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Wir verbrachten die Nacht mucksmäuschenstill auf dem Dachboden, schlichen uns morgens leise aus dem Haus, offensichtlich schlief die vom Plündern des Schoberhofs ermattete Ex-Zwangsarbeiterin noch.
Wochen später erbat Mutter die Tasche zurück. Frau von Langsdorf gehorchte, war aber Gott sei Dank neugierig genug, einen kurzen Blick hineinzuwerfen: Sie war vollgepackt mit Schmuck!
Er wurde Mutters Rettung. Allerdings war sie raffiniert genug, diesen sicher von Polen und Juden geraubten Schatz erst einzusetzen, als ihr Mann schon hingerichtet und über zwei Jahre ins zerbombte Land gegangen waren. Dann erst wagte sie, auf ihrem blauen Fahrrad mit ein oder zwei Ringen oder Armbändern zu einem Heim für »Displaced Persons« zwischen Schliersee und Neuhaus zu fahren, um dort bei Juden den Schmuck gegen Lebensmittel einzutauschen. Zwei von ihnen erkannten sie wieder von ihren Raubzügen durchs Krakauer Ghetto und nannten sie weiterhin ironisch »Frau Minister«. Sie machten ein kleines Vermögen, und wir mussten nicht mehr hungern.
Von all dem wusste Vater nichts. Und wir nicht, wo er abgeblieben war. Mir ging »Vati« in der Erinnerung nicht ab. Den älteren Geschwistern sehr. Michel und ich lebten die neue Freiheit aus. Unsere ach so tapfere und saubere deutsche Armee war auf einen Haufen Herumtreiber zusammengeschmolzen, die sich in den letzten Apriltagen von 1945, als Vater noch starr im Josefstal saß, im Schoberhof einquartiert hatten. Sie versuchten, aus ihren Uniformen Zivilkleidung zu machen und ihre Waffen loszuwerden. So hatten Michel und ich neben Pistolen auch Handgranaten, Gewehre und jede Menge Munition. Geschossen haben wir allerdings nicht. Dafür schlug ich mit einer Zaunlatte meinem Vetter von hinten dermaßen ins Genick, dass der heulend zu seiner Mutter lief. Noch heute sehe ich das runde Loch an seinem Hals, denn am Ende der Zaunlatte lugte ein verrosteter Nagel hervor. War das doch eine Reaktion von mir auf den äußeren Abstieg, das Verschwinden des Vaters, des Maybach, unserer ausländischen Bediensteten?
»HEIL HITLER« ZUM ÄRGERN
War das auch der Grund, warum Michel und ich unsere Cousine, die uns nichts getan hatte, auf ein von der Wehrmacht zurückgelassenes Pferd setzten, selbigem auf die Flanken hieben, sodass es wie wild losgaloppierte und die Cousine in den Straßengraben direkt vor dem Schoberhof warf? Ohnmächtig blieb sie liegen. Ihre Mutter kam schreiend herbeigelaufen.
Michel und ich verzogen uns umgehend, analysierten aber mitnichten, warum wir plötzlich diese nachgerade mörderisch aggressive Art entwickelt hatten, sondern grinsten nur erleichtert, weil wir nicht in Mutters Besenkammer gesperrt wurden. Auch diese Begebenheit erfuhr Vater nicht, ebenso wenig, dass Michel und ich die Volksschulleiterin, Frau Hosp durch das Gartentor mit laut geplärrten »Heil Hitler« Grüßen und mit hoch gerissenem rechten Arm erschreckten. Denn das hatten wir mitbekommen: Seit die Amis einmarschiert waren, sagte kein Mensch mehr die zwei Worte oder riss den Arm hoch. Frau Hosp ließ sich unsere Verhohnepiepelung nicht gefallen, öffnete das Gartentor, wir stoben davon, sie beschwerte sich bei Mutter, und jetzt landeten wir wirklich in der dunklen, stickigen Besenkammer. Mutters Pädagogik war schlicht, aber wirksam.
Auch sonst veränderte sich das Verhalten der Neuhauser nach Kriegsende erheblich. Ehrerbietung vor der Top-Nazi-Familie war plötzlich nicht mehr in Mode. Die Nachbarbäuerin unterhalb des Schoberhofs ließ einmal ihre neue demokratische Wut an mir aus, putzte mich als verlogenen winzigen Großkopferten, der jetzt gar nichts mehr sei, runter. Das tat weh. Als Tage später ein Jeep hielt und mich der Fahrer fragte, wo’s hier Eier gibt, führte ich ihn zum Eierversteck der Bäuerin unterm Heu, sodass er sich mit Dotter ohne Bezahlung eindecken konnte. Er schenkte mir für meinen Verrat eine der von uns heiß begehrten Ami-Schokoladen. Ich fühlte mich im Recht, weil gerächt.
In der Schule schrie mir ein Klassenkamerad mal hinterher: »Minister, Minister, Benzinkanister!«
Der Satz brannte sich mir ein, weil er Verachtung pur war.
Bruder Norman wurde von einem Bauernburschen, mit dem er noch Monate zuvor fröhlich auf einer selbst gebauten Schanze hinter unserem Haus Skispringen geübt hatte, angeschrien: »Was bist’n Du? Nix bist! Nur a depperter Ministerbankert!« Bankert ist das bayerische Wort für uneheliches Kind. Was nun Norman ganz bestimmt nicht war. Das galt eher für mich.
Gitti hatte eine gleichfalls zehn Jahre alte beste Freundin namens Inge, zu der sie öfters zum Spielen ging. Ein Nachbar aus der Dürnbachstraße kam hinzu und sagte zum Vater ihrer Freundin: »Das ist aber kein rechter Umgang für deine Tochter!«
Der Vater antwortete großartig: »Kinder sind immer unschuldig!«
Offenbar der erste Demokrat mit Empathie im Schlierseer Tal.
Inges Bruder Wolfgang Hahn, von dem ich diese Erinnerung habe, setzte hinzu: »Über diese kurze Antwort war der Herr Lössel doch a bisserl verschnupft.«
Das war ich auch, zumindest als es darum ging, wer auf die riesige grüne Schultafel ein ebenso riesiges Hakenkreuz mit Kreide hingequietscht hatte. Der Deckert Schorsch, Hausmeister, nahm mich auf Anordnung der Lehrerin, die in mir den Schmierer entdeckt haben wollte, an der Hand, um mich bis runter zum See zur Schulleiterin, eben jener Frau Hosp, zu bringen. Ich heulte, während wir über die Straße gingen. Zu meinem Glück und zum baldigen Erschrecken vom Deckert Schorsch kam genau in diesem Augenblick meine leicht o-beinige Mutter vom Einkaufen hochgehaatscht. Sie sah ihren Jüngsten heulend im Schraubgriff des Hausmeisters, nahm sofort ihre Nicht-Erschießen- und Nicht-Fahrrad-Klauen-Stimme an und putzte den Deckert Schorsch so zusammen, dass der mich erschrocken zurück in die Klasse brachte. Ich hatte tatsächlich nichts mit diesem Hakenkreuz zu tun.

In der Hohen Zeit: Hans und Brigitte Frank bei einem offiziellen Empfang.
Michel hingegen schon, denn der malte mit Tinte unten beim Schnapperwirt, wo seine Klasse unterrichtet wurde, auf das Hemd des Knaben in der Bank vor ihm ein solches, nunmehr als verbrecherisch eingestuftes Hoheitszeichen. Mutter musste ein neues Hemd bezahlen, Michel bekam als Ausgleich eine Tracht Prügel. Die vollzog unsere Mutter immer mit dem hinteren Ende eines Teppichklopfers, dort, wo ein runder Blechpfropfen die einzelnen Baststränge zusammenhielt.
Einige Wochen nach Hans Franks Verhaftung wurde auch Norman verhaftet. Mutters Lieblingskind und unser bester Freund, der mit uns im Winter immer »Stalingrad« gespielt hatte. Michel und ich bauten Schneeburgen und verschanzten uns darin. Norman machte aus Schnee riesige Minen und zerbröselte damit unseren Unterstand. Obwohl Jahre älter als wir, entwickelte Norman die Tendenz, nicht älter werden zu wollen. Und war es dann doch plötzlich in bewundernswerter Manier. Er wurde in ein Gefangenenlager hinter Rottach am Tegernsee gebracht. Die Amis standen als Wache davor. Das Lager war nicht mal eingezäunt. Die Sieger kannten den kriecherischen Charakter deutscher Soldaten, denn die gehorchten der deutschen Lagerleitung aufs Wort. Norman ging wie befohlen zum Lagerleiter, einem deutschen Offizier, der ihn im Schnauzton mit den Lagergesetzen vertraut machte. Mein Bruder war genervt: Geht man so mit dem Sohn eines Mannes um, der gerade noch mächtig war und jetzt immerhin von den Amis persönlich im Jeep abgeholt worden war? Er sah sich um, entdeckte, dass das Lager nach hinten ohne Stacheldraht in eine Wiese überging, überredete einen anderen, ebenso jungen Gefangenen, und beide stolzierten in aller Ruhe hinten wieder aus dem Lager raus und wanderten über die Bodenschneid zurück zum Schoberhof.
Ich spielte gerade im Garten, als ich ihn kommen sah, lief ins Haus und schrie: »Mutti, Mutti, der Norman ist da!«
Nie habe ich meine Mutter glücklicher gesehen. Sie lief ihm entgegen, umarmte ihn. Das erstaunte mich sehr, denn Umarmen waren wir von ihr nicht gewohnt. Er war wirklich ihr Lieblingssohn, wogegen wir nichts hatten, weil auch wir ihn liebten. Obwohl er ein so hundsgemeiner Kerl sein konnte. So hatte ich von irgendeinem Fest noch eine Tafel Schokolade übrig, saß in unserer Bauernstube und machte mich egoistisch daran, sie zu vertilgen. Da kam Norman, legte sich eine Decke um die Schultern, kniete sich vor mich hin und jammerte: »Ich bin so ein armer Bettler, und ich habe solchen Hunger. Seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen.« Dann streckte er eine zittrige Hand vor, und ich Depp heulte los und gab ihm meine Schokolade. Obwohl ich wusste, dass es der Norman war!
Was sich so alles einbrennt in einem Kinderhirn. Michel wird in späteren Jahren nie mit mir über seine Brandmale aus jener Zeit reden, als die Franks plötzlich nichts mehr waren. Sigrid, die Älteste von uns Fünfen, lässt sich auf den Seitz Hansi ein. Das ist der jüngere Sohn von Franz Seitz, einem bayerischen Filmregisseur, der einen so widerlich anschleimenden Nazifilm gedreht hatte, dass ihn hinfort sogar die NSDAP selbst schnitt: »SA Mann Brandt« heißt der Streifen. Unsäglich! Hansi ist schon in der Hohen Zeit der Franks in Sigrid verliebt, überredet sie, weil der Generalgouverneur gegen diese Verbindung ist, sogar zum gemeinsamen Selbstmord – und schneidet ihr die Pulsadern auf. Bei sich selbst war dann wohl das Messer zu stumpf. Sigrid wird nahezu blutleer gerettet. Als sie, zumindest körperlich gesund, wieder nach Hause kommt, ist sie von sich begeistert: »Mutti, findest du nicht, dass ich jetzt wieder so bin, wie ich es früher – vor Hansi – immer war? Es war mir so, als wenn einer einen Strick um einen immer fester und enger schnürt, und plötzlich fühlt man, man bekommt keine Luft mehr, und es bleibt einem keine Möglichkeit mehr, weiterzuleben.«
Jetzt allerdings, wo ihre Familie einen ganz niedrigen Status verpasst bekommen hat, erkennt sie, dass ein Strick vom Hansi doch nicht das Schlechteste ist. Da muss sie nicht um ihr täglich Brot fürchten. Also lässt sie Hansi gewähren. Obwohl der ihre und unsere Mutter schriftlich erpresst hatte: Wenn sie ihm nicht 50 000 Reichsmark gäbe, würde er den Amis das Versteck ihres Schmucks verraten. Mutter bleibt hart, Sigrid lässt sich schwängern, entflieht der runtergekommenen Familie und setzt ihr stinkfaules Leben fort. Das wird in Südafrika enden, wohin sie mit ihrem zweiten Ehemann auswandert, weil sie die Apartheid sehr schätzt. Wenigstens dort kann sie wieder auf Untermenschen herabsehen.
Am 25. August 1946 schreibt Brigitte ihrem Hans über uns Kluges: Auch Sigrid ist ja letzten Endes ein Opfer der Verhältnisse, der unglückseligen, geworden. Alle haben wir einen Schock erlitten durch die Plötzlichkeit, mit der das Unheil kam. Aber man muss doch wieder einen Weg zu den Wirklichkeiten des Lebens, zu sich selber und den wahren Werten des Lebens finden. Norman, der ja jünger ist, hat ihn gefunden, und er war wirklich welt- und lebensfremd. Vielleicht hat ihn die Erkenntnis der Erbärmlichkeit des äußeren Scheins noch tiefer getroffen. Und Norman hat auch die Führung des Vaters entbehren müssen zu einer Zeit, wo er Dich am dringlichsten gebraucht hätte resp. braucht.
Auch ich hatte einen Schock. Den wollte ich nie wahrhaben – dank meiner immer größer werdenden Wut auf unseren Vater, je erwachsener ich wurde. Doch dann entdeckte ich über 60 Jahre nach meiner Kindheit jene Bilder wieder, die im Umschlag farbig zu sehen sind. Da hatte ich als 16- bis 18-Jähriger meine Seele geöffnet. Zuvor, als Kind, habe ich wie Michel den Schock weiter in Aggression umgesetzt. So erschoss ich mit meinem Luftgewehr den zahmen Igel eines Nachbarjungen durch die Hecke hindurch. Irgendwie hatten mich der Typ oder der Igel geärgert. Vielleicht war auch das Rache am Vater, weil ich vielleicht damals schon wusste, dass er als 14-Jähriger selbst einen Igel besessen hatte. Schreibt er doch in seinen privaten Erinnerungen am Tag, als er von der Ermordung des österreichischen Kronprinzenpaars in Serbien erfahren hatte: Mir war einfach unvorstellbar, dass es solche Mordtat auf Gottes schöner Welt geben sollte. Ich hatte an diesem Tage einen Igel gefangen, den ich dann auch glücklich nach Hause brachte, dort aber wenig Freude damit verursachte.
Oder ich schlug einem Schulkameraden auf der Wiese hinter der Leonhardi-Kirche einen Milchzahn aus. Der heulte los und wollte es seinem Papa sagen. Auch das hat sich mir eingebrannt.
Einmal mussten Michel und ich auch den fetten Dackel einer Neuhauser Villenbesitzerin sprengen, denn die hatte uns beim Stehlen ihres Spalierobstes erwischt und es unserer Mutter verpetzt. Das tut man nicht, natürlich auch nicht das, was wir dem armen Dackel antaten, dem es den Bauch aufriss, genau gegenüber von der Judith am Neuhauser Bahnhof, wo er angebunden wartete. Erwischt hat uns keiner. Auch erklärten wir Meisen, Spatzen, Schwalben, Krähen zu entsetzlich schädlichem Ungeziefer und jagten es mit unseren Luftgewehren oder Steinschleudern. Michel gelang es sogar einmal, mit einem Steinwurf eine Krähe von einem Strommast runterzuholen. Es gab auch keinen Ameisenhaufen, den wir nicht mit trockenem Gras und mitgebrachtem Papier in Brand gesetzt hätten. Dabei lauschten wir auf das leise Knacken, das Ameisen verursachen, wenn sie Feuer fangen.
FEINSTAUB UND DIE VERTAUSCHTE GITTI
Schön und mörderisch war diese Zeit, in der unser Vater um seinen sündigen Kopf kämpfte. Ja, auch wir waren – wie er in seiner großen Zeit – auf Mord und Totschlag aus. Michel, in meinen Augen der beste Steinwerfer des Schlierseer Tals, vollbrachte in unserem von den einheimischen Erwachsenen angeheizten Hass auf die Flüchtlinge, eine weitere Heldentat. In der Hauptkampflinie am Dürnbach, ganz in der Nähe der Brücke zur Waldschmidtstraße, lag drüben das jugendliche Flüchtlingsgschwerl, wir Einheimischen auf der Seite zur Dürnbachstraße hin. Michel spähte lange, bis er einen vorwitzig aus dem Gebüsch hervorlugenden Jungen entdeckte und warf dann mit solcher Präzision seinen Flusskiesel, dass er das Knie des Gegners traf, der voller Schmerz losschrie und vor dem Gebüsch mit stark blutendem Gebein im Kreis sprang. Das hatte er nun von seiner feigen Flucht in unsere Heimat!
Der Gerhard war eigentlich ein Freund von uns. Doch einmal nahm er den Michel so brutal in den Schwitzkasten, dass ich, um ihn zu retten, eine lockere Latte aus dem Zaun riss und damit, in seliger Erinnerung an meinen Genickschlag für unseren Vetter, auf die blanken Haxen des Michel-Quälers eindrosch. Der schrie wie der Flüchtling im Bachbett, und wir blieben als Sieger auf der Wallstatt zurück.
Mutter ließ uns gewähren, weil sie das alles meist nicht mitbekam. Im Gegenteil. Nie werde ich ihr vergessen, wie sie eine Frau mit ihrem Feldwebelton niedergeputzt hat. Die hatte uns als Verbrecherkinder beschimpft, eine direkte Charakterlinie von Vater Hans zu seinen Söhnen Michel und Niki gezogen, obwohl wir ihr – politisch neutral – nur eine Tüte mit feinem Straßenstaub von hoch oben aus dem Baum heraus auf ihren Mantel geschüttet hatten. Der Baum stand genau vor unserer neuen Mietwohnung in der Neuhauser Dürnbachstraße, sodass meine Mutter das Geschimpfe im Haus hören konnte, herauskam und sich eisern vor ihre beiden Rotzbuben stellte.
Gitti hat seelisch wohl am meisten abbekommen. Das fing schon damit an, dass unser Vater nach seiner Flucht aus Krakau bei der Ankunft auf dem Schoberhof strahlend vor Wiedersehensglück statt Gitti ihre Freundin Annelies auf den Arm genommen hatte, sie abbusselte und immer wieder verzückt rief: »Meine Gitti, meine Süße!« Annelies wehrte sich verzweifelt in seinen Armen und rief: »Aber ich bin doch die Annelies!«
Vater sagte lachend und nicht unwitzig, als er Annelies absetzte: »Aber Du siehst ihr ja sooo ähnlich!«
Als Gitti bei einem Theaterstück der katholischen Jugendgruppe zusammen mit ihrer Freundin eine reiche Dame spielte, hatten beide schicke Pelzjäckchen an. In der Pause sprachen die Besucherinnen über die Darbietung und wunderten sich über die kostbaren Kleidungsstücke. Eine sagte lauthals: »Die stammen von der Frau Frank! Die hat sie in Polen den Juden gestohlen. Die waren ja da drüben so reich.«
Auch Michel wurde nicht verschont, sondern im Fischbachauer Kinderheim von der Leiterin übel beschimpft, wie Mutter ihrem Hans in die Nürnberger Zelle schreibt: Michel hat immer Hunger, und als er mir einen Brief geschrieben und sich darüber beschwert hatte, hat ihn die maßgebende Schwester zerrissen und gesagt: »Ach, du bist wohl was Besseres gewöhnt? Das glaube ich schon, nachdem Dein Vater alles in Polen gestohlen hat!«
Heulend erzählt er es später unserer Mutter, die am 15. März 1946 das Ergebnis ihres Besuchs in Michels Kinderheim mitteilt: Ich sprach mit der Schwester, die so Hässliches gesagt hatte. Es war gut, dass sie mich kennen lernte. Ich glaube nicht, dass sie sich nun noch mal so etwas erlauben würde, denn ich hatte doch den Eindruck, dass sie viel Respekt hatte.
Da muss Muttern ihre andere Waffe eingesetzt haben: Zwischen sehr, sehr dünnen Lippen konnte sie einen leisen aber verbrennenden Sprachton einsetzen. Den hat ja auch ihr Hans ein Leben lang gefürchtet. Ich tat es auch, bis sie genau an meinem 20. Geburtstag starb. Gut gemacht, Mutter! Normans erste Ehefrau Ellen tat es ihr darin gleich. Sie ging genau an Normans Geburtstag in ein Hotel am Münchener Hauptbahnhof, hatte sich ein schönes Kleid angezogen, stellte ihre Schuhe ordentlich vor ihr Bett, löste eine Unmenge Tabletten in einem Wasserglas auf, leerte es und legte sich hin. Norman trank derweil mit Freunden in einer Kneipe seinen Geburtstag schön.
Er konnte seine Liebe nicht zeigen. Das konnte auch keines seiner vier Geschwister. Vermutlich Folge ihres Henkers am Galgen: Alle Fünf hatten durch ihn einen Hau mitbekommen. Andererseits schweißt so ein Galgen auch zusammen.
Als Michel in einem Auracher Kinderheim lebte, Gitti bei Mutters Freundin in München zur Schule ging, weil unsere Mutter total erschöpft in ein Münchener Krankenhaus eingeliefert worden war, lag ich im Kinderkrankenhaus in Achatswies bei Fischbachau mit einer Drüsenerkrankung. Dort ging es mir nur ein einziges Mal schlecht, als ich mich nämlich wegen der inzwischen ungewohnt guten Kost übergab, das Erbrochene allerdings noch einmal essen musste. Vielleicht die Rache einer vom Dritten Reich entsetzlich behandelten Krankenschwester, die unerbittlich neben mir stehenblieb, bis ich alles wieder verdrückt hatte. Ich sehe den verkotzten Teller noch vor mir.
Natürlich ist das ein brutales Vergehen an einem 5-Jährigen, doch gegen miese eigene Erlebnisse setze ich Zeit meines Lebens: Was ist das im Vergleich zum Leiden der Millionen Opfer des Holocaust? Wir Frank-Kinder haben nie deren ausweglose Verzweiflung erlebt. Ich konnte sogar sehr alt werden. Was für ein Geschenk.
Norman sagte mir gegen Ende seines Lebens, das immerhin beinahe 81 Jahre lang bis 2009 dauerte: »Ich hab viel Glück und viel Gnade erlebt.«
Ich auch.
Das wusste ich damals nicht. Michel und mir war wichtig, am Ostersonntag 1946 in aller Herrgottsfrühe leise aufzustehen, damit Mutter nichts merkt. Wir schlichen in den Garten der beiden Nachbarbuben Schuppi und Hansi. Die hatten unter zwei riesigen Fichten wie jedes Jahr je ein goldiges Osternest aus Moos, bunten Girlanden und goldenen Sternchen gebaut, dazu einen Weg für den Osterhasen mit weißen Steinchen berändert. Wenn sie dann aufstanden, waren die Nester allösterlich mit Eiern und Süßigkeiten gefüllt. Dieses Mal nicht. Zwei Tage hatten Michel und ich unsere großen Geschäfte in uns behalten. Nun entluden wir sie in die beiden Nester.
Als wir das wenig später triumphierend Gitti erzählten, fing sie aus Mitleid mit den Nachbarsbuben an zu weinen, versprach aber, uns nicht zu verraten. Natürlich erzählte sie es unserer Mutter. Die begann uns auszuschimpfen, musste dann aber lachen. Vielleicht erinnerte sie sich daran, dass sie einmal als Kind ihrem Opa ins Ohr gebissen hatte.
Ob es Vater in seiner Zelle gutgeheißen hätte, glaube ich nicht. Er war zu dieser Zeit schon katholisch getauft worden, hatte seine private Jesus-Erscheinung in seiner Zelle und hätte die vollgeschissenen Nester sicher als Beleidigung von Jesu Auferstehung zornflammend verdammt.
Unsere Mutter hat es nach Untergang des Dritten Reiches am schlimmsten getroffen. Selbst in der »Süddeutschen Zeitung«, meinem lebenslangen Leib- und Magenblatt, veröffentlichte ein A. Heueck – automatisch tippe ich auf einen Mann – am 16. November 1945 auf Seite 4 diesen Artikel:
»FRAU MINISTER« SIND UNZUFRIEDEN
Was Frau Frank unter Nationalsozialismus verstand
Schliersee, 14. Nov. (Eig. Ber.)
Die Familie Hans F r a n k, weiland Generalgouverneur von Polen, erfreut sich keiner sonderlichen Beliebtheit im Schlierseer Land. Frau Brigitte Frank, die entthronte »Herrin vom Schoberhof«, hat ja jetzt einiges von ihrer aufreizenden Arroganz verloren, mit der sie über die simplen Leute in den Krachledernen hinwegsah, aber sie ist von Kopf bis Fuß Dame geblieben.
Ach, es gäbe jetzt so viel in einem fünfköpfigen Haushalt zu tun, aber wenn man ein Jahrzehnt lang an ein zehnköpfiges Personal gewohnt war, fällt es freilich schwer, in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung allein Ordnung halten zu müssen. Aber keine Hand mehr würde sich für die so gefürchtete »Frau Minister« rühren, auch nicht aus christlicher Nächstenliebe, die sie jetzt so gern anruft. Man muss den Herrensitz einmal besucht haben, um sich davon einen kleinen Begriff machen zu können, wie bescheiden ein beispielgebender Nationalsozialist zu wohnen pflegte. Soweit es sich nach den Plünderungen der Tage während des Zusammenbruchs noch erkennen ließ, waren die Räume mit Inventar und Kunstgegenständen überhäuft, die weiß Gott wo einmal gestanden haben mochten, sodass der Eindruck nahelag, es mit der prunkhaft eingerichteten Luxuswohnung eines Neureichen zu tun zu haben. Die Tage vom Schoberhof sind unwiderruflich zu Ende – damit muss sich auch die Familie Frank allmählich abfinden, wenn es auch manchmal schwerfällt. Die 19-jährige Tochter Sigrid hat sich inzwischen durch eine Heirat mit dem 21-jährigen Schauspielereleven Hans Seitz getröstet, der sein Debut beim Schlierseer Bauerntheater unterbringen wollte, wofür sich aber Frau Mittermayr, die Inhaberin, höflichst bedankte. Bezeichnenderweise fand die Hochzeit an dem Tage statt, da der Vater bzw. Schwiegervater in seiner Nürnberger Zelle die vernichtende Anklageschrift zu lesen bekam. Starrheit, Kälte und Gefühllosigkeit scheinen überhaupt die Grundzüge der Familie des notorischen Kriegsverbrechers zu sein. Dazu kommt noch eine gehörige Portion Frechheit, wenn man der eigenen Behauptung der Frau Frank Glauben schenken darf, dass sie sich nicht nur beim Erzbischof von Bamberg, sondern sogar beim Internationalen Gerichtshof in Nürnberg über ihre gegenwärtigen Lebensverhältnisse beschwert habe. Man hat der »Frau Minister« bisher noch kein Haar gekrümmt und sie immer anständig behandelt, aber was würde »Frau Minister« sagen, wenn man gegen sie die gleichen Methoden angewandt hätte wie die Nazis gegenüber den politisch Unzuverlässigen und Unbequemen, oder gar, wenn das ungeschriebene barbarische Gesetz über die »Mitverantwortung der Sippschaft« auch heute noch angewandt werden würde? Wir glauben, die heute so unzufriedene »Frau Minister« würde dann wahrscheinlich gar keine Gelegenheit mehr zur Äußerung ihres Unwillens finden …
Dass dieser kleine Hallodri statt von Befreiung von den Tagen des Zusammenbruchs schreibt, zeigt, dass sein Verstand von der Tugend der Hetze, eine der mächtigsten Waffen des Dritten Reiches, nie befreit werden wird.
Mutter hat der Artikel tief ins preußische Mark getroffen. Über Dr. Seidl versucht sie, ihn an Hans zu schicken. Ob es gelang, weiß ich nicht.
Brigitte Franks täglicher Einkauf in Neuhaus oder in Schliersee muss damals für sie eine Qual gewesen sein. Dennoch behielt sie ihre Stärke, machte sogar Witze, wie sie Hans am 10. September 1946 ins Gefängnis schreibt: