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„Ihr Mann hatte zwanzigtausend Euro bei sich, als wir ihn fanden. Haben Sie eine Ahnung, woher das Geld stammt?“
„Nein. Zwanzigtausend? Nein. Wir haben kaum zweitausend auf unserem Konto. Der größte Teil, den wir verdienen, geht für die Abzahlung des Hauses drauf.“
„Wo waren Sie gestern Abend gegen zweiundzwanzig Uhr?“, wollte jetzt Mark wissen.
„Zu Hause, alleine, ich hab die Geschichtsstunde für heute vorbereitet.“
„Sie sind Religionslehrerin.“
„Nicht nur, ich unterrichte auch Geschichte. Allerdings nur einmal die Woche, als Aushilfe für meine Kollegin. Wir teilen uns die Stelle.“
„Kann es sein, dass Sie in der Vergangenheit mit Ihren Schülern über das Zeichen der Wolfsangel gesprochen haben?“
„Das Thema bearbeiten wir seit drei Wochen. Warum fragen Sie?“
„Weil neben dem Kopf Ihres Mannes dieses Zeichen gemalt wurde.“ Dass das Zeichen mit Blut geschrieben wurde, wie der Fußabdruck des imaginären Werwolfs, verschwieg Inka.
Susanne Schuberts Blick wanderte aus dem Flurfenster hinunter auf den Schulhof. Eine Gruppe Jugendlicher stand an der roten Backsteinmauer neben dem Eingang und lachte laut.
„Glauben Sie, es war einer der Schüler, der meinen Mann ermordet hat?“, fragte sie, ohne die Kommissare anzusehen.
„Das können wir derzeit nicht sagen. Wie war das Verhältnis Ihres Mannes zu den Schülern? War er beliebt oder gab es Streitigkeiten?“
„Er war beliebt. Besonders bei den Schülerinnen. Sie haben ihn angehimmelt, doch er hat sich nichts daraus gemacht. Klar, er war stolz und fühlte sich geehrt, welcher Mann wäre das nicht, aber mehr wurde nicht daraus. Er ist da ganz souverän mit umgegangen und hat es als Jungmädchenschwärmereien abgetan. Er hat sie ignoriert, wenn sie ihm nach der Schule nachgestellt haben. Ihnen klargemacht, dass er verheiratet ist.“ Susanne lehnte sich mit dem Rücken an das Fensterbrett. Die Sonne schien in den Raum und verlieh ihren brünetten Haaren einen rötlichen Schimmer.
„Und das hat funktioniert? Ich kann mir vorstellen, dass die ein oder andere Schülerin das nicht so locker gesehen hat.“
„Na ja, da gab es eine, die war schon hartnäckig. Marlene hieß sie. Manchmal stand sie stundenlang vor unserem Haus, schickte ihm Liebesbriefe, Pralinen, Blumen, rief mitten in der Nacht an, sie buchte sogar einen gemeinsamen Wochenendflug nach New York. Das ging ein halbes Jahr. Als sie nicht aufhörte, hat Busch sie in eine andere Klasse versetzt.“
„Und dann war Ruhe?“
„Nein, dann ging es erst richtig los. Sie war wütend und hat unsere Fenster und Hauswände beschmiert. Herzchen, kopulierende Paare, Liebesschwüre, dann Totenköpfe und grässliche Monstergestalten.“
„Ein Werwolf vielleicht?“, mischte sich Mark ins Gespräch.
„Ja, alles Mögliche. Werwolf, Vampir, Teufelgestalten und, und, und. Sie war da sehr kreativ und auch begabt, das muss ich zugeben. Aber warum fragen Sie?“
„Ihr Direktor erzählte, Marlene hätte nach der Versetzung das Stalking eingestellt“, sagte Mark, ohne Susannes Frage zu beantworten.
„Nein, hat sie nicht. Wir haben es im Lehrerkollegium nur nicht mehr an die große Glocke gehängt. Wir wollten die Geschichte unter uns klären und mit Marlene und ihren Eltern reden. Wir führten ein vernünftiges sachliches Gespräch. Marlene hat eingesehen, dass wir gezwungen gewesen wären, sie anzuzeigen, wenn sie nicht aufgehört hätte, Hendrik nachzustellen. Das hat gewirkt.“
„Ab da war der Spuk vorbei?“
„Ja.“ Susanne Schubert nickte und rieb die Hände über ihre Oberarme, als würde sie frösteln. Mit skeptischem Blick sah sie die Kommissare an. „Marlene ist eine verzogene Göre. Ihre Eltern arbeiten als Schönheitschirurgen in der Hamburger Rothenbaumchaussee. Mit einer Anzeige hätten wir für die Schule und die Westmann-Hofs einen Skandal heraufbeschworen, das musste nicht sein.“
Mark hielt Inka die Fahrstuhltür des Schulgebäudes auf. „Nimmst du ihr die Geschichte ab?“, fragte er, während er im Display auf das Erdgeschoss drückte. „Ich meine, gut, es kommt immer wieder vor, dass Schülerinnen sich in ihre Lehrer vergucken, aber so drastisch mit Wochenendtrip und an die Wände geschmierten Monstergestalten?“
„Liebe geht seltsame Wege und kann schon recht sonderbare Formen annehmen. Und eine junge Frau, gerade dem Teeniealter entwachsen, fühlt sich schnell zurückgewiesen, nicht schön oder begehrenswert. Wer weiß, was in ihrem Kopf herumspukt, um ihr Ziel zu erreichen. Vielleicht sucht sie nur Aufmerksamkeit, die sie zu Hause selten oder gar nicht findet.“ Inka dachte an Kollege Fallers Worte der alleingelassenen und vernachlässigten Kinder.
„Du meinst, diese Marlene kriegt alles, was sie sich wünscht, nur keine elterliche Zuwendung.“ Die Kabinentür schloss sich und der Fahrstuhl setzte sich sanft ruckelnd in Bewegung.
„Genau. Ein Pflänzchen, das in der Kindheit zu wenig gewässert wird, verkümmert und wächst schief und krumm.“
Ein Pling verriet ihren Halt. Die Kabinentür öffnete sich und ein Schwall kaltes Nikotin strömte mit drei männlichen Jugendlichen in die Kabine, bevor Inka und Mark aussteigen konnten.
„Hm, ein außergewöhnlicher Vergleich“, erwiderte Mark, als sie sich an den Jugendlichen vorbeigedrängelt hatten und über den verlassenen Schulhof zum Parkplatz gingen.
„Ja, aber es ist so. Kinder brauchen Urvertrauen, und wenn sie das nicht bekommen, kann das früher oder später zu traumatischen Folgen führen. Ich hatte das Thema in Lübeck bei der Geburtsvorbereitung“, sagte Inka erklärend und rutschte auf den Beifahrersitz in Marks Wagen, dann klingelte ihr Handy. Fritz ruft an, stand auf dem Display.
„Morgen, Fritz, was macht deine Erkältung?“
„Sie hält sich hartnäckig.“
„Hast du schon gehört, was bei uns los ist?“
„Ich hab mit Frauke telefoniert, als ich euch nicht erreichen konnte. Sie sagt, wir haben einen toten Lehrer, der von einem Werwolf angegriffen wurde. Warum habt ihr euer Telefon ausgestellt?“
„Weil wir dich mit deiner Erkältung nicht in die kalte Nacht scheuchen wollten. Außerdem waren wir eben in der Schule des Lehrers und haben mit seiner Frau, die dort ebenfalls unterrichtet, und mit dem Direktor gesprochen.“
„Was ist das für ein Blödsinn? Werwolf. Was ist am See los? Wer hat das Hirngespinst in die Welt gesetzt?“
„Acht Schüler des Amelinghausener Pastor-Bode-Eliteprivatgymnasiums haben ein nächtliches Paintballspiel veranstaltet. Eine Schülerin, Lea Ohlsen, behauptet, sie wurde von einem Werwolf angegriffen und verfolgt, bis sie über den toten Biologielehrer auf der Holzbrücke gestolpert ist.“
„Aus dem Pastor-Bode-Eliteprivatgymnasium? Verdammt! Sind da wieder Drogen im Spiel, so wie vor einem Jahr?“
„Möglich. Lea erzählte von einem Joint, den ein Mitschüler am See geraucht hat, bevor das Paintballspiel begann.“
„Wundert mich, dass es nur ein Joint war. Die Kinder, die dort in die Schule gehen, sind so stinkreich, dass sie an mehr als nur Joints rankommen könnten. Wann begreifen die endlich, wie sie sich schaden? Früher …“, begann Lichtmann und stöhnte kurz auf, „… na ja, das kann man nicht vergleichen. Früher hatten wir auch einen Kaiser.“ Inka hörte, wie ihr Chef am anderen Ende der Leitung nieste.
„Gesundheit. Mark und ich glauben nicht an den Quatsch über den Werwolf, der die Schülerin verfolgt und womöglich Hendrik Schubert getötet hat. Du kennst unsere Meinung zu diesem paranormalen Kram. Dennoch vermutet Teresa, nach der ersten Sichtung des Toten, dass der Lehrer durchaus von einem Bären oder einem anderen großen Tier angefallen worden sein könnte.“
„Ein Bär? Bei uns in der Heide? Ist das eine Löns-Geschichte, in der es noch Haide anstatt Heide hieß und wo noch Bären in der Haide lebten und die Bauern noch Haidjer waren?“, fragte Fritz Lichtmann erstaunt.
„Und die Haidjer die Römer aus dem Land trieben, weil sie keinen Zins zahlen wollten, und es erbitterte blutige Kämpfe gab, die die Haidjer allerdings verloren. Woraufhin sie dann doch Zins zahlten, sich taufen ließen und Christen wurden. Was aber nur scheinheiliges Getue war, denn pflügten sie auf dem Feld, lagen neben ihnen der Speer und die Armbrust. Und noch etwas: An Werwölfe glaubten die Haidjer nur bedingt. Es gab einen Bauern, der Wulf hieß, dieser rief eine Gruppe ins Leben, die sich ab da Werwölfe nannte und jeden niedermetzelte, der sich an Alten, Kindern und Frauen vergriff, ihn tötete oder ausraubte. Zumindest schrieb das Hermann Löns in seinem Werk Der Werwolf“, mischte sich Mark geschichtlich ein.
„Wow, und ich dachte, du hast den Geschichtsunterricht verpennt.“ Inka lachte und Fritz stimmte ein. „Aber zurück“, sagte sie. „Wir sind auf dem Weg zum Vater des Lehrers, der in einem Mobilheim auf dem Campingplatz Mühlenkamp lebt. Dort wohnte Hendrik Schubert, seitdem er sich von seiner Frau getrennt hatte.“
„Der Platz liegt nur ein paar Meter neben dem Lopausee. Wir vermuten, er wollte nach dem Angriff von der Plattform dorthin flüchten, auf der er sich mit einer Frau, möglicherweise seiner Geliebten, getroffen hat. Allerdings schaffte er es nur bis zur Holzbrücke, auf der hat ihn der Täter eingeholt. Einen Raubmord schließen wir aus, da wir das Opfer mit einem Diamantring und zwanzigtausend Euro in der Tasche fanden“, setzte Mark nach.
„Moment. Das Opfer hat sich auf der Aussichtsplattform am See mit einer Frau, aber nicht mit seiner Frau getroffen? Und er hatte einen Haufen Geld und ein teures Schmuckstück dabei?“, fragte Lichtmann nach.
„Ja. Wir vermuten, dass er mit Anna Weiler, der Unternehmerin der Windparkfirma Kobarski & Weiler, am See war. Laut Auskunft des Schuldirektors war sie Hendriks neue Flamme.“
„Die Weiler war in der Nacht auch am See? Ich kenne sie, oberflächlich, ein Bekannter beim … das führt zu weit. Aber neulich waren Charlotte und ich auf ihrer Veranstaltung der geplanten Windparkanlage eingeladen, die sie nahe Schwindebeck hochziehen will. Die Weiler und ihr Partner, der Kobarski, haben ordentlich aufgetischt und damit meine ich nicht das Büfett, sondern die Windkrafträder, die sie am Naturschutzgebiet aufstellen wollen. Allerdings las ich vor ein paar Tagen von einem Baustopp. Es geht um eine bedrohte Vogelart.“ Fritz Lichtmann zögerte. „Wie hieß der Flattermann noch, irgendetwas mit Pfeifer … na ja, fällt mir wieder ein.“
„Ob sie die Frau war, mit der sich Schubert getroffen hat, können wir nicht eindeutig sagen, dazu fehlt uns der zweite Schuh“, erklärte Mark.
„Ein Schuh?“
„Richtig. Aschenputtel hat einen Sneaker verloren, als sie laut Spusi in den See gesprungen ist oder geschubst wurde. So lautet Fridolins Aufstellung der Untersuchung.“
„Du hast das mit Blut gemalte Zeichen der Wolfsangel neben Schubert vergessen, Mark“, setzte Inka nach. Sie hörte, wie ihr Chef am anderen Ende erneut nieste.
„Eine Wolfsangel? Sagt mir jetzt nicht, wir bekommen es mit den Nazis zu tun?“, näselte Fritz.
„Wir hoffen nicht. Kurier du dich aus und lass dich von Charlotte verwöhnen.“
„Charlotte soll mich verwöhnen, wann denn? Sie arbeitet, falls du es vergessen hast. Meinen Männerschnupfen werde ich alleine los.“ Fritz lachte ins Telefon. „Meldet euch, sobald es Neuigkeiten gibt oder ihr Hilfe braucht.“
„Jawohl, Chef“, antwortete Inka schmunzelnd und legte auf.
Zehn Minuten später lenkte Mark den Wagen durch die Einfahrt auf den Campingplatz Mühlenkamp und ließ das Fahrerfenster herunter. Walter Schubert stand vor seinem Mobilheim und rauchte. Aufmerksam beobachtete er den fremden Wagen, der vor seinem Gartenzaun parkte.
„Sind Sie Herr Schubert?“, fragte Mark aus dem Fahrerfenster.
„Der bin ich. Und Sie?“ Er drückte die Kippe in einen Aschenbecher, der auf dem Boden neben einer geöffneten Fliegengittertür stand. „Wissen Sie schon, wer es war?“, fragte er leise, als Mark Inka und sich dem Senior vorgestellt und den Grund ihres Besuches erklärt hatte.
Inka musste sich Mühe geben, ihre Tränen zurückzuhalten. In den Jahren bei der Polizei fiel es ihr immer schwerer, ihre Emotionen zu kontrollieren und einen neutralen Blick auf den Fall zu bewahren. Besonders nachdem Paula am Timmendorfer Strand verschwunden war und sie zwei Tage mit ihren Kollegen und Sebastian nach ihr gesucht hatten. Sie hatte Höllenqualen ausgestanden. Ein Kind zu verlieren, egal in welchem Alter, war das Schrecklichste, was Eltern passieren konnte. Ob nun durch einen Unfall, Mord, Entführung oder nur durch Verlassensein. Verlassene Eltern. Erwachsene Kinder, die von heute auf morgen den Kontakt zu ihnen abbrechen. Hanna erzählte ihr von einem befreundeten Ehepaar, dem es mit seiner Tochter so erging. Sie sagte, die Eltern sprachen davon, es hätte ihnen das Herz herausgerissen und sie wären von einem auf den anderen Tag um Jahre gealtert. Genauso hatte sich Inka in Lübeck gefühlt. Auch nachdem sie Paula wieder gesund in die Arme schließen konnte, war der Schmerz heute noch fühlbar. Und jetzt stand vor ihr ein Vater, der seinen Sohn verloren hatte und den er nie mehr in die Arme schließen konnte. Beim Anblick des trauernden Elternteils zog sich Inkas Herz schmerzhaft zusammen. Sie schluckte schwer. Sie war fest entschlossen, den grausamen und mysteriösen Tod von Hendrik Schubert aufzuklären.
„Es tut mir sehr leid, Herr Schubert“, sagte sie. „Können wir etwas für Sie tun? Es gibt eine Psychologin, die ich Ihnen schicken und die Ihnen beiseitestehen könnte.“
„Nein. Ich möchte nur alleine sein und meine Frau anrufen.“
„Ich verstehe“, antwortete Inka, „doch müssten wir Ihnen eine oder zwei Fragen stellen. Meinen Sie, das wäre möglich?“ Sie sah den Mittsechziger, der auf einem Gartenstuhl Platz genommen hatte, fragend an.
„Ja“, sagte er schwach, den Kopf gesenkt.
„Seit wann hat Ihr Sohn bei Ihnen gewohnt?“
„Seit drei Monaten. Anfang August ist er eingezogen.“
„Was war der Grund?“
„Den hat er uns nicht gesagt. Er meinte nur, wir sollen uns nicht beunruhigen, es wird alles gut. Wir haben gedacht, dass sich mit Susanne alles wieder einrenkt. Manchmal braucht man eine Auszeit von der Ehe.“ Walter Schubert zitterte. „Muss ich meinen Sohn identifizieren?“
„Nein“, antwortete Inka. Susanne Schubert hatte sich bereit erklärt, und das, obwohl Inka sie wegen des Zustandes der Leiche vorgewarnt hatte. „Seine Frau ist einverstanden, Ihren Sohn …“
„Ich will ihn sehen und meine Frau auch, das weiß ich“, presste Schubert zwischen Inkas Satz hervor. „Schnappen Sie den Kerl, der das getan hat.“
„Ja“, erwiderte Mark. „Noch eine Frage: Besaß Ihr Sohn ein Auto?“
„Nein, er ging zu Fuß oder ist mit dem Rad gefahren. Er war ein Naturfreund. Die Luft mit Abgasen zu verpesten, war gegen seine Überzeugung.“
„Ihr Sohn hatte eine Beziehung mit Anna Weiler. Hat er erzählt, dass er wieder heiraten will?“
Schubert lächelte angespannt. „Also war es doch schon so weit. Nicht nur eine kleine Auszeit, wie Hilde und ich gedacht haben. Auf dem Kühlschrank lagen Papiere, Hendrik wird sie vergessen haben. Sie kamen vom Gericht, aber … es könnte sich ja auch um andere Dinge gehandelt haben als … Wie will er heiraten, wenn er nicht geschieden ist?“, fragte Walter Schubert besinnend, dass sein Sohn sich weder scheiden lassen noch heiraten konnte. Unmerklich schüttelte er den Kopf, dann sah er Inka mit glasigen Augen an. „Und wer ist Anna Weiler?“
„Ihr gehört die Firma Kobarski & Weiler in Schwindebeck.“
„Das sagt mir nichts.“
„Frau Weiler plant den Bau einer neuen Windparkanlage.“
„Unser Sohn war mit einer Frau zusammen, die eine Windparkanlage bauen will? Das kann ich nicht glauben. Dem hätte er nie und nimmer zugestimmt, er war ein militanter Naturschützer.“
„Sind Sie sicher, ich meine …“
„Natürlich bin ich sicher. Er hat diese Anlagen verteufelt. Wisst ihr, hat er gesagt, wie viele Vögel diese Windräder das Leben kosten? Die Tiere geraten in die Rotorblätter oder fliegen gegen Masten. Es ist die zentrale Ursache des Artenschwundes, bei dem jedes Jahr Tausende Tiere sterben. Diese Offshoreanlagen seien das Aus für Vögel und Fledermäuse. Ich kann mich genau an seine emotionsgeladenen Ausführungen erinnern. Gerade letzte Woche, da sprachen wir …“ Der Senior zögerte kurz, schluckte, dann sagte er: „Hendrik war aufgeregt. Diese Anlagen seien ,Vogel-Schredderanlagen‘, gegen die massiv vorgegangen werden müsse.“
„Und doch scheint es so gewesen zu sein, Herr Schubert.“
„Ich kann das alles nicht glauben und ich würde jetzt wirklich gerne alleine sein.“
„Nur noch eine Frage. Erlauben Sie uns, ins Haus und in das Zimmer Ihres Sohnes zu gehen?“
„Bitte. Hendrik hat auf dem Sofa geschlafen, wir haben nur zwei Zimmer auf fünfundvierzig Quadratmetern.“
Das Wohnzimmer des Mobilheims war spartanisch und doch modern mit einer dunkelblauen Polstercouch, über deren Armlehne eine graue Wolldecke hing, einem weißen Sideboard, auf dem ein Flachbildschirm stand, und einem Highboard gleicher Farbe ausgestattet. Ein Gummibaum rankte seine Verzweigungen über die Fensterfront. Der Boden war mit praktischem PVC in heller Holzoptik ausgelegt. Die Wände schmückten Landschaftsbilder.
„Wo hat Ihr Sohn seine persönlichen Sachen aufbewahrt?“
„Er hat nur ein paar Kleidungsstücke, seine Schulunterlagen und seinen Laptop mitgebracht. Alles andere ist im Haus bei seiner Frau. Sobald er eine Wohnung gefunden hat, wollte er sich um den Rest kümmern.“
„Wohin?“, fragte Mark, als er Hendriks Laptop auf den Rücksitz gelegt und den Motor des Wagens gestartet hatte. „Zur Weiler oder zur Schülerin Marlene?“
„Wie? Weiß ich nicht“, antwortete Inka nachdenklich. Sie hatten einen traurigen verzweifelten Mann zurückgelassen. Sie sah aus dem Beifahrerfenster. Zwei Jungen spielten auf der Sandstraße Fußball, als Mark den Campingplatz durch die hochgelassene Schranke verließ. „Lass uns zur Schülerin fahren, ich will wissen, was an der Aussage der Ehefrau dran ist.“ Es war kein neues Phänomen, dass Schüler, ob Mädchen oder Jungen ihre Lehrer anhimmelten. Doch bei Marlene hatte sie das Gefühl, dass die Schwärmerei weit darüber hinausging.
Marlene zuckte gleichgültig die Schultern, als Inka und Mark sie auf ihre Beziehung zu Hendrik Schubert ansprachen.
„Ich hab meine Eltern in der Klinik angerufen. Sie sind auf dem Weg. Sie werden nicht begeistert sein, dass Sie sie von ihrer Arbeit fernhalten. Meine Eltern sind die Inhaber der Schönheitsklinik Westmann-Hof, wenn Sie verstehen“, erinnerte sie Marlene.
Inka wechselte einen schnellen Blick mit Mark, dann schmunzelte sie. Hier hatte sie eindeutig einen überheblichen Fall von ,Ich bin etwas Besseres‘ vor sich. „Wir haben Ihre Eltern nicht angerufen. Aber Sie können wählen, ob wir Sie hier verhören oder mit aufs Revier nehmen.“ Marlenes arrogantes Gehabe ging Inka gehörig auf die Nerven und das Wort verhören zeigte meist einsichtiges Benehmen. Nicht so bei Marlene.
„Sie dürfen mich überhaupt nicht verhören.“
„Sie sind volljährig. Außerdem ist uns gleichgültig, wer Ihre Eltern sind“, setzte Mark dagegen. Sein Geduldsfaden riss sekündlich. „Es wird unsere Fragen, die wir an Sie haben, nicht beeinflussen. Ob mit oder ohne Ihre Eltern.“
Inka sah ihrem Kollegen an, wie er sich um Fassung bemühte. Mark war ein ruhiger besonnener Polizist, doch verwöhnte Töchter, die glaubten, mit ihrem Geld auch Macht kaufen zu können, hatte er zum Fressen gern.
„Ich sagte ja, dass ich Ihre Fragen beantworte, aber nur im Beisein meiner Eltern. Und da Sie anscheinend keinen Haftbefehl haben, werden Sie entweder gehen oder warten, bis meine Eltern eintreffen.“ Marlene wartete keine Antwort der Kommissare ab, sondern wies auf ein weißes Ledersofa, das eingerahmt zwischen zwei leeren, mannshohen blumenbemalten Vasen stand und der Wartezimmeratmosphäre eines Schönheitschirurgen entsprach. „Mich müssen Sie so lange entschuldigen. Ruth wird Ihnen eine Erfrischung bringen.“ Sie winkte dem Hausmädchen, das aus der Küche eilte. Die Achtzehnjährige drehte sich um, warf ihre langen blonden Locken über die Schulter und stolzierte mit vorgerecktem Kinn Richtung Treppe. Marlene Westmann-Hof war eine wirkliche Schönheit, die sich nicht hinter einem berühmten Model verstecken musste. Ihre Wespentaille, Beine, die unendlich schienen, und ein Gesicht wie ein Kirchenengel bescherten jeder Agentur ein Welthonorar, zumindest, sollte Marlene diesen Berufswunsch einschlagen. Wie Inka und Mark von Direktor Busch erfuhren, beabsichtigte sie, in die elterlichen Fußstapfen zu treten.
„Ich glaub es ja nicht, dieses Miststück“, sagte Mark.
„Lass dich von so einer verzogenen Göre nicht provozieren“, flüsterte Inka, griff Mark am Arm und zog ihn auf das weiße Ledersofa im Foyer der Landhausvilla.
Wie Inka befürchtet hatte, gestaltete sich das Gespräch mit den Westmann-Hofs schwierig. Ihre Tochter sei seit zwei Wochen volljährig und es sei durchaus nicht verwerflich, wenn sie für Männer in reiferem Alter schwärmte, sagten die Ärzte aus, während sie die Kommissare ins Wohnzimmer baten.
Dass Marlenes Schwärmerei für einen verheirateten Lehrer Stalking sei, davon wollten die Eltern nichts wissen. Es sei alles lange her und ihre Tochter habe längst einen Freund in ihrem Alter. Gero Büchner, zwanzig Jahre, Autoschlosser, wohnhaft im Amelinghausener Kastanienweg.
„Wir stehen in der Öffentlichkeit, was denken Sie? Die Situation mit der Schule ist vollends geklärt. Schließlich hat auch die Schule, wie unsere Tochter, einen Ruf zu verlieren“, meinte Torben Westmann-Hof zu verkünden. Ein gebräunter Mittfünfziger in noblem Zwirn, weißem Hemd und mit makellosen Zähnen. Als Arzt nahm man ihm seine vertrauenswürdige und kompetente Erscheinung ab, jedoch nicht als Privatperson. Von Äußerlichkeiten ließ sich Inka nicht blenden, schon zu viele hatte sie bröckeln sehen. Er reichte den Kommissaren die rechte Hand zum Gruß.
„Haben Sie sich verletzt?“, fragte Inka, während ihr Blick auf einem Pflaster lag, das die linken Handknöchel vollends bedeckte.
Torben Westmann-Hofs Mund ging zweimal auf und zu. Es schien, als wollte er Zeit schinden, bevor er antwortete. „Ein kleiner Unfall. Ich bin kein guter Handwerker, wenn es um grobmotorige Arbeiten geht.“ Mit der Hand wies er auf zwei schwarze Chesterfieldsofas, die sich getrennt von einem ovalen Couchtisch mit schwarzer Glasplatte gegenüberstanden. Eine düstere Kombination, die bei Inka keinen Zuspruch fand. Die Einrichtung eines Schönheitschirurgen hatte sie sich moderner, heller und geordneter vorgestellt.
„Genau so ist es“, bestätigte Simone Westmann-Hof. Sie war hochgewachsen, blond und mit langen Beinen, wie die ihrer Tochter. In ihrem dunkelblauen, eng am Körper anliegenden Kostümchen wirkte sie wie eine Schaufensterpuppe. Sie reckte ihre, wie Inka vermutete, gerichtete, etwas kantige Nase in die Höhe und sagte: „Der Tod des Lehrers ist eine schreckliche Sache, aber wir haben damit nichts zu tun“, meinte sie erklärend schnell hinzufügen zu müssen. Zur Tatzeit des Mordes seien alle Familienmitglieder im Hause gewesen und hätten ferngesehen. Dies könne das Hausmädchen bestätigen, das spät am Abend eine geplante Feier mit Freunden für den nächsten Tag vorbereitet hatte.
„Und wer könnte mit der Tat etwas zu tun haben?“, fragte Inka.
Simone Westmann-Hof zuckte die Schultern. „Seine Frau vielleicht. Vielleicht gab es Streit und sie hat ihn umgebracht. Wie wurde er eigentlich umgebracht?“
„Darüber können wir, solange die Ermittlungen laufen, keine Auskunft geben. Doch zurück auf die Ehestreitigkeiten der Familie Schubert. Kamen diese öfter vor? Worum ging es?“
„Man hört nur, was im Dorf getratscht wird.“
„Tratsch interessiert uns brennend“, sagte Inka und sah Simone Westmann-Hof auffordernd an.
„Ja, wie es ist, wenn man nur an der Karriere arbeitet. Man lebt sich auseinander und das Zwischenmenschliche, die Ehe, bleibt auf der Strecke.“ Simone warf ihrem Mann einen kurzen Seitenblick zu. „Angeblich wollten sie ein Kind, aber es hat wohl nicht geklappt, hört man.“ Die Ärztin hob die Hände in die Luft. Ihre rot lackierten Fingernägel glänzten im Licht des riesigen Kronleuchters. „Nicht dass ich Gerüchte in die Welt setze. Jedenfalls soll das die Ehe zerfressen haben, auch weil Susanne an Depressionen leidet. Aber wie gesagt, es ist Getratsche. Was daran wahr ist …?“ Wieder hob sie die Hände.






