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„Erzählt das Dorfgetratsche auch, wer die neue Frau an Hendrik Schuberts Seite war, Frau Doktor?“
Simone Westmann-Hof zuckte kaum wesentlich die Schultern und rückte ihren Blazer zurecht. „Sie soll eine aus dem Nachbardorf sein. Ich weiß nicht, wie sie heißt.“
„Anna Weiler“, mischte sich Marlene ins Gespräch.
„Du kennst sie?“, fragte Torben Westermann-Hof. „Woher?“, kam er Inka mit der Frage zuvor.
„Sie ist Benedikts Mutter. Benny geht in meine Klasse. Seine Mutter ist die Besitzerin der Windparkfirma Kobarski & Weiler.“ Marlene setzte sich neben ihren Vater.
„Ach was, darüber las ich letzte Woche im Hanstedter Heideblatt“, setzte Simone Westmann-Hof erklärend hinzu, während sie Inka einen schnellen Blick schenkte. „Ich las, die Kobarski & Weiler wollen einen Windpark in Schwindebeck gleich hinter der Luhe in Richtung Rehrhof entstehen lassen. Aber die Errichtung wurde vorerst abgelehnt, weil der Park an das Naturschutzgebiet und die Schwindequelle reicht. Außerdem würden viele Tiere gestört werden, die die Quelle auch im Winter als Wasserzugang nutzen, weil sie nie zufriert. Jetzt soll eine andere Stelle für einen Park gefunden werden“, erläuterte sie weiter.
„Ja, das stimmt, Mutter. Benny aus meiner Klasse hat es auch erwähnt, auch das mit der Quelle. Sie ist die zweitwasserreichste Quelle Niedersachsens nach der im Harz. War spannend zuzuhören.“
„Wie schön, dass du dich noch für die Schule interessierst“, warf Torben Westmann-Hof mit tadelndem Ton ein.
Marlene schenkte ihrem Vater ein bissiges Lächeln. „Ja“, sagte sie daraufhin, „wie gut, dass dein monatlich abgedrücktes Schulgeld nicht ganz umsonst ist.“
Marlene strahlte die reine Unschuld aus, doch hatte es faustdick hinter den Ohren. Aber immerhin untermauerte sie mit Anna Weilers Namen Direktor Buschs Angabe.
„Haben Sie die Adresse, Marlene?“, fragte Inka schnell, das Gespräch zwischen Vater und Tochter entschärfend.
„Nicht genau. Benny kommt meist mit dem Auto zur Schule. Er wohnt in Soderstorf. Aber es gibt eine Telefonliste, die kann ich Ihnen geben.“
„Na, dann machen wir uns mal auf den Weg zu Marlenes Freund und fahren danach zu Anna Weiler, oder was denkst du?“, fragte Inka, als sie in Marks Wagen stieg.
Mark nickte wortlos und startete den Siebensitzer. Konzentriert lenkte er aus der Einfahrt der Villa in der Straße Am Kirchwald auf die Bergstraße und gab Gas, während Inka die Rufnummer des Büros wählte. Frauke Bartels, ihre Kollegin aus der Zentrale, hob ab.
„Inka hier. Frauke, sei so lieb und such uns die Telefonnummer und die Adresse, privat wie geschäftlich, einer Anna Weiler heraus. Sie soll das Unternehmen Kobarski & Weiler betreiben, die in Schwindebeck einen neuen Windpark bauen wollen. Und ich will wissen, wer Kobarski ist.“
„Ach, die kenn ich“, sagte Frauke. Im Hintergrund hörte Inka die Computertastatur klappern. Frauke Bartels konnte beides, sich unterhalten und im Zehnfingersystem Berichte tippen. „Neulich“, erzählte sie weiter, „war ich mit Schatzi auf einer Feier, da wurde der Park für alle umliegenden Anwohner vorgestellt. Ist ja ordentlich Wald, den die plattmachen müssten. Erst gab es Sekt, edle Schnittchen und reichlich fröhlichen Small Talk. Als es dann zur Sache ging und der Park vorgestellt wurde, wurde es laut und hitzig. Einige Anwohner protestierten, andere schimpften und verließen die Feier. Die Weiler hatte Mühe, die Gäste zu beruhigen. Was jetzt aus ihrem geplanten Projekt wird, keine Ahnung. Schatzi und ich sind jedenfalls dagegen, obwohl er einen Auftrag für ihre Elektrik in der Firma übernommen hat. Aber einen Windpark bei uns in der schönen Heide errichten, auch wenn er nur an das Naturschutzgebiet und die Schwindequelle angrenzt, geht gar nicht. Was das für die Tiere und die Natur in der Heide bedeutet. Undenkbar.“
„Okay, Hirsch und Heidekraut stehen erst einmal nicht auf unserer Liste. Hast du die Firmenadresse für uns?“, stoppte Inka, bevor Frauke ihr energisches Veto fortsetzte.
„Schon da. Privat wohnt die Weiler in Soderstorf im Moorweg 110 a. Die Firma ist in Schwindebeck in der Steinbecker Straße 255 ansässig. Kobarski ist ein Rüdiger Kobarski, wohnhaft in Bad Schwartau. Seine Adresse und die Telefonnummern Weiler und Kobarski schick ich dir auf dein Handy. Aber bevor du auflegst, Inka: Von Amselfeld soll ich euch ausrichten, dass in der Mordnacht kein Taxi zum See gefahren ist. Und Fridolin hat mitgeteilt, dass auf Hendrik Schuberts zwanzigtausend Euro eine Menge Fingerabdrücke sind. Einige sind von Schubert, andere kann er nicht zuordnen.“
Nadine Büchner, eine blonde dünne Frau, öffnete die Tür eines Endreihenhauses in Amelinghausen. Hinter ihr tauchte ein ebenso dünner Mann mit grauen kurzen Haaren auf.
„Bitte kommen Sie herein“, sagte Frank Büchner, als Inka und Mark sich vorgestellt hatten. „Was ist mit unserem Sohn? Ist ihm etwas zugestoßen? Sind Sie hier, weil …?“ Er wechselte einen besorgten Blick mit seiner Frau.
„Nein, wir wollen nur mit ihm sprechen. Wir möchten ihn zu seiner Beziehung mit Marlene Westmann-Hof befragen“, begann Mark.
Nadine und Frank Büchner atmeten gleichzeitig auf.
„Entschuldigung, wir dachten schon …“, begann Frank Büchner, dann: „Eine Beziehung zu Marlene? Die beiden haben keine Beziehung. Wenn Sie das von Marlene haben – die spinnt. Gero bringt der verwöhnten Göre Mathematik bei, das ist alles. Seit drei Jahren verdient er sich etwas nebenbei. Wenn es da eine andere Beziehung gäbe, wüssten wir es. Marlene fasst er nicht mit der Kneifzange an. Sie ist nicht Geros Typ. Außerdem ist er seit zwei Jahren mit Marie zusammen.“
„Woher kennen die beiden sich, Marlene und Ihr Sohn?“
„Ich kenne Torben Westman-Hof“, erwiderte Frank Büchner. „Wir waren zusammen in der Schule. Und bevor Sie fragen, warum er eine riesige Villa und eine Schönheitsklinik sein Eigen nennt und wir nur ein popliges Reihenhaus und eine Autoschlosserei … ich hab mein Studium abgebrochen und das gemacht, was ich wollte. Aber uns geht es gut.“ Er legte den Arm um die Taille seiner Frau. „Vor ein paar Jahren, kurz vor Weihnachten, da kam er zu uns in die Werkstatt“, berichtete Büchner weiter. „Obwohl er und wir in einem Ort wohnen, haben Torben und ich uns über fünfzehn Jahre nicht gesehen. Gestört hat es mich nicht, in der Schule waren wir auch nicht die besten Freunde. Wie auch immer. Ich wollte noch etwas aus der Werkstatt holen und dann über die Feiertage abschließen, da rollte er mit seinem protzigen Amischlitten auf den Hof. Erst hab ich ihn gar nicht erkannt, so braun gebrannt, wie er aussah, als käme er gerade von einem Segeltörn zurück.“
„Was wollte er von Ihnen?“
„Na, was wird man in einer Autowerkstatt wollen?“ Büchner sah Mark irritiert an. „Nach fünfzehn Jahren fiel ihm ein, dass ein ehemaliger Mitschüler eine Autowerkstatt betreibt. Seine Werkstatt in Hamburg hatte vor den Feiertagen geschlossen, ich war nur sein Notnagel, sonst nichts. Aber ich konnte ihm nicht helfen. In seinem Schlitten ist eine Elektrik verbaut, für die ich bestimmte Werkzeuge benötige, mit denen wir nicht arbeiten. Torben und ich haben ein paar Worte gewechselt. Urlaub, Beruf und so ein Zeug. Dann hat er mich gefragt, ob sich Gero etwas dazuverdienen möchte. Marlene bräuchte dringend Nachhilfe und Direktor Busch hätte ihm Gero empfohlen, weil er in der Schule so ein Mathegenie gewesen ist. Marlene war damals gerade fünfzehn und Gero bereits aus der Schule. Leider wollte er nach dem Abi nicht studieren, wie der Vater, so der Sohn“, sagte Büchner kopfschüttelnd mit einem gewissen Humor im Blick, „sondern lieber im eigenen Betrieb arbeiten. Wir hätten uns einen Arzt oder Lehrer in der Familie gewünscht.“ Büchner holte tief Luft und drückte seine Frau enger an sich. „Aber wenn er glücklich ist, soll es uns recht sein. Na ja, ich hab Gero von Torbens Anfrage erzählt und er sagte, klar gebe er der eingebildeten Westmann-Hof Nachhilfe, das Geld könnte er für den Führerschein und sein Auslandsjahr in Australien gebrauchen. Er will zu den Goldsuchern und sehen, ob er fündig wird und als Millionär zurückkommt.“ Büchner lachte. „Mehr haben wir nicht über die Familie zu erzählen. Weißt du noch etwas, Dinchen?“
„Nein. Ich kenne die Westmann-Hofs eigentlich auch nicht. Nur was man sich im Dorf erzählt, dass sie eingebildet sind, nicht grüßen, oft beim Bäcker oder Schlachter anschreiben lassen und auf den letzten Drücker bezahlen, trotzdem die Nase in den Wind recken und ihr Hausmädchen unfreundlich behandeln. Die arme Ruth, sie ist alleinerziehend mit einem zweijährigen Sohn und auf das Geld ihrer Arbeit angewiesen. Wenn sie könnte, wäre sie bei den Westmann-Hofs längst weg.“
„Ja, ich denke“, Inka sah zu Mark, „dass wir vorerst alles haben. Oder hast du noch eine Frage?“
„Nur noch, wo Sie, Herr Büchner, und Sie, Frau Büchner, sowie Ihr Sohn sich gestern zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr aufgehalten haben?“
„Wir waren alle drei zu Hause und sind unsere Urlaubspläne für das nächste Jahr durchgegangen.“
„Wo wird es hingehen?“
„Nach Schweden, mit dem Wohnmobil. Vier Wochen. Im April.“
„Ihr Sohn fährt mit?“
„Nein. Er hat einen Flug mit Freunden nach Mallorca gebucht. Zwei Wochen Ballermann, solange dort noch Party erlaubt ist. Wird ja immer weniger. Die Spanier beschweren sich. Ist ja auch verständlich, so wie sich die Touristen da am Ballermann daneben benehmen. “
„Wir finden Ihren Sohn in der Werkstatt?“
„Da gehe ich von aus“, sagte Büchner. „Aber verraten Sie uns nach der netten Plauderei endlich, warum die Mordkommission auftaucht, wenn es nur um Nachhilfestunden geht?“
„Der Biologielehrer Hendrik Schubert ist gestern am Lopausee von Schülern aus dem Amelinghausener Gymnasium tot aufgefunden worden. Er wurde ermordet.“
„Hendrik Schubert. Der nette Biologielehrer ist tot. Wie schrecklich. Wer hat das getan?“
„Das versuchen wir herauszufinden.“
„Aber Gero hat da sicher nichts mit zu tun. Er ist bereits aus der Schule und gestern war er hier bei uns.“
„Das mag stimmen, Frau Büchner, dennoch müssen wir jeder kleinsten Information nachgehen.“
Nadine Büchner nickte schwach und nahm die Visitenkarte entgegen, die ihr Inka reichte.
„Die Westmann-Hofs haben uns Lügen bezüglich ihrer Tochter und der Beziehung zu Gero aufgetischt“, sagte Inka, als sie den schmalen gepflasterten Weg der Reihenhaussiedlung zur Straße hin verließen.
„Hmhm. Die wollten Gero Büchner als Alibi ihrer Tochter verkaufen, dabei läuft bei denen nichts, zumindest wenn wir den Büchners glauben.“
„Ich halte die Aussage der Eheleute für verlässlich. Fahren wir in die Werkstatt und fragen den Sohn. Mal sehen, ob wir mit unserer Menschenkenntnis richtigliegen. Die Weiler suchen wir am Nachmittag auf, nachdem wir Hannas Möhreneintopf verputzt haben.“
Gero Büchner stand unter einem auf der Hebebühne hochgefahrenen Wagen in der Werkstatt Büchner & Sohn in Amelinghausen, drei Straßen von seinem Zuhause entfernt.
„Herr Büchner?“ Inka trat an den Mechaniker heran und zeigte ihren Ausweis.
„Ja.“ Der Mechaniker im Blaumann drehte einen blonden Haarschopf unter dem Auto hervor.
„Könnten wir Sie kurz sprechen?“
Gero Büchner nickte. „Klar“, sagte er, dann an eine Kollegin gewandt: „Konni, machst du für mich weiter?“ Er reichte einer sportlichen Brünetten in einem ebensolchen Blaumann den Hammer und die Stableuchte, wischte sich an einem Lappen die ölverschmierten Hände ab und sagte: „Gehen wir ins Büro.“
„Herr Büchner, wir hörten, Sie sind mit Marlene Westmann-Hof befreundet“, begann Inka und setzte sich mit Mark auf die angebotenen Holzstühle vor einen Schreibtisch. Das Holz war vergilbt und Unmengen schwarze glänzende Flecken übersäten die äußere Optik. Ein Stapel Papierakten lag neben einem Computer. Ein Monstrum aus den Achtzigerjahren, das die Hälfte des Schreibtisches einnahm. Schrauben und kleinere Motorenteile sowie ein grünes Wählscheibentelefon quetschten sich an die linke äußerste Ecke des Tisches. Inka fröstelte. Im Büro war es eiskalt. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke unter den Hals.
„Ich gebe Marlene Nachhilfe in Mathematik, mehr nicht. Befreundet kann man dazu kaum sagen. Aber damit ist in vier Monaten Schluss.“
„Warum?“
„Weil ich mein Geld für meine Auslandsreise zusammengespart habe. Aber das werden Ihnen meine Eltern erzählt haben.“ Er schmunzelte.
„Dass Sie nach Australien zu den Goldsuchern wollen, ja.“
„Meine Eltern sagten, Hendrik ist ermordet worden. Ich war es nicht, sollte das der Grund Ihres Besuches sein. Ich war mit meinen Eltern zu Hause. Was nicht unbedingt ein verwendbares Alibi ist. Aber ich bin seit zwei Jahren aus der Schule. Ich hab mit Hendrik nichts mehr zu tun. Warum also sollte ich ihn umbringen?“
„Schlechte Noten oder Streit wären da ein Motiv. Und auch nach zwei Jahren können Rachegelüste …“
„Nein. So ein Quatsch“, unterbrach Büchner. „Ich stand in Bio auf Zwei und Streit gab es zwischen uns nicht. Er war ein super Lehrer. Ich fand ihn klasse.“
„Marlene soll ein wenig in ihn verliebt gewesen sein. Haben Sie davon etwas mitbekommen, Herr Büchner?“, wechselte Inka das Thema.
„Alle Mädchen standen auf Hendrik. Zumindest alle aus der Oberklasse. Und ein wenig, bei Marlene?“ Gero Büchner grinste. „Die war krass hinter Hendrik her, was ich so mitgekriegt hab.“
„Was haben Sie mitgekriegt?“
„Na, das mit den Einladungen nach New York, Wochenendtrips nach Rom und Paris. Marlene ist bekannt und unter unseren Kunden sind auch Schüler aus dem Gymnasium. Schräg, die Tante. Aber Geld hat sie wohl trotzdem noch genug.“
„Wohl noch genug?“, hakte Mark nach.
„Ja, inzwischen wird’s eng für die Westmann-Hofs. Aber auch das hab ich nur gehört. Angeblich mussten sie Insolvenz anmelden. Ihre Superklinik an der Rothenbaumchaussee läuft nicht mehr so gut, nachdem sie in den Schlagzeilen standen.“
„Erklären Sie uns das genauer, Herr Büchner.“
„Ein Arzt, ob der Westman-Hof oder ein anderer aus der Klinik, hat Mist gebaut. Ich hörte, es ging um eine Straffung, also eine Hodensackstraffung, damit die Dinger, na ja …“ Er zögerte kurz. „Jedenfalls soll da unten jetzt alles schief sitzen.“ Trotz des Ernstes seiner Aussage schmunzelte Büchner. „Ein Hamburger Schauspieler, den Namen hab ich vergessen, der sich in der Klinik die Nase hat richten lassen, war ebenso unzufrieden. Und einige weitere Patienten haben den Westmann-Hof auch am Wickel. Eigentlich interessiert mich das Schönheitsgelabere nicht, aber Small Talk gehört zu den Kundengesprächen. Auf jeden Fall geht es um Ärztepfusch in Folge und der hat sich herumgesprochen. Tja, nicht immer tritt Erfolg ein, nur weil man studiert hat.“
„Mit Marlene ist es eine geschäftliche Beziehung?“
„Richtig. Mit der eingebildeten Ziege will keiner etwas zu tun haben.“
„Sie ist eine hübsche junge Frau. Ihr müssten doch die Jungen der Schule hinterherlaufen.“
„Ja, das tun sie, aber nur für eine Nacht, wenn Sie verstehen.“
Inka nickte. „Herr Büchner, noch eine Frage: Was sagt Ihnen das Zeichen der Wolfsangel?“
„Die Wolfsangel“, Gero schnaufte und zog die Mundwinkel nach unten, „im Geschichtsunterricht hörte ich von dem Zeichen. Es wurde in der Forstwirtschaft eingesetzt. Es war ein Jagdgerät, um Wölfe zu fangen, und ist heutzutage noch auf einigen Gemeindewappen zu finden. Als Fanggerät ist es allerdings inzwischen verboten.“
„Ging es im Unterricht auch um Fabelwesen? Werwölfe vielleicht?“
Gero Büchner lachte auf. „Nein. Obwohl wir natürlich den ,Werwolf‘ von Hermann Löns gelesen haben. Aber da geht es ja nur um das Bauernvolk, das sich gegen die Braunschweiger, Dänen und wen immer zusammenrottete, sich blutige Kämpfe lieferten und sich dann Werwölfe nannte, nicht um so einen Shadow-Quatsch, der im Fernsehen ausgestrahlt wird.“
„Und die NS-Wolfsangel, wie ist es damit?“
„Mit denen hab ich nichts am Hut“, wehrte Büchner ab.
„Mit denen?“
Gero biss sich auf die Unterlippe, als hätte er ausgeplaudert, was er eigentlich verschweigen wollte. „Mit den durchgedrehten Braunen, die sich einmal im Monat im Wald in der alten Höhle treffen und was weiß ich ausbaldowern“, setzte er schulterzuckend nach.
„Wo ist diese Höhle?“, wollte Mark mit dem Stift auf seinem handgroßen Spiralblock wissen.
„In der Kronsbergheide.“
„Weiter“, drängelte Mark.
„Wenn Sie aus Lüneburg kommen, finden Sie sie am Ortseingang von Amelinghausen. Sie liegt nahe der B 209, dort, wo der Sagenhafte-Hühnen-Weg beginnt.“
„Das ist schräg gegenüber dem Lopausee“, sagte Inka, dann: „Sie kennen die Mitglieder?“
„Es sind vier in meinem Alter. Sie nennen sich Schwarze Sonne. Einer von ihnen lässt seinen Wagen bei uns reparieren. Und wie ich schon sagte: Kundengespräche sind ein Muss. Als er beim dritten Mal hier auftauchte, rückte er so langsam mit der Sprache raus. Erst dachte ich, er will mich anbaggern, aber dann … irgendwie kamen wir auf die Flüchtlingsflut zu sprechen und ich hörte gleich, dass er auf der nationalsozialistischen Schiene schwimmt. Als ich ihm sagte, dass wir uns auch nicht anders verhalten und vor dem Krieg fliehen würden, hörte er mit der braunen Scheiße gar nicht mehr auf. Unglaublich, mit welchem Müll der mich zugetextet hat.“ Gero warf Inka einen entschuldigenden Blick zu. „Ich wollte ihn nicht vergraulen, auch wir brauchen unsere Kunden, und wenn sich schlechter Service rumspricht …“ Gero Büchner zuckte die Schultern. „Das nächste Treffen ist übermorgen, das hat er mir noch gesagt und sogar gewartet, bis ich es auf meinem Kalender angestrichen hab.“ Gero wies mit dem Daumen über seine Schulter zu einem Kalender. Mit einem roten Kreis war der morgige Tag umrundet.
Inka holte tief Luft und warf Mark einen genervten Blick zu. Das fehlte ihnen noch, dass Fritz recht behielt und sie es jetzt mit einer nationalsozialistischen Gruppe zu tun kriegten.
„Ich hab ihn labern lassen und gesagt, ich würde mir seine Einladung durch den Kopf gehen lassen“, sagte Gero. Er beugte den Oberkörper vor und kramte in der untersten Schublade seines Schreibtisches. „Ich habe doch … hier“, sagte er und reichte Inka einen Handzettel über den Schreibtisch. Ein einfacher Papierflyer, auf dem eine rot gezeichnete Wegbeschreibung abgebildet war.
„Wie heißt Ihr Kunde?“
Gero Büchner druckste. „Jens Pohl.“
„Und er wohnt?“ Mark sah Gero auffordernd an.
„Muss ich nachsehen“, sagte Gero und tippte auf der Computertastatur. „Er wohnt in Oldendorf Luhe Totenstatt in der Straße Auf der Kalten Hude Nummer 2.“
„Kennen Sie auch die Namen der anderen drei Mitglieder der Gruppe? Wo sie wohnen, arbeiten?“
„Nein, tut mir leid, da kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen. Aber bitte, wenn Sie meinen Namen nicht erwähnen würden. Getratsche ist nicht gut fürs Geschäft.“
„Das lässt sich machen. Für heute war es das. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, vielleicht ein Name“, Inka hob den Handzettel in die Luft, „dann rufen Sie uns bitte an.“ Sie schob ihre Karte neben das grüne Wähltelefon und stand auf.
Hanna hatte einen deftigen Wurzeleintopf mit Schweinefleisch für ihre Feriengäste gekocht. Als Inka mit Mark auf dem Sundermöhrenhof ankam, war der Zwölflitertopf fast ausgelöffelt. Gerade noch zwei kleine Schöpfkellen füllten ihre Teller. Der Hof, den Hanna und Tim von ihren Eltern übernommen und zu einem Biohof mit Tierhaltung und Ferienzimmern umgebaut hatten, war beständig über das Jahr ausgebucht. Ob Sommer oder Winter trudelten Buchungen von Singles, Ehepaaren und Familien ein. Hanna und Tim schnürten für ihre Gäste ein Rundum-sorglos-Paket, das auch das Mittagessen einschloss. Niemand widerstand Hannas Suppen und Eintöpfen, dem frisch gebackenen Brot und den Brötchen, die immer auf dem Tisch bereitstanden. Jetzt lag nur noch ein verlassenes Dinkelbrötchen in einem der drei Brotkörbe, die auf dem langen Küchentisch in der gemütlichen Bauernhausküche standen.
„Warum hast du nicht angerufen, dass ihr zum Essen kommen wollt, Schwesterlein?“, fragte Hanna lächelnd, während sie Mark umarmte.
„Ich hab es vergessen und gehofft, es ist noch Eintopf für hungrige Heidepolizisten übrig.“
„Nur ein kläglicher Rest. Aber wenn ihr noch hungrig seid – ich hab für morgen vorgekocht. Was haltet ihr von einem Linseneintopf mit Hackbällchen als Nachschlag?“
„Her damit, Hanna“, antwortete Mark, als er den letzten Löffel der Möhrensuppe in den Mund gesteckt hatte.
Hanna grinste und hob den Deckel des zweiten Topfes hoch, dem sofort ein unverkennbarer Geruch entströmte. Sie füllte Inka und Mark die Teller und schnitt eine dicke Scheibe Hirsebrot von einem Laib, der groß und rund wie ein Suppenteller war.
„Noch warm, nicht dass ihr Bauchschmerzen bekommt“, sagte sie und stellte ein Schälchen Kräuterschmalz auf den Tisch. „Es sollte bis zum Abendbrot abkühlen, aber zwei schwer arbeitende Polizisten kann ich nicht hungern lassen.“ Hanna lachte. „Habt ihr euren Täter gefasst?“
„Nein, bisher nicht“, murmelte Mark mit vollem Mund.
„Wer ist das Opfer?“
„Ein Biolehrer aus dem Amelinghausener Gymnasium. Er lag am Lopausee auf der Holzbrücke.“ Mark hangelte nach dem rosa Keramikschwein auf der Fensterbank und fütterte es mit einem Zehneuroschein.
„Danke schön, Mark, aber das sollst du nicht. Für euch beide ist jederzeit etwas zu essen da, falls ihr rechtzeitig kommt“, sagte Hanna lächelnd. „Aber jetzt erzählt. Was ist passiert?“ Hanna rutschte ihrer Schwester und Mark gegenüber auf einen der hölzernen Küchenstühle vor der Eckbank am Fenster.
„Hanna!“, fuhr Inka auf.
„Ja. Du darfst nichts sagen, weiß schon. Aber wenn ich morgens um zwei Uhr aus dem Schlaf gerissen werde, dann …“
Als wäre sein Stichwort gefallen, stand Tim in der Küchentür. „Na, wen haben wir denn da? Der Hanstedter Herr Kommissar und meine liebreizende Schwägerin Inka, die dienstbeflissene Hauptkommissarin. Habt ihr schon wieder Feierabend?“, fragte er mit einer weißen Gummischürze um den Bauch, die mit roten Sprenkeln erahnen ließ, von welcher Arbeit er gerade kam.
„Grüß dich, Tim. Nein, wir haben keinen Feierabend. Wie du siehst, sind wir beim Mittag. Unser Dienst endet um sechzehn Uhr.“
Tim drehte den Kopf zur Küchenuhr, deren Zeiger sich auf dreizehn Uhr zubewegte. „So gut wie ihr möchte ich es auch haben. Um sechzehn Uhr den Schreiber fallen lassen und die Tür abschließen. Aber dann kannst du ja heute Abend deinen frühmorgendlichen Weckruf wiedergutmachen. Schließlich ist Hanna die Extratour gefahren und hat Paula zur Tagesmutter gebracht.“ Der blonde Hüne grinste Inka auffordernd an.
„Und was hast du dir diesmal ausgedacht, lieber Schwager? Hühner und Katzen füttern, Schweinestall ausmisten oder was steht auf deiner Liste?“, fragte Inka. Sie war genervt. Tim Sundermöhren war der Meinung, dass eine Polizeistation in Hanstedt mit ihren Beamten ebenso überflüssig war wie konventionell hergestellte Leberwurst. Nun, der Vergleich hinkte. Auch wenn sie zugab, dass Tims Bioleberwurst von eigenen Tieren und aus eigener Herstellung unübertrefflich lecker schmeckte. Aber musste er jedes Mal so einen Aufriss machen? Es war eine Abmachung mit ihrer Schwester, dass sie sie jederzeit um Hilfe bitten konnte, wenn ihr Beruf es erforderte.
„Gar nichts braucht sie wiedergutzumachen, Tim. Sie hilft uns freiwillig und ohne Bezahlung jeden Samstag im Hofladen, das reicht.“
„Dir reicht es, Hanna, aber mir reicht es nicht. Auch mein Schlaf wird gestört oder hast du vergessen, dass wir verheiratet sind?“
„Tim, das geht zu weit. Ich denke, wir sprechen am Abend. Wie weit bist du mit der Vakuumierung des Fleisches?“, lenkte Hanna ab.
„Fertig. Ich bringe es dir in den Hofladen, vorausgesetzt, du hast mit den Kommissaren alles Wichtige des Tages besprochen.“
Hanna Sundermöhren stöhnte kopfschüttelnd auf. „Tim, halt die Luft an und lass uns weiterplauschen.“ Lächelnd wedelte sie mit einer Geste ihrer Hand Tim aus der Küche. „Dieser Mann ist ein Original“, sagte sie, als Tim sich wortlos umdrehte und in Gummistiefeln über den Hof Richtung Schlachthaus stapfte.
„Mehr als das“, erwiderte Inka und steckte sich den Rest Hirsebrot in den Mund.
„So“, sagte Hanna und beugte sich ein Stückchen über den Tisch, „nur ein Krümelchen, warum …“






