Seewölfe Paket 11

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Hasard konzentrierte sich wieder auf das, was sich am Strand abspielte.
Die Indonesier, die die Bastsäcke mit ihrem offenbar schweren Inhalt herangeschleppt hatten, erreichten das Boot und zerrten die Säcke ins knöcheltiefe Wasser.
Hasard begriff plötzlich, was geschehen würde. Es brachte ihn fast um den Verstand. Eine imaginäre glühende Faust wühlte in seinem Magen.
Aber in diesem Augenblick konnte er nichts für Carberry tun. Noch nicht. Solange das Boot am Strand lag, war es sinnlos.
Die Minuten verrannen quälend langsam.
Auf der „Isabella“ war es totenstill. Das unfaßbare Geschehen wirkte wie lähmend auf die Männer.
Sie schnürten die Bastsäcke zu und verknoteten die Enden der dünnen Strikke mit Ed Carberrys Fesseln.
Insgesamt vier solcher Säcke waren es, und als sie sie ins Boot wuchteten, wurde klar, daß es sich bei dem Inhalt um nichts anderes als Steine handelte. Lavabrocken oder sonstwas.
Dem Profos war es reichlich egal, ob es nun erkaltete Lava oder Felsgestein war. Fest stand, daß sie ihm zentnerschwere Gewichte an den Leib gehängt hatten – um ihn zu ersäufen wie eine Katze.
Obwohl nur dieser niederschmetternde Umstand letzten Endes zählte, ertappte er sich dabei, daß er darüber herumgrübelte, was für Steine es nun wohl sein mochten.
Sinnigerweise hatten sie seine Augen nicht verbunden, diese Kanalratten, diese dreimal verfluchten hinterhältigen Rübenschweine. Als sie seine Fußkette von Dan O’Flynn gelöst hatten, war es ihm noch nicht gleich klargeworden, was sie planten. Aber als sie dann mit zehn Mann über ihn hergefallen waren – draußen vor dem Palast, da war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen.
Jetzt erlebte er alles bis ins Kleinste mit – eben weil sie ihm die Augen nicht verbunden hatten. Mit voller Absicht hatten sie das nicht getan.
Teuflische Bastarde!
Nie in seinem Leben hätte er es sich träumen lassen, einmal auf eine so schändliche Weise zu enden. Hier mußte er sich wie ein Stück Vieh auf der Schlachtbank fühlen. Schlimmer als ein Delinquent, der nach einem ordnungsgemäßen Gerichtsurteil hingerichtet wurde – auf welche Weise auch immer. Einem solchen Delinquenten gestattete man wenigstens noch einen Rest an menschlicher Würde.
Den Tod hatte Edwin Carberry nie gefürchtet. Allein deshalb nicht, weil er stets eine bestimmte Vorstellung vom Sterben gehabt hatte. Seite an Seite mit seinen Gefährten im wildesten Kampfgetümmel, Mann gegen Mann mit blanken Waffen – dann irgendwann der alles entscheidende Hieb wie ein Blitz aus heiterem Himmel – ein Hieb, den man fast nicht mehr spürte.
Ja, das wäre für den Profos der „Isabella“ ein ehrenvoller Tod gewesen. Selbst wenn ihn das Schicksal in einem Kampf an Land ereilt hätte, wäre es für ihn noch nicht unehrenhaft gewesen – obwohl Schiffsplanken für einen Profos natürlich der bessere Platz zum Sterben waren.
Aber dies, verdammt noch mal, war das Niederträchtigste, was Menschen einem Menschen zufügen konnten.
Ed Carberry drehte den Kopf ein wenig mehr zur Seite, so daß er besser sehen konnte, was sich am Strand abspielte. Mehr als den kleinen Finger konnte er praktisch nicht bewegen. Sie hatten ihn höllisch gut verschnürt. Darin verstanden sie ihr Handwerk, diese drahtigen kleinen Satansbraten.
Die sechs Kerle, die Mühe gehabt hatten, sein Lebendgewicht zu schleppen, standen noch immer abwartend neben dem Boot. Am Ufer hochaufgerichtet dieser Kerl in Weiß, Ayia Padang Mantra, der Brahmane. Ed Carberry erinnerte sich sehr genau an das alberne Vorstellungszeremoniell im sogenannten Königspalast. Dieser komische Raja hatte damit nichts anderes bezweckt, als sich aufzuspielen und seine Macht zu demonstrieren. Lächerlich! Gefesselten Gefangenen gegenüber konnte selbst eine Laus ihre Macht unter Beweis stellen.
Der Brahmane scheuchte jetzt die vier Steinträger mit einer herrischen Handbewegung fort.
Die Männer hasteten los, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken. Der Weißgekleidete genoß offenbar einen ungeheuren Respekt.
Ayia Padang Mantra stieß einen kehligen Befehl aus. Die sechs Männer, die neben dem Boot ausgeharrt hatten, schwangen sich behende an Bord. Der leicht gebaute Kahn mit den weit geschwungenen Auslegerstangen schaukelte beträchtlich. Die Indonesier griffen nach den Paddeln, deren Blätter aus dünnem Holz bestanden und kreisrund waren.
Ed Carberry mußte den Kopf noch mehr drehen, um zu erkennen, daß jetzt auch der Brahmane an Bord ging. Einen Moment blieb er aufrecht stehen. In der rechten Hand hielt er Palmenblätter, in die eine halbe Kokosnußschale gebettet war.
An Land herrschte völlige Stille. Nur das leise Rauschen des Windes in den hohen Kronen der Palmen war zu hören.
Der Brahmane griff mit der Linken in die Kokosnußschale und sprengte Wasser über das Boot und die Männer. Heiliges Wasser, wie sie es nannten. Dazu murmelte er einen monotonen Sermon von kehligen Worten. Die sechs Indonesier hielten die Köpfe geneigt. Dann, schließlich, setzte sich der Brahmane auf ein schmales Brett, das der Achterducht einer Ruderjolle ähnelte.
Ed Carberry drehte den Kopf zur anderen Seite. Ja, das Beiboot der „Isabella“ lag noch dort am Strand, wo sie es zurückgelassen hatten. Die Indonesier konnten damit offenbar nicht viel anfangen.
Das Auslegerboot wurde abgestoßen, und die sechs Männer tauchten die Paddel ein. Mit rasch zunehmender Fahrt glitt der schlanke Bootskörper durch den mäßigen Wellengang. Unmittelbar unter seinem Kopf hörte Ed Carberry das rhythmische Klatschen der Wellen gegen den Rumpf.
Erneut stimmte der Brahmane ein monotones Gemurmel an. Dabei sprengte er mit weit ausholenden Handbewegungen sein heiliges Wasser nach links und rechts in die Fluten.
Dieses Gemurmel zerrte an Ed Carberrys Nerven. Er hatte die unbestimmte Ahnung, daß der Moment, in dem es endete, auch sein eigenes Ende bedeutete.
Urplötzlich empfand der Profos unendliche Einsamkeit. Eine Einsamkeit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Angst kroch in dem bärenstarken Mann hoch, und er haßte sich für dieses Gefühl. Doch dann sagte er sich, daß es wohl keinen Menschen gab, der angesichts eines solchen Todes keine Angst verspürte.
Eine Ewigkeit schien verstrichen zu sein, obwohl das Boot erst vor wenigen Sekunden abgelegt hatte. Ed Carberry verlor jegliches Zeitgefühl. Das Murmeln des Brahmanen trug dazu bei, ebenso das gleichmäßige Klatschen beim Eintauchen der Paddel.
Der Profos gab sich einen inneren Ruck und zwang sich, seine letzten Gedanken der „Isabella“ zu widmen, die vor der Insel ankerte. Die stolze Galeone war seine Welt gewesen, und er wollte wenigstens in Gedanken dort sein, wenn es mit ihm zu Ende ging.
Daß Hasard und die anderen ihm nicht helfen konnten, stand für ihn fest. Es gab keine Rettung, denn für die Indonesier genügte ein schneller Stoß, um ihn über Bord zu befördern und zu ersäufen. Kein Beiboot konnte schnell genug sein, damit sie ihn dann noch rechtzeitig heraufholten.
Das Gemurmel des Brahmanen erhielt einen dunklen Unterton. Dieser Unterton wurde stärker, im nächsten Moment schien es, als mische sich eine zweite Stimme in die rituellen Redewendungen des Ayia Padang Mantra.
Ed Carberry wurde erst dann stutzig, als aus dieser vermeintlichen zweiten Stimme ein mächtiger, grollender Baß wurde.
Die sechs Indonesier stießen einen Entsetzensschrei aus, hielten jäh mit dem Paddeln inne und warfen die Köpfe herum.
Der Brahmane erbleichte, brach sein Gemurmel gleichfalls ab. Auch er drehte sich um – langsamer jedoch, geradezu schuldbewußt.
So konnte keiner von ihnen sehen, daß die Männer an Bord der englischen Galeone die Musketen wieder sinken ließen, die sie eben in Anschlag bringen wollten.
Das mächtige Grollen schwoll an und verdichtete sich zu einem urgewaltigen Donner, der Erde und Wasser gleichermaßen vibrieren ließ.
Schreckensbleich starrte der Brahmane zum Vulkankegel.
Im nächsten Atemzug bestätigte sich seine Ahnung.
Eine Rauchsäule stieg aus dem Krater hoch, bis sie vom Wind erfaßt wurde und zerfaserte. Das Grollen nahm indessen unvermindert zu.
Jäh zuckte ein Glutstrahl fast kerzengerade aus dem Krater. Er wurde von einem schmetternden Krachen begleitet.
Der Brahmane schrie einen gellenden Befehl.
Wie von Furien gehetzt, tauchten die Indonesier die Paddel ein und wendeten das Boot. In rasendem Rhythmus peitschten die Paddelblätter das Wasser.
Mit einem Funkenregen, der sich fächerförmig über den Vulkankegel ergoß, sank der Glutstrahl aus dem Krater in sich zusammen. Als das Auslegerboot den Strand erreichte, nahm auch das Grollen aus der Tiefe der Erde ab.
Der Brahmane sprang als erster aus dem Boot und schrie den sechs Indonesiern einen Befehl zu. Sie folgten ihm mit wilden Sprüngen und zogen den Bootskörper mit dem beträchtlichen Gewicht Edwin Carberrys an Land.
Die Riesenschar der Menschen, die am Palmenwald ausgeharrt hatten, war vor Entsetzen wie gelähmt.
Nur Kapitän Einauge und seine portugiesischen Landsleute bildeten eine Ausnahme. An ihrer Spitze stapfte Laurindo de Carvalho dem Brahmanen mit unverkennbarer Wut entgegen.
In fliegender Hast zerrten die sechs Indonesier unterdessen den gefesselten Profos vom Boot und schleiften ihn den Strand herauf.
„Halt!“ brüllte de Carvalho schon von weitem. „Bleibt stehen! Verdammt noch mal, wollt ihr wohl stehenbleiben!“
Aber die Inselbewohner schienen ihn nicht zu verstehen, obwohl er ihre Sprache benutzte. Sie beachteten die Portugiesen nicht einmal, während sie den Profos zum Palmenwald schleppten und ihn dort eilends von seinen Fesseln befreiten.
Jetzt stand er aufrecht, nur noch mit den Ketten an Hals und Handgelenken.
Laurindo de Carvalho hatte dem Brahmanen den Weg versperrt. Fassungslos beobachtete der Einäugige, was sich dort oben am Palmenwald abspielte. Dann wandte er sich mit einer ruckhaften Bewegung dem Hindu-Priester zu.
„Was ist in dich gefahren, Mann? Du verstößt gegen unsere Abmachung! Der Engländer sollte hingerichtet werden. Was fällt dir ein, dich einfach darüber hinwegzusetzen und …“
Der Brahmane unterbrach ihn mit einer energischen Handbewegung. Seine Augen waren schmal und furchtlos, während er den Portugiesen ansah.
„Geh mir aus dem Weg, Einauge. Dies ist etwas, was du niemals begreifen würdest.“
Das Grollen des Vulkans war mittlerweile fast verstummt.
„Ich verlange eine Erklärung!“ schnaubte de Carvalho, und seine Landsleute, die hinter ihm einen Halbkreis bildeten, nahmen eine drohende Haltung ein. „Ich persönlich habe mit dem Raja die Entscheidung getroffen. Der Engländer sollte hingerichtet werden, damit wir die verdammten Kerle endlich dazu bewegen, ihr Schiff herauszurücken!“
Ayia Padang Mantra schüttelte bedächtig den Kopf.
„Du wirst es nie begreifen, Einauge, weil du es nicht begreifen kannst. Selbst wenn du den Rest deines Lebens auf unserer Insel verbringst, wirst du den Göttern niemals so nahe sein wie wir.“
„Götter! Blödsinn!“ schrie der Portugiese zornrot. „Ich habe bislang eine Menge Verständnis dafür gehabt, aber jetzt reicht es! Bei so einem Schwachsinn hört meine Geduld auf. Kein Wunder, daß ihr nie zu einer vernünftigen Kriegsführung fähig wart. Ich denke nicht daran, mir das gefallen zu lassen. Wenn ich meine Fähigkeiten in der Seekriegsführung für euch einsetze, dann erwarte ich auch …“
Wieder unterbrach ihn der Brahmane.
„Deine Entscheidung und auch die Entscheidung des Raja sind gegen den Willen der Götter unbedeutend. Und die Götter haben gesprochen. Ihr Zeichen war unmißverständlich.“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm zu dem Vulkankegel. „Ich selbst habe falsch gehandelt und werde in einer Zwiesprache mit den Göttern zu Rate gehen müssen, um zu einer Entscheidung zu gelangen, die von ihnen gebilligt wird.“
„Aber …“ setzte de Carvalho an.
Der Brahmane ließ ihn einfach stehen und ging mit würdevoller Haltung weiter. Er schloß sich dem Raja und dessen Gefolge an. Die Indonesier bewegten sich bereits auf den Pfad im Palmenwald zu.
Edwin Carberry lief kettenklirrend in ihrer Mitte.
Bebend vor Wut stand Laurindo de Carvalho mit seinen Landsleuten noch immer am Strand. Er wagte nicht, zu der englischen Galeone zu blicken, denn er glaubte schon jetzt das überlegene Lachen jenes Sir Hasard zu sehen.
„Es hat keinen Zweck, Laurindo“, sagte Luiz Cardona leise, „es hat keinen Zweck, wenn wir uns jetzt auf die Hinterbeine stellen. Du weißt, wie halsstarrig die Inselbewohner sind, sobald es um ihre Götter geht. Also sollten wir gute Miene zum bösen Spiel machen und uns auf sie einstellen.“
De Carvalho starrte ihn an.
„Wie denn das? Diese hirnverbrannten Dummköpfe bringen es doch glatt fertig, die Engländer freizulassen! Und wie stehen wir dann da? Dann haben wir überhaupt kein Schiff mehr!“
Cardona nickte.
„Eben drum. Wenn wir hier herumstehen, erreichen wir überhaupt nichts. Ich schlage vor, daß wir uns vor allem erst einmal um die Gefangenen kümmern. Wenn der Brahmane wirklich auf die Idee verfallen sollte, sie freizulassen, können wir das wenigstens verhindern.“
Laurindo de Carvalho holte tief Luft und blies den Atem schnaufend aus.
„Dieser Tag“, sagte er erbittert, „ist der unglückseligste meines Lebens.“
Er konnte nicht wissen, um wieviel mehr sich diese Feststellung noch bewahrheiten sollte.
8.
„Jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr“, meinte Old Donegal Daniel O’Flynn kopfschüttelnd. Wie alle anderen an Bord der „Isabella“ hatte er das Geschehen fassungslos beobachtet.
Doch es gab einen Mann auf der Galeone, für den eine Erklärung auf der Hand lag.
Der Kutscher, dessen Namen niemand kannte, verließ seinen Platz in der Nähe des Kombüsenschotts und steuerte auf den Seewolf zu.
„Sir, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf …“
Hasard drehte sich um.
„Ja?“
„Ich glaube, Edwin Carberry und die anderen haben im Moment nichts zu befürchten. Wenigstens von den Indonesiern nicht.“
Hasard runzelte die Stirn.
„Das mußt du schon ein bißchen näher erklären.“ Er wußte, daß sich der Kutscher während seiner Dienstzeit bei Doc Freemont eine Reihe von Kenntnissen angeeignet hatte, die man getrost als außergewöhnlich bezeichnen konnte. Doc Freemont war ein gebildeter Mann, und an vielen langen Abenden vor dem Kamin hatte er mit seinem Kutscher Gespräche geführt, die beiden über die Einsamkeit hinweggeholfen hatten.
Seit vielen Jahren leistete der Kutscher nun schon seine Arbeit in der Kombüse der „Isabella“, und auch als Feldscher hatte er sich bestens bewährt – war es ihm doch gelungen, auch in dieser Beziehung einiges von Doc Freemont zu lernen.
„Ich habe einiges über den Hinduismus gehört und gelesen, Sir. Was sich soeben ereignete, hat unmittelbar mit der schwachen Vulkantätigkeit zu tun. Dem Hindu-Glauben entsprechend, wird dieser Vulkan vermutlich als irdischer Wohnsitz der Götter betrachtet. Und die Eruption erfolgte haargenau in dem Moment, in dem unser Profos geopfert werden sollte.“
„Geopfert?“ fragten die umstehenden Männer verblüfft. „Dieser portugiesische Schweinehund wollte uns doch nur unter Druck setzen, damit er sich unser Schiff unter den Nagel reißen kann!“ Es war Ferris Tucker, der grollend diese Feststellung traf.
„Laßt den Kutscher reden“, entschied Hasard.
„Danke, Sir.“ Der schmale, dunkelblonde Mann lächelte kaum merklich. „Natürlich wollte der Portugiese seinen persönlichen Zweck mit dem Menschenopfer verbinden. Aber für die Indonesier ist es in erster Linie ein kultischer Akt. Das, was sie dadurch erreichen wollen, geschieht nach ihrem Glauben nur dann, wenn die Götter ihre Zustimmung geben.“
„Genau so ist es!“ rief der alte O’Flynn aufgeregt. „Haargenau so!“ Jeder an Bord wußte, daß er allem Übersinnlichen besonders zugetan war.
„Ich frage mich nur, wie so was funktionieren soll“, knurrte Ferris Tucker.
„Eine wichtige Rolle spielen für Hindus die Dämonen“, fuhr der Kutscher fort, „wenn sie dem Meer ein Menschen- oder Tieropfer bringen, hat es den Zweck, die Meeresdämonen in ihre Schranken zu weisen. Das geschieht natürlich dadurch, daß ihnen die Götter nach dem Opfer wohlgesonnen sind und die Dämonen aus dem Feld schlagen. In unserem Fall glaubten die Indonesier also, daß sie mit Unterstützung ihrer Götter unser Schiff in Besitz nehmen könnten, weil sie vermutlich annahmen, daß die Dämonen auf unserer Seite waren.“
„Ich verstehe“, sagte der Seewolf. „Die Vulkantätigkeit war natürlich reiner Zufall. Aber trotzdem glauben sie, daß die Götter mit dem Opfer nicht einverstanden sind. Deshalb haben sie das Ganze abgeblasen.“
„So wird es sein“, sagte der Kutscher, „und der Portugiese sieht vermutlich seine Felle davonschwimmen, weil er die grausame Zeremonie aus einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachtet hat.“
„Nein, nein!“ rief Old Donegal Daniel O’Flynn. „Der Vulkanausbruch war bestimmt kein Zufall! Es gibt nun mal Dinge auf dieser Welt, von denen wir uns überhaupt keine …“
„Hör auf, Old Donegal!“ brüllten die anderen. „Um Himmels willen, hör auf!“
Hasard sorgte mit einer energischen Geste für Ruhe.
Der alte O’Flynn schwieg beleidigt. Immer wieder mußte er es erleben, daß niemand für seine Geschichten Verständnis hatte. Aber verdammt merkwürdig war es doch, daß sie dem Kutscher zuhörten. Vielleicht lag es nur daran, daß er seine Worte ein bißchen besser zu wählen verstand. Aber das war noch lange kein Grund, sich über einen alten Mann lustig zu machen.
Old Donegal beschloß grimmig, ihnen bei passender Gelegenheit den Kopf zurechtzusetzen – dann nämlich, wenn er wieder einmal recht behalten hatte. Die unerklärlichen Dinge, die sie in Australien erlebt hatten, waren anscheinend schon völlig in Vergessenheit geraten.
„Wir brechen sofort auf“, ordnete der Seewolf an. „Obwohl es riskant ist, können wir nur drei Mann als Wache an Bord zurücklassen. Der Kutscher, Old O’Flynn und unser Moses übernehmen das. Außerdem bleiben natürlich Philip und Hasard an Bord. Wir brauchen alle verfügbaren Kräfte für den Einsatz auf der Insel. Klariert die große Jolle! Beeilt euch, wir erwischen keinen günstigeren Moment!“
Die Zwillinge protestierten ausnahmsweise nicht dagegen, daß sie zurückbleiben mußten. Ihnen war klar, daß an Land die Fetzen fliegen würden. Und dazu fehlten ihnen denn doch noch einige Lebensjahre.
Hasard wandte sich noch einmal kurz zur Insel um.
Der Strand war wie leergefegt – dank des Entsetzens, das den Indonesiern in den Knochen saß.
Noch immer stieg eine dünne Rauchsäule aus dem Krater des Vulkans, als der Kiel der großen Jolle auf den Ufersand knirschte. Das urgewaltige Grollen aus der Tiefe der Erde war jedoch verstummt.
Der Seewolf und seine Männer sprangen außenbords und zogen die Jolle höher auf den Strand. Ferris Tucker lief zu dem kleineren Beiboot, mit dem Ed Carberry und seine Begleiter an Land gegangen waren. Während sich der hünenhafte Schiffszimmermann davon überzeugte, daß das Beiboot unversehrt war, verteilten die anderen die Waffen.
Außer Pulverflaschen und Kugelbeuteln erhielt jeder eine Muskete und eine Pistole, überdies baumelten Entermesser oder Säbel an ihren Gurten. Ferris Tucker kehrte zurück und schulterte seine Zimmermannsaxt, die er als furchtbare Waffe einzusetzen verstand.
Hasard selbst hatte seinen Radschloßdrehling und den schweren Säbel mitgenommen. Auf eine Muskete verzichtete er, weil er größere Beweglichkeit brauchte. Mit dem Drehling verfügte er ohnehin über sechs Schuß, die er nacheinander abfeuern konnte, ohne nachladen zu müssen.
Sie verloren keine Zeit. Unbehelligt erreichten sie den Palmenwald. Dort fanden sie auf Anhieb den Pfad, von dem sie wußten, daß er zur Ansiedlung der Inselbewohner führen mußte.
Der Seewolf und seine Männer marschierten mit weitausgreifenden Schritten, und der weiche Boden dämpfte die Geräusche. Nur das leise Klirren der Waffen war zu hören.
Eine unnatürliche Stille lastete über der Insel. Selbst aus der grünen Dichte des tropischen Waldes drang kein Laut, keine der schrillen Vogelstimmen, die sonst in jedem Urwald zu hören waren.
Zügig umrundeten sie die plateau-ähnliche Anhöhe aus Lavagestein. Auf der anderen Seite stießen sie auf die Fortsetzung des Pfades. Hasard hatte es nicht riskieren wollen, die Anhöhe auf direktem Weg zu überqueren. Möglicherweise gab es irgendwo doch noch Wachtposten. Darauf, daß sich die Indonesier aus Angst vor dem Vulkan verkrochen hatten, konnte er sich nicht allein verlassen.
Die Zeit schien rasend schnell zu verstreichen. Hasard wußte, daß es das bohrende Gefühl war, etwa doch noch zu spät zu kommen. Auf dem Weg durch den Dschungel sprach keiner seiner Männer ein Wort. Jeder hegte die gleichen Gedanken – Gedanken an die Freunde und Gefährten, die noch immer in Ketten lagen oder gar schon getötet worden waren.
Die Luft war drückender geworden, ein seltsames Zwielicht war heraufgezogen. Der Himmel, soweit er durch die dichten Baumkronen zu erkennen war, hatte sich grau gefärbt. Kein düsteres Grau, wie es im heimischen Europa einen Regenschauer ankündigte. Dies hier war eine unnatürliche, eher schweflige Färbung, die sich mit zunehmender Intensität auf das Land herabzusenken schien.
Unvermittelt verlangsamte der Seewolf seine Schritte, hob die rechte Hand, gab das Zeichen zum Halten und winkte Ben Brighton zu sich heran.
Ben folgte der Aufforderung auf leisen Sohlen.
„Ich denke, wir haben das Dorf vor uns“, flüsterte Hasard und deutete nach vorn. Über dem Dickicht, zwischen den Reihen der lianenumwucherten Baumstämme, waren hellere Flecken von Bambusholz zu erkennen.
„Wir sollten uns schon jetzt in zwei Gruppen aufteilen“, gab Ben ebenso leise zurück.
Der Seewolf nickte und wandte sich um. Worte waren nicht erforderlich. Knappe Handzeichen genügten.
Für seine eigene Gruppe teilte Hasard Ferris Tucker, Smoky, Pete Ballie, Al Conroy und Big Old Shane ein. Al und der Schmied von Arwenack trugen zwei handliche Kisten, die der Stückmeister gern als seine Trickkisten bezeichnete. Wie es Al Conroys Handwerk entsprach, bestand der Inhalt aus höchst brisanten und effektvollen Kleinigkeiten.
Zu Ben Brightons Gruppe gehörten Batuti, Blacky, Gary Andrews, Jeff Bowie, Will Thorne und Stenmark.
Vorsichtiger jetzt, fast lautlos, setzten sie ihren Weg fort, bis sie den Rand des Dschungels erreichten. Im Schutz der mächtigen Baumstämme verharrten sie.
Wie auf dem Präsentierteller lag das Dorf vor ihnen. Das Gewirr der Bambushütten, der breite Hauptweg und die steinernen Tempel – alles zusammen wirkte wie ausgestorben. Dennoch waren die Menschen hier, hatten sich in ihre Hütten verkrochen und warteten auf das Ergebnis der Beratung, die der Brahmane in einer stummen Zwiesprache mit den Göttern führte.
Nirgendwo war zwischen den Hütten eine Bewegung zu erkennen – nichts, was darauf schließen ließ, daß die Seewölfe bemerkt worden waren.
Hasard gab seinem ersten Offizier das vereinbarte Zeichen.
Hart am Rand des Dickichts pirschten sich Ben Brighton und seine Männer zur linken Seite des Dorfes vor – jeden Augenblick bereit, in Deckung zu gehen.
Auf die gleiche Weise drang Hasard mit seiner Gruppe in die entgegengesetzte Richtung vor. Mit dieser alten, doch bewährten Taktik hatten sie das Dorf in der Zange, wenn es hart auf hart ging. Sie bewegten sich so geräuschlos wie nur möglich. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern in tropischen Breiten war dies kein Neuland für sie. Sie kannten den Dschungelkampf mit all seinen Besonderheiten und Tücken.
Die einzigen Lebewesen, die sie sahen, waren Hühner und Hängebauchschweine in den Verschlägen hinter den Hütten. Auch die Tiere waren unerklärlich ruhig, kauerten in Ecken und beobachteten die Männer bei ihrem leisen Vordringen mit ausdruckslosen Augen.
Etwa in der Höhe der Dorfmitte hob Hasard die Hand. Sofort verharrten die Männer und suchten Deckung im Unterholz.
Der Seewolf spähte nach vorn. Steinmauern waren zu erkennen, nur wenig höher als die Palmblattdächer der Hütten. Es konnte sich um keinen der Tempel handeln, denn die befanden sich weiter im Zentrum der Ansiedlung. Hasard wandte sich zu Ferris Tucker um, der unmittelbar hinter ihm war.