Seewölfe Paket 11

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„Nein.“
„Verdammt“, zischte Young. „Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt!“
„Ich wollte euch beiden nur sagen, daß ihr es schafft, wenn ihr eisern weitermacht.“
„Danke“, murmelte Romero.
„Und wenn ihr erst frei seid, dann wär’s mir eine höllische Ehre, wenn ihr mich als nächsten von diesem elenden Pflock befreien würdet.“
„Jonny, mein Ehrenwort darauf“, raunte Morgan Young ihm zu.
Romero arbeitete mit verbissenem Eifer weiter, wußte aber, daß er den Schlegel und das Scharfeisen nicht mehr lange in seinen verkrümmten, schmerzenden Fingern halten konnte.
Der Wind briste auf, nahm immer mehr zu, wurde stürmisch und schien sich darüber zu erzürnen, daß die Segel der großen Galeone ihm Widerstand boten. Heftig blies er in das stark gelohte Zeug und pfiff und heulte in den Luvwanten und Pardunen.
Die „Isabella VIII.“ segelte durch die Nacht, mit nordwestlichem Kurs und halbem Wind, der aus Südsüdwest wehte. Mit Backbordhalsen und hart über Steuerbordbug krängend bahnte sie sich ihren Weg durch die aufgewühlten Fluten und lief die südliche Öffnung der Mentawai-Straße zwischen der Südwestküste von Sumatra und den Mentawai-Inseln an.
Im Südwesten, dort, wo sich schon am späten Nachmittag drohend die schwärzlichen Gewitterwolken zusammengeballt hatten, zuckten jetzt hin und wieder Blitze auf, die wie Irrwische vom Himmel in die See glitten und dort in den unergründlichen Tiefen verschwanden.
Ben Brighton, der Erste Offizier und Bootsmann der „Isabella“, stand neben seinem Kapitän Philip Hasard Killigrew auf dem Achterdeck, hielt sich mit einer Hand an der Nagelbank fest und schickte immer wieder besorgte Blicke nach Süden.
„Da braut sich ganz schön was zusammen!“ rief er dem Seewolf zu. „Und wir alle können heilfroh sein, daß du heute nachmittag die Kursänderung angeordnet hast, schätze ich!“
„Ja, ich bin sicher, daß wir noch einen biestigen Sturm auf die Jacke kriegen“, sagte Hasard so laut, daß es durch das Pfeifen des Windes und das Rauschen des Wassers hindurch zu verstehen war. „Wenn es allzu hart wird und wir ihn nicht abwettern können, verholen wir in eine Bucht, entweder auf einer der Inseln oder auf Sumatra.“
Tatsächlich war die Galeone in der Mentawai-Straße ziemlich geschützt, und es war eigentlich kein großer Umweg, den sie beschrieb, wenn sie ganz hindurchsegelte und später, bei der Insel Simeulue, wieder auf den westlichen Kurs zurückging, den der Seewolf ursprünglich festgelegt hatte, nachdem sie die Sundastraße verlassen hatten.
Er wollte hinüber in den Indischen Ozean und ihn quer durchfahren, als Ziel galt irgendwann die Ostküste Afrikas. Ob diese Überquerung aber nun nördlich oder südlich des Äquators stattfand, hatte im Grunde keine große Bedeutung.
Welchen Sinn hatte es, wenn er sich in den Kern der Schlechtwetterzone hinauswagte und dabei das Risiko einging, daß die „Isabella“ schwer angeschlagen wurde? Sie war zwar ein gutes, robustes Schiff, das schon manchen Sturm hinter sich hatte, aber unsinkbar war sie auch nicht. Außerdem hatte Hasard nicht das Recht, die Crew leichtfertig einer derartigen Gefahr auszusetzen.
Man sollte den Teufel nicht zu sehr am Schwanz ziehen, das hatten auch die jüngsten Erfahrungen auf der Insel Seribu gezeigt.
Old Donegal Daniel O’Flynn, der an der Schmuckbalustrade des Achterdecks stand und auf die Kuhl blickte, war der gleichen Meinung. Immer wieder nickte er bedeutungsvoll vor sich hin und murmelte etwas von der „Vorsehung“, den „Mächten der Finsternis“ und dem „heimtückischen Bösen“, das man in dieser Situation ja nicht herausfordern sollte.
Die Situation wurde laut seinen neuesten Darlegungen durch die Konstellation der Himmelsgestirne maßgeblich beeinflußt, aber ob er nun wirklich genau über die Sterne Bescheid wußte, war keinem an Bord der „Isabella“, so richtig klar.
Der Alte drehte sich um, stapfte über das tanzende Deck zum Ruderhaus hinüber und trat zu Blacky, der bei Beginn der ersten Nachtwache um acht Uhr Pete Ballie als Rudergänger abgelöst hatte.
„Es ist gut, aber auch wieder schlecht, daß wir in diese gottverdammte Meerenge hineinlaufen“, sagte Old O’Flynn. „Wir könnten mit Spaniern und Portugiesen zusammentreffen, Blacky, mit einem starken Verband. Macht euch alle auf was gefaßt, heute nacht noch.“
Blacky prüfte unausgesetzt Kurs und die Segel. „Woher willst du das wissen?“ fragte er.
„Ganz einfach. Sirius steht in einem ungünstigen Winkel zur Venus, und das bedeutet für uns dicken Verdruß.“
„Pech für Sirius“, sagte Blacky lakonisch, ohne den Alten auch nur aus den Augenwinkeln heraus anzusehen. „Diese Venus soll ja ein scharfer Brocken sein, hab ich gehört, und da …“
„Nein!“ unterbrach Old Donegal ihn scharf. „Sie ist kein Brocken, sondern ein Stern!“
„Ah so.“
„Und es gibt eine Wissenschaft, du Lorbas, die nennt sich Astrologie. Man sieht sich die Sterne an und weiß, welches Schicksal einem beschert wird.“
„So?“ meinte Blacky. „Aber wie sollst du die Sterne sehen, wenn der Himmel wolkenverhangen ist? Kannst du mir das mal erklären?“
Old O’Flynn verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Verachtung. „Dummbeutel“, sagte er – und verließ schleunigst das Ruderhaus. Eine Antwort auf Blackys berechtigte Frage wußte er nämlich selbst nicht.
Der Seewolf war mittlerweile an die vordere Schmuckbalustrade des Achterdecks getreten, beugte sich leicht vor und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund.
„Ed!“ schrie er.
„Sir?“ tönte es von der Kuhl zurück, etwa aus der Richtung der Gräting und der Beiboote. Die Gestalt des Profos’ war dort mehr zu ahnen, als richtig zu erkennen, aber er war da, allgewaltig und lautstark wie immer.
„Laß die Zurrings der Beiboote und die Haltetaue der Kanonen noch mal überprüfen!“ rief Hasard ihm zu. „Und dann sollen die Männer vorsichtshalber schon mal die Luken und Schotten verschalken und die Manntaue spannen, verstanden?“
„Aye, Sir, verstanden!“ meldete Carberry. Er schwenkte herum und ließ die übliche Wortkanonade auf die Männer los: „Ihr Himmelhunde, habt ihr’s nicht gehört? Flitzt los und zeigt die Hacken, willig, oder braucht ihr eine Sondereinladung? An die Stücke, an die Boote, und her mit den Spanntauen, zur Hölle, ich hab das schon schneller gesehen, ihr blinden Kanalratten! Ich will die Taue so stramm wie eure gottverdammten Affenärsche sehen, oder es gibt Zunder, daß es raucht! Mister Davies, pennst du? Mister Stenmark, muß ich dir Feuer unterm Achtersteven machen? Oh, ihr Triefaugen und Rübenschweine, wer hat euch bloß gezeugt?“
Matt Davies rannte zum Kutscher hinüber, um mit diesem zusammen das Kombüsenschott zu verschalken.
„Teufel auch“, sagte er wütend. „Manchmal denke ich, es wäre doch besser gewesen, wenn sie unseren Profos auf Seribu in den Teich gekippt hätten, wie sie’s vorgehabt hatten!“
„Wie?“ Der Kutscher hob erstaunt den Blick. „Hättest du ihm das wirklich gewünscht – daß er mit Steinen beschwert jämmerlich ersoffen wäre?“
„Na“, meinte Matt mit einem schiefen Grinsen. „Das nun auch wieder nicht. Aber sie hätten ihn ja wenigstens mal kurz einstippen und dann wieder hochziehen können. Vielleicht hätte ihm das Salzwasser ein wenig seine große Klappe gestopft.“
„Das glaubst du wirklich?“
„Man wird doch wohl noch an was glauben dürfen“, sagte Matt Davies. „Stell dir mal vor, du dürftest ihm ein paar Gallonen Wasser aus dem Wanst pumpen. Wäre das nicht …“
Weiter gelangte er nicht, denn hinter seinem Rücken brüllte Carberry von neuem los: „Mister Davies, du Höhlenmolch, glaubst du, ich sitze auf meinen Ohren? Du sollst nicht dumm ’rumquatschen, du sollst arbeiten, daß die Schwarte kracht!“
„Jetzt wird einem schon das Maul verboten“, brummte Matt Davies.
„Leg dich bloß nicht mit ihm an, Matt“, sagte der Kutscher, der die riesige, ungeschlachte Gestalt des Profos’ aus dem Dunkeln anrücken sah, warnend.
„Tue ich ja auch nicht.“
„Matt Davies!“ dröhnte Carberrys mächtige Stimme. „Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Rede ich zu leise?“
„Herrgott, nein“, stöhnte Matt.
„Was, wie?“
„Ich sagte: Aye, Sir!“ rief Matt, und dann kramte er rasch die Persenning und die Schalklatten her, mit denen der Kutscher und er das Kombüsenschott abzudichten hatten.
Carberry blieb stehen. Durch Beinarbeit glich er die schwankenden Schiffsbewegungen aus. Er stemmte die Fäuste in die Körperseiten, schaute den Männern eine Weile zu und sagte dann: „Gut. So gefällt’s mir schon besser, ihr Stinte.“ Er gab noch einen grunzenden Laut der Zufriedenheit von sich, danach wandte er sich ab und marschierte von dannen, um auch den Rest der Crew zu kontrollieren.
Bill, der Moses, hatte sich zu diesem Zeitpunkt vorsichtshalber schon mit einem Tau am Großmast festgebunden, um nicht von seinem luftigen Posten, dem Großmars, zu fallen. Er hielt prüfend Ausschau nach Südwesten, wo es wetterleuchtete und heftig blitzte und von wo aus jetzt unterschwellig grollender Gewitterdonner zu vernehmen war.
Wie alle anderen wartete auch Bill darauf, daß der Seegang und der Wind zunahmen und es bald wie aus Eimern zu schütten begann. Doch in diesem Punkt wurden sie angenehm enttäuscht. Noch brach der Sturm nicht mit seiner vollen Macht los, ja, er schien zu zögern, irgendwie auf einem Wartepol angelangt zu sein, um Luft zu holen und dann so heftig wie nie loszubrüllen.
Die erste Nachtwache, die bis Mitternacht dauerte, verlief voll innerer Anspannung und Ungewißheit über das, was noch folgen mochte. Energisch stemmte sich die „Isabella“ mit ihrem Vorschiff gegen die aufgerührte See, teilte die Wogen mit ihrem Bug und lief näher und näher auf die Straße von Mentawai zu.
Würde es wirklich noch Verdruß geben, wie Old O’Flynn wieder mal prophezeit hatte – oder hatte der Alte dieses Mal die nahe Zukunft doch zu schwarz gemalt und sich getäuscht?
2.
Die Zeit verstrich quälend langsam, und Morgan Young spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren des Körpers trat und Hoffnungslosigkeit von ihm Besitz ergriff.
„Mein Gott, Romero“, flüsterte er. „Jesus, beeil dich, schlag kräftiger zu. Und wenn ich auch ein paar Kratzer dabei abkriege – es macht mir nichts aus.“
„Sei still“, zischte der junge Spanier ihm zu. „Ich bin fast soweit. Santa Madre, sage jetzt nichts.“
„Morgan“, flüsterte in diesem Moment Trench, einer von Youngs englischen Kameraden. „Die Zeit bis zur nächsten Wachablösung ist gleich um.“
„Nein!“
„Dann erscheint der Posten und überprüft unsere Ketten, dann …“
„Halt den Mund!“ unterbrach Young ihn scharf. So laut, daß seine Stimme das Heulen und Tuscheln des Windes fast übertönte.
„Madre de Dios“, flüsterte Romero. „Müßt ihr euch denn ausgerechnet jetzt herumzanken? Seid ihr des Teufels?“
„Ja“, murmelte Young. „Wir sind alle des Teufels. Wir sind Narren, die das kriegen werden, was alle Narren verdient haben: einen Gnadenschuß ins Genick oder sonstwohin.“
Romero hatte den einen Beinschäkel um Morgan Youngs Fußknöchel mit dem Scharfeisen aufgestemmt, so weit, daß der Engländer seinen Fuß jetzt herausziehen konnte. Jetzt arbeitete er an dem Schäkel des anderen, linken Beines, setzte das Auftreibwerkzeug an und schlug immer wieder mit dem kleinen Hammer zu, knapp, gezielt, mit verbissener Miene und aufeinandergepreßten Zähnen. Seine Hände und Arme schmerzten inzwischen heftig, er konnte es kaum noch aushalten.
Dann, als Young kaum noch mit einem Erfolg seiner Anstrengungen rechnete, wisperte der Spanier: „Es geht, Morgan. Versuch es. Es kommt jetzt auf dich ganz allein an.“
Morgan Young zog sofort die Beine an und zerrte sie aus den Beinschäkeln, die von Romero gerade weit genug aufgetrieben worden waren, daß er seine nackten Füße herausnehmen konnte. Von den Fußketten und dem schweren Eisengewicht befreit, vermochte Young nunmehr seinen ganzen Körper zum Pfahl hin zurückzuschieben und das Hinterteil durch die Öffnung seiner Arme zu pressen. Es war eine beinah akrobatische Verrenkung, die starke Schmerzen hervorrief, aber Young unterdrückte einen gequälten Laut, bezwang sich selbst, indem er sich innerlich wild als einen Schwächling und Dreckskerl beschimpfte, und arbeitete mit dem wütenden Eifer eines Besessenen weiter. Dabei kippte er um, weil die Pfahlkette ihn hemmte und ihm im Weg war.
Es gelang ihm aber tatsächlich, die Arme bis unter seine Oberschenkel zu schieben. Jetzt zog er seine Waden an und drückte sie mit den Füßen zusammen so fest unter seine Schenkel, daß er die kurze Kette, die seine Hände zusammenhielt, ganz unter den angewinkelten Beinen hindurchbefördern konnte. Ein Ruck noch – er glaubte, seine eigenen Knochen im Leib knacken zu hören – und er hatte die Arme mitsamt seinen Händen vorn.
Romero lag immer noch auf der Körperflanke, hatte ihn aber über die Schulter hinweg beobachtet. Er schob ihm jetzt den Schlegel und das Scharfeisen zu.
Morgan Young setzte sich auf und angelte sich die beiden Hilfsmittel mit den Füßen. Er zog sie so dicht zu sich heran, daß er sie greifen konnte, dann trieb er in aller Eile ein Glied der Kette auf, die ihn an den Pfahl gefesselt hielt.
Es war, wie er es sich ausgemalt hatte: Mit den Händen vor dem Körper konnte er problemlos arbeiten, obwohl die Handschellen und die kurze Kette ihn noch ein wenig behinderten.
Die Kette am Pfahl sprang unter seinen energischen Hieben auf, er war frei.
„Morgan“, raunte Romero. „Laß jetzt die Handschellen. Du kannst sie später öffnen. Hilf mir.“
„Ja“, sagte der Engländer leise. Auf etwas unsicheren Beinen hastete er zu dem Kameraden hinüber, kniete sich neben ihn hin und erlöste ihn zuerst von dem Kugelgewicht und der Kette an den Beinen. Dann öffnete er auch die Pfahlkette. Dies alles ging viel schneller vonstatten als das, was der junge Spanier zuvor vollbracht hatte, denn Young befand sich ja in einer viel günstigeren Arbeitsposition.
„Ich habe einen Glockenschlag gehört!“ zischte plötzlich einer der Männer. Es war Sullivan, auch einer von Youngs Freunden von der „Balcutha.“
„Das ist die Wachablösung!“ flüsterte Jonny. „Morgan!“
„Ja, ich höre dich, Jonny.“
„Scheiß auf dein Ehrenwort – du kannst mich hinterher befreien!“
„Hinterher?“ stammelte Young verdattert.
„Ihr müßt erst diesen elenden Hundesohn von einem Don überwältigen!“ zischte Jonny ihm im Dunkeln zu. „Beeilt euch! Zum Tor! Er tritt gleich ein, und dann fallt ihr über ihn her!“
„Wir könnten uns auch hinhocken und so tun, als wären wir noch gefesselt“, flüsterte Romero. „Wenn er zu uns tritt, springen wir auf und …“
„Er schießt, bevor ihr auf den Beinen seid!“ schnitt Jonny ihm das Wort ab. „Glaub es mir, ihr müßt ihn am Tor packen! Schlagt ihn mit euren Handketten nieder! Das könnt ihr schaffen!“
Morgan Young hatte seine Fassung wiedererlangt. Er richtete sich auf und lief geduckt los. Romero folgte ihm. Sie gelangten beim Tor an und hatten kaum zu beiden Seiten des einzigen großen, grob zusammengezimmerten Flügels Aufstellung genommen, da wurde von außen der Riegel zurückgeschoben.
Sie hielten den Atem an.
Das Tor schwang spaltbreit auf, eine Gestalt trat ins Innere der Palisade. Nur schemenhaft war sie in der Finsternis zu erkennen, aber doch gerade gut genug, um ein Angriffsziel zu bieten.
Der Soldat zog das Tor hinter sich zu – dann stutzte er. Er hatte Morgan Young entdeckt, der sich von rechts her auf ihn zubewegte. Romero handelte jedoch geistesgegenwärtig. Er sprang den Spanier von hinten an und schlang ihm blitzschnell die Kette um den Hals, die auch seine Hände immer noch zusammengebunden hielt.
Der Spanier taumelte, drohte in den Knien einzuknicken und zusammenzubrechen und gab einen röchelnden Laut des Entsetzens von sich. Er hielt aber seine Muskete noch fest in beiden Händen und trachtete in diesem Augenblick, den Abzug zu betätigen.
Morgan Young griff ebenfalls an und stellte fest, daß der Hahn der Muskete bereits gespannt war. Sofort packte er zu und versuchte, dem Gegner die Waffe zu entreißen, während Romero die Kette fest um die Gurgel des Mannes zusammenzog.
Der Wachtposten konnte nicht mehr schreien, nur ein ersticktes Gurgeln drang noch über seine Lippen. Doch trotz Youngs verzweifelter Bemühungen, ihm die Muskete zu entwinden, konnte er seinen Zeigefinger doch noch um den Abzug krümmen.
Dröhnend löste sich der Schuß, überlaut in der dramatischen Szene des Ringes um Leben und Tod. Pulverqualm hüllte die Gestalten der drei Männer ein. Romero begann zu husten.
Young riß die Muskete noch an sich, jetzt, da es zu spät war. Der Soldat sank zu Boden. Romero ließ von der schlaffen, jetzt reglosen Gestalt ab, bückte sich und brachte die Pistole in seinen Besitz, die der Soldat im Gurt trug.
Young warf die Muskete fort, bemächtigte sich des Säbels und des Messers des Spaniers und wollte zu den Kameraden zurückeilen, die darauf warteten, befreit zu werden. Doch vor den Palisaden ertönten das Rufen von Stimmen und das Herantrappeln eiliger Schritte.
„Wir können die anderen nicht mitnehmen!“ stieß Romero in höchster Erregung aus. „Wir können sie nicht befreien, wir …“
„Morgan! Romero!“ rief Jonny ihnen zu. „Haut ab! Haltet euch nicht auf und rettet wenigstens eure Haut! Von draußen könnt ihr später immer noch was für uns tun! Los, verschwindet!“
Young und der junge Spanier zögerten nicht länger, sie drückten das Tor wieder auf und liefen ins Freie.
Dicht vor ihnen war das Geschrei der spanischen Posten, aus der Finsternis wurden Gestalten sichtbar. Young riß den Säbel hoch, um sie abzuwehren, aber Romero hatte bereits die Pistole in Anschlag auf die anstürmenden Männer gebracht und drückte auf den vordersten von ihnen ab.
Der Soldat brach mit einem Wehlaut zusammen. Die anderen stutzten, legten selbst mit ihren Musketen und Pistolen an und zielten auf die beiden Sträflinge, deren Körperkonturen sie vor der Palisade erkennen konnten.
Morgan Young rannte nach links davon, Romero folgte ihm.
Drei Musketenschüsse krachten, und Young war es so, als schlüge eine Kugel dicht hinter seinen Hacken in den Erdboden. Doch er wurde nicht verletzt, und auch Romero blieb unversehrt. Zu hastig gezielt waren die Schüsse der Soldaten, die alle fehlgingen, zu schlecht waren die Sichtverhältnisse.
Es krachte noch zwei- und dreimal, und die Kugeln bohrten sich mit plokkenden Lauten in die Pfähle der Palisadenwand, an der die beiden Flüchtlinge wie von tausend Teufeln gehetzt vorbeirannten.
„Zum Hafen!“ rief Romero seinem Begleiter auf englisch zu.
„Unmöglich!“ schrie Morgan Young über seine rechte Schulter zurück. „Sie sperren uns den Weg dorthin ab. Sie knallen uns ab, ehe wir eins der Boote erreichen!“
Er lief weiter, so schnell er konnte, quer über die Lichtung hinweg, die die Kettensträflinge hier in Airdikit dem Dschungel abgerungen hatten. Er hastete zwischen den Hütten hindurch, die das Gros der Offiziere und Soldaten beherbergten, blieb nicht stehen, warf nur noch einmal einen Blick zurück und registrierte, daß der junge Spanier ihm weiterhin folgte.
Tatsächlich wäre es heller Wahnsinn gewesen, den Durchbruch bis zum Hafen zu versuchen. Das erste, was die Spanier auf den alarmierenden Musketenschuß hin getan hatten, war, den Zugang zum Hafen abzuriegeln, denn sie konnten sich ja ausmalen, daß im Fall eines Ausbruchs die Sträflinge eine der Pinassen oder Schaluppen zu kapern versuchten, die an den hölzernen Anlegern vertäut lagen.
So blieb Young und Romero nur noch eine Möglichkeit, nämlich in den Busch zu fliehen.
Young fürchtete bei allem Schneid, den er zu beweisen vermochte, den Dschungel. Das hatte er auch seinen Freunden von der „Balcutha“, Romero, Jonny und den anderen Verschwörern gegenüber offen zugegeben. Denn Morgan Young wußte, welche Gefahren im Urwald von Sumatra lauerten, und jeder andere Mann, der ehrlich seine Meinung aussprach, mußte bestätigen, daß es nahezu Selbstmord bedeutete, hier in der Nacht unterzutauchen.
Hier, im Feuchtigkeit ausströmenden Dickicht, lauerten der Tiger und andere Raubkatzen, hier konnte ein Schlangenbiß dem menschlichen Leben ein jähes, schmerzhaftes Ende bereiten. Hier gab es Krokodile und andere grauenvolle Kreaturen. Und die Mangrovensümpfe zwischen der Strafkolonie und dem Meer, die sich bis in unendliche Weiten auszudehnen schienen, waren die Brutstätte für eine Anzahl abscheulicher Krankheiten, gegen die der Mensch machtlos war, wenn er einmal von ihnen befallen wurde.
Aber Young und Romero hatten keine andere Wahl. Wenn sie den Soldaten entkommen wollten, die jetzt ihre Verfolgung aufgenommen hatten, konnte dies nur im Dschungel geschehen.
Ohne zu zögern, sprang Young deshalb in das Dickicht jenseits der Hütten, durchtrennte mit raschen Säbelhieben ein paar Lianen und widerspenstiges Dornengerank und drang tief in das Gestrüpp vor. Romero schloß sich ihm ohne Widerworte an. Auch er hatte begriffen, daß im Urwald die einzige Chance lag, sich den Feinden zu entziehen.
Wenn das halbwegs mißglückte Unternehmen doch noch gelingen sollte, dann konnte es nur auf diese Weise geschehen.
Young drehte sich kurz zu seinem Begleiter um und gab ihm das Messer des Soldaten. Er selbst fuhr fort, sich mit dem Säbel einen Weg durch das dichte, verfilzte Gesträuch zu bahnen, und Romero unterstützte ihn dabei, so gut es mit dem Messer ging. Sie sprachen nicht miteinander, sondern hackten und schnitten mit ihren Beutewaffen nur schwitzend auf Zweige, Blätter und Luftwurzeln ein.
Über ihnen rumorte der stürmische Wind in den Wipfeln der gigantischen Bäume, hinter ihnen war das wütende Geschrei der Verfolger. Natürlich hatten die spanischen Soldaten gesehen, wie die beiden im Dikkicht verschwunden waren. Sie waren ihnen nah genug auf den Fersen, verließen ebenfalls die Lichtung und benutzten den Pfad, den Morgan Young mit dem Säbel geschaffen hatte.
Es war mehr eine Bresche als ein Pfad, aber sie erlaubte doch ein erheblich schnelleres Vorankommen. Daß er den Gegnern ungewollt geholfen hatte, ging Morgan Young erst auf, als er ihre Stimmen ganz dicht hinter seinem Rücken vernahm.
Er verstand inzwischen genug Spanisch, um zu begreifen, was sie riefen.
„Bleibt stehen, oder wir schießen euch nieder!“
„Ergebt euch!“
„Ihr seid verloren!“
Young achtete nicht darauf. Nichts konnte ihn dazu veranlassen, sich den Feinden freiwillig zu stellen. Nur der Tod konnte seiner Flucht ein Ende bereiten. Wenn der eisige Hauch des Todes ihnen beiden schon im Nacken saß, so zog er das schnelle Sterben doch einer Rückkehr ins Gefangenenlager vor. Dort würde man ohnehin Gericht über sie halten, dort wartete am Ende der Henker auf sie, denn sie waren ja nicht nur aus dem Palisadenlager ausgebrochen, sondern hatten auch einen Soldaten getötet. Daß Romero ihn mit der Kette erwürgt hatte, stand für Young außer Zweifel.
Wieder krachten Schüsse. Sirrten die Kugeln links und rechts an Young und dem jungen Spanier vorbei – oder täuschten sie sich? War es vielmehr der Wind, der ihnen mit seinem Pfeifen und Heulen etwas vorgaukelte?
Young hörte auf, mit dem Säbel wie mit einer Machete auf das Dikkicht einzuhauen. Er ließ die Waffe sinken, duckte sich tiefer und schlüpfte in ein dorniges, hartes Gebüsch, das auf morastigem Boden wuchs.
Romero war immer noch dicht hinter ihm.
Das Gebüsch ritzte mit seinen Dornen Youngs Haut, und er drohte, darin steckenzubleiben. Verbissen arbeitete er sich jedoch weiter voran und ließ sich sogar auf alle viere nieder, um besser voranzukommen. Er schob den Säbel vor sich her und robbte durch den schwarzen Schlamm, der ihn von oben bis unten beschmutzte.
Plötzlich krachte wieder ein Schuß, und er hörte Romero hinter sich aufschreien.
Er stieß einen Fluch aus und wandte den Kopf. Hinter sich konnte er den jungen Mann gerade noch zusammenbrechen sehen, dann schien Romeros Gestalt eins zu werden mit dem Dickicht und dem Morast.
Romero bewegte sich nicht mehr.
Morgan Young wollte zu ihm zurückkriechen, aber wieder blitzte es in der Dunkelheit auf, und eine Kugel schwirrte heran. Der Engländer ließ sich in den Schlamm fallen. Das Geschoß flog über seinen Rücken weg.