Kriminaltechnikers.
„Dann hätte sie schwer springen können“, berichtigte Fridolin.
„Ich glaub da nicht dran“, mischte sich Inka ein. „Die Blutspuren entfernen sich vom Geländer der Plattform.“
„Die Blutspuren ja, Inka, aber nicht der Fußabdruck, der eindeutig von einer Frau stammt. Sie ist in den See gesprungen oder meinetwegen wurde sie geschubst, geworfen oder was euch lieber ist. Aber es sind die einzigen Abdrücke in Größe achtunddreißig, die hier zur Plattform führen und hier enden. Ihr müsst davon ausgehen, dass nur der Lehrer angegriffen wurde. Vielleicht hat er von der Frau abgelenkt und seinen Angreifer Richtung Brücke gelockt. Ich sag den Soltauer Kollegen, sie sollen Taucher schicken.“
„Ich verstehe das nicht, Mark“, sagte Inka, während sie nachdenklich die Plattform verließ. „Wieso rennt der Lehrer zur Brücke? Hatte er kein Auto dabei? Der Parkplatz ist nur zehn Meter entfernt.“
Inka drehte sich dem Kriminaltechniker entgegen und rief: „Habt ihr einen Personalausweis gefunden?“
„Nein. Wir haben nur das, was Teresa gefunden hat. Am Tatort und im nahen Umkreis lag nichts, aber wir suchen weiter.“
„Danke. Also gut“, sagte sie wieder an Mark gewandt. „Dann fahren wir jetzt in die Schule.“ Sie ging Richtung Parkplatz, auf dem sich die letzten Eltern mit ihren Kindern auf den Heimweg machten.
„Jetzt?“
Inka sah auf ihre Armbanduhr. Kurz nach drei Uhr. „Hast recht, ist etwas früh. Fahren wir nach Hause und treffen uns um neun Uhr am Gymnasium.“
Kapitel 3
Direktor Willibald Busch öffnete seine Anzugjacke und setzte sich schnaufend in seinen Ledersessel hinter seinen Schreibtisch. Ein kleiner stämmiger Mann, der mit ruhigen Bewegungen und einem Lächeln auf dem Gesicht Gemütlichkeit ausstrahlte.
„Hendrik Schubert, tot, ermordet. Ich kann es nicht fassen“, sagte er, verblüfft über diese Neuigkeit. Er griff sich an seine rosenbedruckte Krawatte, die gelockert über seinem weißen Hemd lag, und rückte sie ein Stückchen nach rechts. „Wer hat das getan?“
„Das wissen wir leider nicht. Aber darum sind wir hier. Acht Schüler Ihres Gymnasiums haben gestern Abend seine Leiche am Lopausee gefunden. Eigentlich hat nur Lea Ohlsen das Opfer gefunden“, verbesserte Inka und setzte sich in den von Busch angebotenen Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch.
„Sie sagten, es waren acht Schüler unseres Gymnasiums.“
„Ja. Sie haben am See ein Paintballspiel veranstaltet.“
„Paintball?“ Willibald Busch schüttelte den Kopf und auf seiner Stirn bildeten sich Falten. „Bestimmt gehörten Peer Bach und Jannik Herzog auch zu der Gruppe. Oder?“ Der Direktor registrierte Marks Nicken.
„Sind diese Schüler auffällig an Ihrem Gymnasium?“, fragte Mark nach.
„Auffällig. Was meinen Sie?“ Busch wartete keine Antwort ab. „Welcher Schüler ist heutzutage nicht auffällig?“, sagte er schnell.
„Wir denken an Alkohol und Drogen, nicht an dumme Jungenstreiche wie: Hurra, die Schule brennt“, sagte Mark.
„Verstehe. Natürlich. Ja, wir sind mit diesen Problemen konfrontiert worden. Leider. Vor einem guten halben Jahr wurden wir aufmerksam. Genauer, Hendrik, also Herr Schubert, bemerkte Veränderungen an den Schülern. Er kam zu mir ins Büro und äußerte seinen Verdacht, dass ein paar Schüler der elften Klasse sich eigenartig aufführten, schwankten, nach Alkohol rochen. Ich sagte ihm, er könnte sich getäuscht haben und dass wir abwarten und keinen Wirbel machen sollten. Schließlich sind wir eine Privatschule, und wenn die Presse davon wieder Wind bekommt, dann …“ Busch griff zum Wasserglas, das neben einer Mineralwasserflasche stand. „Verstehen Sie, es sind viele Akademikerkinder, die wir unterrichten. Das macht schnell die Runde. Und dieser Mord wirft auch kein gutes Licht auf unsere Schule.“ Er stellte das Glas, ohne getrunken zu haben, wieder neben die Flasche.
„Sie meinen, so wie vor einem Jahr, als ein Dealer vor Ihrer Schule gefasst wurde und sich herausstellte, dass es einer Ihrer Schüler war, der die Drogen vertickte.“
Willibald Busch wand sich auf seinem Stuhl und druckste herum, dann sagte er: „Dieser Schüler wurde umgehend unserer Einrichtung verwiesen. Seitdem ist kein Fall mehr aufgetreten. Die Lehrerschaft veranlasste eine weitreichende Aufklärung, um die Schüler über den Alkohol- und Drogenmissbrauch und die katastrophalen Folgen aufzuklären.“
„Und dennoch haben wir am Lopausee die Reste eines Joints gefunden.“
Willibald Busch zuckte nervös die Schultern. „Und der ist von einem Schüler unserer Einrichtung?“
„Davon gehen wir aus.“
„Sie haben einen Verdacht, Herr Kommissar?“
„Wir arbeiten daran.“
„Ich werde mich ebenfalls persönlich darum kümmern“, antwortete Willibald Busch. Nickend, seine Worte unterstreichend, sah er von Inka zu Mark.
„Wie viele Schüler ausnahmslos reicher Eltern unterrichten Sie an Ihrem Gymnasium?“, wollte Mark wissen.
Willibald Busch räusperte sich, dann sagte er: „Um die zweihundert Kinder. Ich müsste nachsehen.“
„Das ist nicht nötig. Aber mich würde interessieren, wie hoch das monatliche Schuldgeld ist.“
„Sie wollen ein Kind an unserer Schule anmelden?“, stellte Busch die Gegenfrage.
„Nein. Für die Schule ist mein Sohn noch zu klein. Also?“
„Um die dreitausend Euro. Der Betrag hängt von den finanziellen Mitteln der Eltern ab und wird individuell errechnet.“
„Das ist ordentlich.“ Mark pustete. „Kommen wir zurück auf Hendrik Schubert. War er verheiratet?“
„Ja, das war er. Allerdings ist Hendrik aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen.“
„Sie haben persönliche Einblicke in die Familiensituation der Schuberts?“
„Hendrik hat es mir erzählt. Wir gehen untereinander offen mit den Lebenssituationen des jeweiligen Kollegen um. Hendrik hat sich wegen einer anderen Frau von Susanne getrennt. Anna Weiler. Vielleicht kennen Sie sie sogar. Ihr gehört die Windparkfirma Kobarski & Weiler in Schwindebeck.“
„Nein.“ Inka schüttelte den Kopf und sah zu Mark, der ebenfalls verneinte. „Sie kennen Herrn Schuberts Frau?“
„Susanne. Natürlich. Sie unterrichtet an unserer Schule Religion.“
„Wir brauchen Hendrik Schuberts neue Adresse. Und wir müssen mit seiner Frau sprechen.“
„Natürlich. Meine Sekretärin wird Ihnen die aktuelle Adresse heraussuchen. Ich weiß aber, dass er zu seinem Vater auf den Campingplatz Mühlenkamp gezogen ist.“
„Das ist einer der zwei Campingplätze, die am Lopausee liegen?“
„Am Lopausee. Ja, ganz genau, Frau Kommissarin.“
„Hendrik Schubert war Biologielehrer und Vertrauenslehrer. Wie war er so zu den Schülern? Eher streng oder eher locker? Gab es Schwierigkeiten, hatte er Streit mit einem Schüler? Wir hörten, die Schüler sprachen ihn mit dem Vornamen an.“
„Hendrik war bei jedem Schüler beliebt. Und bei uns ist es üblich, dass die Schüler ihre Lehrer beim Vornamen ansprechen. Es sind junge Erwachsene, und ein Du ist vertraulicher und einfacher auszusprechen.“
„Und bei den Schülerinnen war er ebenfalls beliebt?“
„Natürlich auch bei den Schülerinnen. Was soll das heißen?“
„Herr Schubert war sechsunddreißig Jahre alt und durchaus als attraktiv anzusehen.“ Inka blickte auf eine Bilderfront an der linken Wandseite, die Lehrerporträts zeigte.
„Sie meinen, ob er … Nein, das muss ich verneinen.“ Willibald Busch folgte Inkas Blick. „Hendrik hätte nie und nimmer … Nein. Obwohl, ja, es gab die ein oder andere Schülerin aus der zwölften Klasse … Hendrik erzählte darüber im Lehrerzimmer. Marlene ist achtzehn geworden und die einzige Tochter einer Arztfamilie, verwöhnt und durchaus eine hübsche junge Frau. Sie war, Schüler würden sagen, rattenscharf auf Hendrik. Sie ist ihm nach der Schule hinterher, hat ihn ein paar Wochen gestalkt. Als dies nicht aufhörte, habe ich sie in die Parallelklasse versetzt, in der Anja, Frau Matthiesen, den Biologieunterricht gibt. Ab da war Schluss und auch, als sie merkte, dass Hendrik ihre Verführungskünste ignorierte.“
„So einfach, Schluss? Weiter nichts?“
„Weiter nichts. Hendrik hätte es erzählt. Wie ich sagte, wir gehen sehr offen mit allen Problemen um.“
„Gab es unter den Kollegen Reibereien? Neid?“
„Nein, bei uns herrscht ein harmonisches Lehrerkollegium. Ich hätte es bemerkt, hätte es Unstimmigkeiten oder sogar Streit gegeben.“
„Seit wann unterrichtete Herr Schubert an Ihrer Schule?“
„Drei Jahre. Er kam zusammen mit seiner Frau.“
Susanne Schubert war eine zweiunddreißigjährige Brünette. Kurze Ponyfransen umrundeten ihr schmales Gesicht. Ihr dezentes Make-up belief sich auf Wimperntusche und einen roséfarbenen Lippenstift. Sie trug Bluejeans und einen kakifarbenen dicken Wollpullover mit V-Ausschnitt, unter dem ein dunkelblauer Blusenkragen hervorstach. Sie war nicht größer als Inka mit ihren ein Meter zweiundsechzig, auch wenn sie in ihren hochhackigen Pumps so wirkte oder wirken wollte.
„Das ist ja grauenhaft. Wie schrecklich.“ Susanne Schubert drückte die Fingerspitzen der rechten Hand vor den Mund. In ihre Augen traten Tränen. „Wer, ich meine, wer kann das getan haben?“, fragte sie und nestelte nach einem Taschentuch aus ihrer Hosentasche.
„Wir haben gehofft, dass Sie uns darüber etwas sagen könnten. Hatte Ihr Mann Streit mit einem Kollegen, Freund, Nachbarn oder …?“
„Nein, nicht dass ich wüsste. Außer mit unserem Direktor.“
„Worum ging es bei dem Streit?“
„Eigentlich um eine Lappalie. Hendrik wollte mehr Stunden für seinen Unterricht, um seinen Schülern die Heide und die Natur noch näher zu bringen. Busch hat es abgelehnt. Der Topf für die Finanzierung wäre leer. Sie haben darüber gestritten. Immer wieder. Hendrik meinte, er könne ja die Eltern der Schüler um eine Spende bitten. Aber Busch setzte dagegen. Der letzte Spendenaufruf wegen des neuen Bodenbelags der Turnhalle sei gerade zwei Monate her und er könne nicht schon wieder die Hand ins Portemonnaie der Eltern stecken.“ Susanne Schubert schnäuzte ins Taschentuch und lehnte den Rücken stützend gegen die Flurwand.
„Herr Busch erzählte, Ihr Mann würde bei seinem Vater auf dem Campingplatz Mühlenkamp wohnen.“
„Ja, das ist richtig. Er ist zu seinen Eltern in das Mobilheim gezogen, vorübergehend, bis er eine Wohnung findet, finden wollte.“
„Warum haben Sie sich getrennt?“
„Hendrik …“ Susanne zog ein weiteres Papiertaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich die Nase. „Hendrik hatte nur seine Arbeit im Kopf. Er war mit Leib und Seele Biologielehrer. Aber nicht nur das, nach der Schule war er in der Heide mit Flora und Fauna beschäftigt. Unsere Ehe … ich saß ständig alleine zu Hause. Mit der Zeit haben wir uns voneinander entfernt. Irgendwann lebten wir nur noch als Bruder und Schwester zusammen. Wir haben uns respektiert, vertraut, aber … Na ja, es fehlte das Zusammensein, die gemeinsame Zeit, die Zärtlichkeit und die Leidenschaft, wenn Sie verstehen. Er hat mich nicht mehr als Frau gesehen, eher als Partner einer Wohngemeinschaft. So konnte es nicht weitergehen. Das haben wir beide eingesehen und die Scheidung eingereicht“, ergänzte sie.
„Frau Schubert, war der Grund Ihrer Trennung nicht eher eine andere Frau?“
„Nein! Natürlich nicht! Hendrik hätte mich nie betrogen.“
„Kennen Sie Anna Weiler?“
„Nein. Wer soll das sein?“
„Frau Weiler ist die Inhaberin der Windparkfirma Kobarski & Weiler aus Schwindebeck.“
„Nein. Noch nie gehört. Mich interessieren diese Türme nicht.“
„Aber Ihren Mann als Biologielehrer, und, wie Sie selbst sagen, als Naturfreund hätten diese Anlagen interessiert. Es ist doch möglich, dass er auf seinen Naturexkursionen durch die Heide Frau Weiler begegnet ist.“
„Alles ist möglich. Nur können wir ihn nicht mehr fragen“, antwortete Susanne scharfzüngig.
„Warum hat Ihr Mann sich keine eigene Wohnung gesucht?“
„Woher soll ich das wissen? Mir hat er nichts mehr von seinen Zukunftsplänen erzählt. Ich weiß nur, dass die Hilde, Walters Frau, Hendriks Mutter, in Bayern bei ihrer Schwester zu Besuch ist. Hendrik meinte, sie käme in zwei oder drei Wochen zurück und dann würde er aus dem Mobilheim wieder ausziehen. Er hätte noch viel vor in seinem Leben. Was es ist, hat er mir nicht verraten. Nur, dass es für mich sowieso nichts wäre.“
„Wollte Ihr Mann ebenfalls in ein Mobilheim ziehen? Das Haus aufgeben und ohne Schulden leben? Meinte er diese Veränderung, die nichts für Sie gewesen wäre?“
„Nein, Hendrik würde nie in so eine kleine Bude ziehen, dazu ist er zu freiheitsliebend. Er braucht Platz und die Weite um sich herum. Enge, wie in einem Mobilheim, würde ihn erdrücken.“
„Ihr Schwiegervater wohnt auf einem Campingplatz. Vielleicht wollte Ihr Mann sich einschränken, um in der Nähe seiner Eltern zu leben.“
„Niemals. Haben Sie nicht zugehört? Hendrik war kein Campingtyp. Und seine Eltern hatten keine andere Wahl. Walter war als Schlosser selbstständig und hat kaum für seine Rente einbezahlt. Hilde war Hausfrau. Es ging ihnen gut. Doch jetzt ist nichts übrig geblieben. Das, was er an Rente hat, reicht zum Überleben, aber nicht für eine normale Miete. Für ihr Angespartes haben sie das Mobilheim gekauft.“
„Haben Sie und Ihr Mann Kinder?“
„Nein, wir wollten noch zwei Jahre warten, bis das Haus abbezahlt ist, und uns dann entscheiden, aber …“ Susanne schluckte.
„Gibt es eine Lebensversicherung?“
„Ja. Wir haben beide eine abgeschlossen, schon vor Jahren.“
„Sie werden das Haus erben.“
„Ich denke ja. Wie gesagt, es gibt keine Kinder.“
„Wird die Versicherungssumme reichen, um das Haus abzubezahlen?“
„Wenn Sie glauben, dass ich meinen Mann umgebracht habe, weil ich das Haus erben will, sind Sie auf dem falschen Weg. Wir haben ab und an gestritten, ja, aber … ich hätte ihn nie umgebracht, ich … ich habe ihn geliebt, irgendwie.“






