Seewölfe Paket 11

- -
- 100%
- +
Im Mündungsfeuer der Muskete hatte er Romero genau erkennen können. Der Zufall hatte gewollt, daß er auch gleich das Loch gesehen hatte, das in dem Schädel des Jungen klaffte.
Romero war tot.
Und jetzt nahten die Verfolger – ein Trupp, der gut vierzehn, fünfzehn Mann zählen mochte. Sie drangen in das Dornengestrüpp ein, um auch Youngs Flucht ein Ende zu setzen.
Wieder blaffte ein Schuß.
3.
Auf der „Isabella“ waren sämtliche Luken und Niedergänge verschalkt und auch die Manntaue ordnungsgemäß gespannt. Ed Carberry schloß seinen Kontrollgang über die heftig schwankenden Decks mit einem Brummeln ab, das wohl so etwas wie Anerkennung ausdrücken sollte. Immerhin hatten die Männer schnell und gut gearbeitet, das mußte man ihnen lassen. Jeder Handgriff hatte da gesessen, und so sehr der Profos auch herumwetterte, er mußte doch wieder einmal gestehen, daß es eine hervorragende, prächtig aufeinander eingespielte Crew war, die die „Isabella“ voranbrachte und manövrierte.
Schweren Schrittes erklomm Carberry jetzt das Achterdeck und erstattete seinem Kapitän Meldung, wie die Borddisziplin es verlangte.
„Gut, Ed“, sagte der Seewolf. „Wir sind also für den Ernstfall gerüstet. Im Augenblick sieht es zwar noch nicht so aus, als würden wir den Sturm voll zu spüren kriegen, aber du weißt ja, wie das in den Tropen ist. Das Wetter kann unversehens, von einem Moment auf den anderen, über uns hereinbrechen.“
„Ja, Sir.“ Carberry dachte an den Taifun, den sie vor Jahren südlich von Formosa erlebt hatten, und konnte sich eines leichten Schauders auf seinem Rücken nicht erwehren. Ärgerlich schüttelte er das „dämliche Kribbeln“ aber wieder ab und fragte: „Kann ich die Freiwache jetzt zum verspäteten Backen und Banken im Logis anrücken lassen?“
„Ja.“
„Danke, Sir.“
„Du solltest selbst auch einen Happen zu dir nehmen, Ed“, sagte Hasard. „Ben wird dich solange ablösen. Du kannst dir ruhig Zeit lassen, denn ich möchte, daß du nachher bei der Mittelwache voll bei Kräften bist.“
„Da kannst du ganz beruhigt sein, Sir“, versicherte ihm der Profos, der es selbst beantragt hatte, die Mittelwache mit übernehmen zu können, die im Anschluß an die erste Nachtwache von Mitternacht bis vier Uhr morgens dauerte. Eine doppelte Wache abzureißen, das war für Carberry auch dann keine Strafe, wenn sie den Sturm wirklich noch abwettern mußten – im Gegenteil. Lieber war er gleich von Anfang an dabei, als daß er sich mitten im schönsten Schlaf aus der Koje scheuchen ließ. Verantwortungsgefühl und Disziplingeist gingen ihm eben über alles, wie sich das für ein Profos gehörte, auch wenn die Arbeiten an Deck und die Segelmanöver ohne sein Gebrüll ebenso sauber und ordentlich ausgeführt wurden.
Hasard las in den Zügen seines Profos’ und lächelte.
„Ed“, sagte er. „Der Kutscher soll eine Extraration Rum austeilen und sie von mir aus mit heißem Wasser verdünnen – damit euch das Essen leichter ’runterrutscht.“
Carberry grinste, daß einen das kalte Grausen packen konnte, zeigte klar und rief: „Aye, Sir, schönen Dank, ich werde das sofort weitermelden!“
Damit stieg er wieder auf die Kuhl zurück und hangelte in den Manntauen zum Vordeck. Ständig um sein Gleichgewicht bemüht, erreichte er das Schott, riß es auf und verschwand im Niedergang. Er rammte das Schott hinter sich zu und paßte auf, daß die Verschalkung sich nicht löste.
Dann suchte er das Logis auf und blieb im Eingang stehen.
Es war stockfinster in dem Mannschaftsraum. So sehr Carberry auch die Augen zusammenkniff und Ausschau hielt – er konnte niemanden erkennen.
„Nun?“ fragte er deshalb barsch. „Seid ihr alle da, ihr Helden?“
„Aye, Sir“, antwortete ihm Smoky, der Deckälteste. „Batuti, Gary Andrews, Bob Grey, Sam Roskill, Stenmark, Luke Morgan, die Zwillinge und der Kutscher – die Freiwache ist vollzählig versammelt.“
„Sollen wir wieder ’raus und mit anpacken, Mister Carberry?“ fragte Philip junior, einer von Hasards beiden Söhnen.
„Luke halten“, sagte der Profos. „Dich hat keiner gefragt, und du hast nur zu reden, wenn du was gefragt wirst, du Hering.“
„Jawohl, Sir.“
„Kutscher!“ rief Carberry. „Was drückst du dich in deiner Koje herum? Sollen diese Himmelhunde Kohldampf schieben, während die Deckswache pünktlich ihren Fraß gekriegt hat?“
„Melde, daß ich nicht in meiner Koje liege, sondern auf entsprechende Anweisungen warte, Sir“, entgegnete der Kutscher – und die anderen konnten sich ihr Lachen kaum verkneifen.
„Dann schieb ab in die Kombüse und roll mit deinen Essenskübeln an, Mensch!“
„Zu Befehl, aber es wird kalt serviert, weil ich bei diesem Seegang die Feuer unter den Kesseln nicht anheizen kann.“
„Versteht sich“, sagte Carberry und schob dabei grimmig sein Rammkinn vor. Er hielt sich am Türrahmen fest, um nicht aus der Balance zu geraten. „Aber ich habe eine zusätzliche Order von Hasard erhalten, und die lautet: Besanschot an, damit wir deinen saukalten Brei auch ’runterwürgen können!“
„Besanschot an“, wiederholte der Kutscher. „Eine Extraration Rum für die Freiwache?“
„Mit heißem Wasser verdünnt!“ rief der Profos.
„Aye, Sir!“
„Und daß mir auch die Deckswache ihre Ration Schnaps kriegt!“
„Aye, Sir, sofort!“
„Das ist keine Belohnung, bildet euch bloß nichts darauf ein, ihr Satansbraten!“ brüllte der Narbenmann. „Mit irgendwas muß man deinen Labskaus ja wegspülen, Kutscher, sonst kleistert er uns die Kehlen zu!“
„Jawohl – bin schon unterwegs“, sagte der Kutscher, und damit löste er sich von seinem Halt, stolperte quer durchs Logis und stieß prompt mit dem Profos zusammen.
Carberry fluchte, daß es durch die Vordecksgänge bis in die Frachträume hinunterschallte, torkelte rückwärts, ruderte mit den Armen und prallte mit dem Rücken gegen die Gangwand, die dem Eingang des Logis’ gegenüberlag. Hier verlor er endgültig das Gleichgewicht und rutschte zu Boden. Mit einem dumpfen Laut setzte er sich auf die Planken.
Der Kutscher stieg über seine Beine und entzog sich Carberrys zornigen Hieben und Tritten, ehe es zu spät war.
„Kutscher, du verlauster Heringsbändiger!“ brüllte der Profos ihm nach. „Warte, wenn ich dich zu fassen kriege! Ich zieh dir die Haut in Streifen ab!“
Er wollte noch einen ganzen Schwall seiner schönsten Verwünschungen anhängen, unterbrach sich aber, weil ihm jetzt etwas mitten ins Gesicht flatterte. Das raschelte und schnatterte, wirbelte und kratzte, und er mußte sich mit den Händen schützen, bis es sich schließlich friedlich auf seiner Schulter niederließ.
Etwas zwackte den Profos liebevoll ins rechte Ohrläppchen, und eine heisere Stimme sagte: „Backbrassen, wir laufen auf Grund. Backbrassen, backbrassen, ihr Stinkstiefel.“ Das war Sir John, der karmesinrote Aracanga, wie er leibte und lebte.
Carberry wollte sich den Papagei von der Schulter nehmen, aber der Vogel entzog sich seinem Zugriff und flog ins Logis zurück, wo er vorher bei Philip junior und Hasard junior, den Zwillingen, gesessen hatte.
„Sir John“, sagte Carberry nur mühsam beherrscht. „Eines Tages rupfe ich dich, du Nebelkrähe, und dann landest du beim Kutscher im Kochtopf, zusammen mit diesem krummbeinigen Kombüsenhengst, dem ich anständig den Hintern versengen werde.“
Er erhob sich, stapfte ins Logis zurück und ließ eine Warnung an die Männer und die beiden Jungen los, die sich den Mund zuhalten mußten, um nicht laut loszuprusten.
„Wer jetzt lacht, der wandert ab in die Vorpiek“, sagte er.
Diese Drohung war durchaus ernstzunehmen, und daher zwangen sich die Männer zu eisernem Schweigen. Philip und Hasard grinsten zwar, aber das konnte der Profos in der Finsternis nicht sehen.
Nur das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden, das Heulen des Windes und das Knarren der Planken und Verbände war zu vernehmen. Der Profos ließ sich an einem der schmalen Tische nieder. Für ihn war der Fall vorläufig erledigt.
Aber wenn der Hund von einem Kutscher mir noch mal gegen den Vorsteven rauscht, dann kriegt er seinen ganzen Kübel mit dem kalten Labskaus über den Kopf gestülpt, dachte der Narbenmann ergrimmt.
Morgan Young hatte gedankenschnell gehandelt. Als der Musketenschuß gefallen war und es erneut im Dickicht aufgeblitzt hatte, hatte er sich zur rechten Seite gerollt. Der Morast schmatzte unter seiner raschen Bewegung, und ein paar Spritzer von dem schwarzen Schlamm kriegte der Engländer direkt ins Gesicht. Er geriet erneut mit dem Dornengerank in Konflikt und zog sich weitere Schrammen an Armen und Beinen und auf dem Oberkörper zu, aber er rettete sich das Leben, denn die Kugel ging haarscharf links an ihm vorbei.
In seinem ersten Entsetzen über Romeros Tod und in seinem grenzenlosen Haß gegen die Soldaten hatte er aufspringen und mit dem Säbel in der Faust auf sie zustürzen wollen, um so viele wie möglich niederzusensen und dann selbst zu sterben.
Sie hatten Romero in den Kopf geschossen, ehe dieser es geschafft hatte, richtig in dem dornigen Gestrüpp unterzukriechen. Sie hatten Justiz an ihm geübt, aber es war die Justiz des Wahnwitzes, denn der junge Mann war in Youngs Augen ein gutherziger, aufrechter Bursche gewesen.
Daß er den spanischen Wachtposten mit der Kette erwürgt hatte, stand für den Engländer auf einem anderen Blatt.
Aber so glühend der Haß und der Wunsch nach Rache auch waren, in Morgan überwog in diesem Augenblick doch der Selbsterhaltungstrieb. Er warf sich herum, kroch in der Richtung weiter, die er vorher schon eingeschlagen hatte, und entfernte sich von seinen Gegnern.
Sie schossen wieder auf ihn, aber da sie seine Gestalt nicht einmal mehr als schattenhaftes Etwas erkennen konnten, feuerten sie aufs Geratewohl in den Dschungel. Young hörte die Kugeln hinter sich in den Morast schlagen und links und rechts neben sich durch das Dickicht sirren, um mehrere Fuß Distanz von ihm entfernt. Dennoch hatte er mächtiges Glück, daß er nicht von einem Zufallstreffer erwischt wurde.
Er kämpfte sich durch den Morast und durch brackige Tümpel, schob den Säbel mehr wie einen Fremdkörper oder einen nutzlosen Ballast vor sich her und setzte ihn nicht mehr als Buschmesser ein, weil er Angst davor hatte, von seinen Verfolgern gehört zu werden, und er ihnen den Weg durch die grüne Hölle nicht ebnen wollte.
Er war über und über beschmutzt und durchnäßt und begann, sich vor sich selbst zu ekeln. Er dachte an die Tiere des Urwaldes, die ihn vielleicht schon jetzt aus ihren Schlupfwinkeln heraus beobachteten, um ihn zu verfolgen und später über ihn herzufallen, und allein die Vorstellung bereitete ihm Furcht.
Aber er hörte, wie sich die Stimmen der Spanier hinter ihm im Gesträuch verloren. Es wurde jetzt nicht mehr geschossen. Sie hatten ihn endgültig aus den Augen verloren, waren ratlos und schienen stehengeblieben zu sein.
Seine Taktik, sich nur noch kriechend durch das Dickicht voranzubewegen, hatte sich als richtig erwiesen. Er hatte ihnen ein Schnippchen geschlagen und war schlauer gewesen als sie! Diese Erkenntnis verlieh ihm einen gewissen inneren Auftrieb.
Er grinste gequält. Es ging also doch. Man konnte ihnen entwischen, wenn man nur wollte. Sie kannten sich im Dschungel, den sie gewöhnlich mieden, nicht besser aus als er. Es gab keine Pfade, der Busch war ein einziger Irrgarten, in dem man sich tage-, wochen-, monatelang vor ihnen verstecken konnte. Man mochte ihn als die Hölle schlechthin, andererseits aber auch als Verbündeten ansehen, wenn man sich auf der Flucht befand. Young fing an, sich an dieser Vorstellung festzuklammern und sich mehr und mehr selbst davon zu überzeugen, daß erst der Urwald die Entscheidung herbeigeführt hatte: die Rettung vor dem schwerbewaffneten Feind.
Um Romero tat es ihm leid, aber er sagte sich auch, daß er um den jungen Mann nicht trauern durfte. Sein Tod hatte schließlich einen Sinn gehabt. Er, Morgan Young, würde sich durchschlagen und irgendwann Helfer finden, mit denen zusammen er auch Trench, Josh Bonart, Sullivan, Christians und all die anderen aus der Strafkolonie herausholen konnte.
Die Soldaten würden Romeros Leichnam jetzt aufheben und ins Lager zurückschleppen, wo sie ihn hinwarfen und voll Genugtuung ihrem Kommandanten zeigten. Aber für Don Felix Maria Samaniego und die Lageroffiziere mußte es ein harter Schlag sein, daß zwei Sträflinge die Flucht gewagt hatten – und daß einer von ihnen, ausgerechnet einer der „verdammten englischen Bastarde“, nun spurlos verschwunden war. Das störte sein Image und kratzte an seinem Selbstbewußtsein. Airdikit war kein ausbruchssicheres Lager mehr. Die Dinge waren ins Wanken geraten. Die Spanier würden die Wachen verschärfen, aber vielleicht gab es bald neue Fluchtversuche.
Young schob sich schwer atmend weiter voran. Die Ketten an seinen Armen behinderten ihn, und auch der Säbel wurde ihm zur Last, aber er schwor sich, die Waffe nicht zurückzulassen. Aus zwei Gründen nicht: erstens konnten die Spanier sie im Busch finden, und dann hatten sie wieder eine Spur, die sie weiterverfolgen konnten. Zweitens brauchte er den Säbel, um sich notfalls gegen Raubtiere und giftige Schlangen zur Wehr zu setzen.
Er bedauerte, den Schlegel und das Scharfeisen in der Palisade zurückgelassen zu haben. Damit hätte er jetzt seine Handschellen öffnen können. Aber er hatte eben den Fehler begangen, das Werkzeug einfach fallenzulassen, als sich der Wachtposten dem Tor des Palisadenlagers genähert hatte.
Er hoffte, daß einer seiner Mitgefangenen es fertiggebracht hatte, die Geräte in seinen Besitz zu bringen. Aber er glaubte nicht recht daran. Wenn einer von ihnen es geschafft hatte, würden die Soldaten sie doch alle durchsuchen und auf die Hilfsmittel stoßen, die die Flucht ermöglicht hatten.
Morgan Young konnte sich vom Boden erheben und in aufrechter Haltung seinen Weg fortsetzen. Er teilte das Dickicht, das jetzt mehr aus Mangroven und anderen Gewächsen mit schweren ledrigen Blättern als aus Dornensträuchern bestand, mit seinen zerkratzten Händen und wankte keuchend voran.
Er hatte die Orientierung verloren, stellte aber fest, aus welcher Richtung der Wind wehte und taumelte ihm bald, nachdem er einen großen Bogen geschlagen hatte, entgegen.
Der Wind war auflandig, soviel wußte er ja, er mußte also aus südlicher Richtung wehen. Auf dem Weg, den Young sich jetzt mühsam durch den Busch bahnte, mußte er also unweigerlich zur Küste gelangen.
Dort wollte er versuchen, ein einfaches Foß zu bauen, mit dem er zu einer der Inseln übersetzen konnte. Von der Existenz der Inseln wußte er, weil man sie ihm auf der „Balcutha“, auf der er als Decksmann gefahren war, beschrieben hatte.
Erst auf einem dieser einsamen Eilande würde er vollends vor den Spaniern sicher sein, soviel vermochte er sich auszumalen. Er gab sich keinen Illusionen hin. Sie würden weiterhin nach ihm forschen, wahrscheinlich die ganze Nacht über.
Blieb er auf Sumatra, wurde eine gnadenlose Jagd daraus.
4.
Heftig zuckten die Flammen der Fackeln, die von den Spaniern entzündet worden waren, auf dem großen freien Platz inmitten der Hütten des Lagers. Ihr Licht warf gespenstische Muster auf die Gesichter der Männer und gab das Mienenspiel von Don Felix Maria Samaniego, der zwischen seine Offiziere und Soldaten getreten war, besonders deutlich wieder.
Es arbeitete in Don Felix’ scharfgeschnittenen, asketischen Zügen. Selten hatte der hagere Mann, der in größter Hast seine Hütte verlassen hatte und nur mit einer dunklen Hose und einem weißen Hemd bekleidet war, derart zum Ausdruck gebracht, was in seinem Innern vorging.
Er fühlte sich zwischen Wut und Ohnmacht hin und her gerissen. Einen Augenblick lang war er versucht, seine Untergebenen wild anzufahren und zu maßregeln, dann aber erlangte er seine Fassung wieder und bezwang sich.
Es hatte keinen Sinn, jetzt zornig herumzubrüllen und sich in einen Tobsuchtsanfall hineinzusteigern. Nur durch kühle Überlegung konnte er sich einen Überblick über die Situation verschaffen und die richtige Entscheidung treffen.
So hielt er auch einen seiner Offiziere zurück, der jetzt vortrat und mit dem Stiefel nach dem toten Sträfling ausholte.
Die Soldaten, die die Flüchtlinge bis in den Busch hinein verfolgt hatten, waren soeben mit dem Leichnam Romeros zurückgekehrt und hatten ihn auf die Mitte der Lichtung geworfen.
Don Felix hatte sich den Bericht der Unteroffiziere schweigend angehört. Längst hatte er angeordnet, daß das Tor des Palisadenlagers wieder verriegelt und doppelt abgesichert wurde, daß ein Trupp von Wachtposten im Inneren der Umzäunung Fackeln anzündete und die Sträflinge einen nach dem anderen durchsuchte.
Irgendwelche Gerätschaften mußten den Gefangenen dazu gedient haben, sich von ihren Ketten zu befreien – und diese Werkzeuge mußten gefunden werden, um jeden Preis.
„Lassen Sie das“, sagte Don Felix jetzt zu seinem Offizier. „Es ist unter unserer Würde, unsere Wut über den Vorfall an einem Toten auszulassen.“
Der Mann fuhr zu ihm herum. „Aber Senor Comandante! Dieser Hund hat einen unserer Soldaten auf brutalste Weise erwürgt!“
„Schweigen Sie!“ sagte der Kommandant scharf. „Er hat mit seinem Leben dafür bezahlt, das genügt mir. Und erwürgen ist immer brutal, das sollte Ihnen Ihr logischer Verstand sagen.“
„Si, Senor.“
Don Felix wies auf den Toten. „Wie war sein Name?“
„Romero, Senor“, antwortete ein Unteroffizier wie aus der Pistole geschossen. „Der Nachname war nicht bekannt. Ein räudiger Bastardhund, Senor. Eine Schande, daß er sich überhaupt als echter Spanier bezeichnen durfte.“
„Ersparen Sie sich Ihren Kommentar“, sagte Don Felix. „Wenn die Posten nicht unaufmerksam gewesen wären, hätten sie bemerkt, daß er etwas vorbereitete und die Möglichkeit hatte, sich seiner Ketten zu entledigen. Sie werden meine Kritik noch zu hören bekommen, Senores, und Sie werden eine Reihe von Vorwürfen über sich ergehen lassen müssen.“
„Si, Senor“, murmelten die Männer.
„Romero“, wiederholte Don Felix. „Der aufsässige Bursche mit den Taschenspielertricks. Ich hatte befohlen, ihn besonders scharf zu bewachen. Und was ist geschehen? Er hat sich selbst und einen seiner Kumpane befreit und ist geflohen.“ Mit strenger, zurechtweisender Miene sah er sich im Kreis seiner Männer um. „Dabei war keine Magie im Spiel, Senores. Er konnte das nur schaffen, weil wir geschlafen haben. Aber zurück zu dem anderen Entflohenen – wie war doch sein Name?“
„Morgan Young.“
„Richtig, Young. Ein ausgefuchster Kerl, der offenbar auch unterschätzt wurde.“
„Im Dschungel wird er nicht weit gelangen“, meinte ein jüngerer Offizier.
Don Felix wischte die Bemerkung mit einer herrischen Gebärde fort. „Darauf können wir uns nicht verlassen. Er ist uns entwischt, aber wir stellen jetzt sofort zwei starke Trupps zusammen, die die Suche im Urwald wieder aufnehmen. Ja, Sie haben richtig gehört, Senores. Wir fahnden die ganze Nacht über nach ihm, wenn es sein muß.“
„Senor Comandante“, wagte der Offizier einzuwenden, der vorher nach dem toten Romero hatte treten wollen. „Das dürfte auch für uns lebensgefährlich sein. Sie wissen selbst am besten, welche unangenehmen Überraschungen im Busch auf uns lauern.“
„Zwei zwanzigköpfige Trupps!“ rief Don Felix. „Sie übernehmen es, die Männer auszuwählen. Sie werden bis an die Zähne bewaffnet und mit großen Fackeln ausgerüstet. Die Raubtiere scheuen das Feuer!“
„Zu Befehl, Senor Comandante!“
„Ein dritter Trupp läuft mit zwei Pinassen und einer Schaluppe aus, um dem Engländer den Fluchtweg über die See abzuschneiden!“ fuhr Don Felix mit erhobener Stimme fort. „Acht Mann pro Boot! Wer den Kerl sieht, schießt sofort auf ihn. Ich bin nicht daran interessiert, ihn lebend ins Lager zurückzuholen! Wer ihn erwischt, erhält von mir eine Belohnung!“
„Bei diesem Seegang werden die Boote kentern“, gab der jüngere Offizier zu bedenken. „Ein Sturm droht auszubrechen, Senor!“
Jetzt ballte Don Felix zornig seine Hände zu Fäusten und begann doch zu schreien. „Mit wem habe ich es hier eigentlich zu tun? Mit Feiglingen? Jedes weitere Widerwort wird mit einer Disziplinarstrafe geahndet, merken Sie sich das! Und jetzt befolgen Sie augenblicklich meine Befehle, sonst lernen Sie mich von einer Seite kennen, die Ihnen bislang fremd war!“
Er wollte noch etwas hinzufügen, wurde jedoch durch das Auftauchen eines Soldaten unterbrochen, der von den Palisaden herüberlief und einen Schlegel und ein Scharfeisen vorwies.
„Das haben wir eben bei einem der Sträflinge gefunden, Senor Comandante!“ meldete der aufgeregt.
„Bei wem?“ wollte Don Felix wissen.
„Bei einem Kerl, der Jonny heißt. Er hat sich heftig gegen die Durchsuchung gewehrt. Wir mußten ihn niederschlagen, um die Werkzeuge überhaupt an uns zu bringen.“
„Maldichos ingléses“, sagte der Lagerkommandant, nahm die Gerätschaften aus der Hand des Soldaten entgegen und betrachtete sie nachdenklich. „Diese verdammten Engländer, sie scheinen den Teufel im Leib zu haben. Dieser Jonny wäre also der nächste gewesen, der den Ausbruch aus dem Lager versucht hätte.“
„Anscheinend ja“, meinte ein Teniente, ein Leutnant.
Samaniego fixierte ihn mit einem stechenden Blick. „Anscheinend? Das hier ist ja wohl mehr als anscheinend.“ Er hielt dem Mann den Schlegel und das Scharfeisen hin. „Und das zieht noch etwas nach sich, darauf können Sie alle sich verlassen – nämlich eine genaue Untersuchung der Hintergründe für diese Ungeheuerlichkeit!“
Er gab den Offizieren, von denen einige ziemlich betreten zu Boden sahen, einen Wink, und sie begannen, ihre präzisen Befehle zum Sammeln und Ausrücken zu erteilen.
Rufe tönten durch die Nacht, Soldaten hasteten über den Lagerplatz, holten Musketen, Tromblons und Pistolen und bemannten die Boote, die an den hölzernen Anlegern schlingerten. Die Szene wurde von dem huschenden Licht der Fackeln begleitet.
Don Felix schickte seine Suchtrupps mit der Order los, sich zunächst in südlicher Richtung zu bewegen. Er war sicher, daß Morgan Young versuchen würde, die Küste zu erreichen.
Der Wind blies mit unverminderter Kraft in den Dschungel von Sumatra, aber er brachte keine Abkühlung. Die Wolken, die über das grüne Dach der Fieberhölle zogen, öffneten sich nicht zu rauschenden Regenschauern, und die schwüle Luft entlud sich nicht. Nur ab und zu zuckten Blitze, und in längeren Zeitabständen war das Grollen fernen Donners zu vernehmen. Das Inferno der Natur, das sich eigentlich jeden Augenblick hätte entfesseln müssen, fand nicht statt. Zäh und unendlich drükkend war die Atmosphäre der brütenden Feuchtigkeit, durch die Morgan Young voran taumelte.
Er war der völligen Erschöpfung jetzt sehr nah, und seine Nerven wollten nicht mehr mitspielen. Im Nachhinein setzte ihm der Tod Romeros erheblich zu, er konnte das Ereignis doch nicht so schnell verarbeiten, wie er anfangs gedacht hatte.
Die Arbeit unter der mörderischen Hitze, die er Tag für Tag mit den anderen Sträflingen zusammen hatte verrichten müssen, hatte ihre Spuren bei ihm hinterlassen und seine Energien stark herabgesetzt. All die Entbehrungen und Härten der letzten Zeit forderten jetzt ihren Tribut.
Young stand kurz vor dem Zusammenbruch.
Er verharrte und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm eines großen, knorrigen Baumes. Er spreizte die Beine ein wenig und stemmte sie fest gegen den Untergrund, denn er wollte nicht zu Boden sinken. Nicht einschlafen, hämmerte er sich immer wieder ein, nur nicht einschlafen, sonst ist alles aus.
Er schloß aber doch die Augen und verfiel für kurze Zeit in einen Zustand des Dahindämmerns. Seine Atemzüge wurden langsamer und regelmäßiger.
Plötzlich riß er die Augen wieder auf. Ganz deutlich hatte er in seiner Nähe eine Bewegung wahrgenommen. Er griff mit der rechten Hand nach dem Säbel, den er in den Hosengurt geschoben hatte. Leise klirrte die Kette, die seine Handschellen verband. Er zog den Säbel heraus, nahm eine geduckte, drohende Haltung ein und blickte sich nach allen Seiten um.
Hatte er sich getäuscht? Hatten ihm seine gereizten Nerven nur etwas vorgegaukelt?
Der Wind wisperte und zischelte in den Büschen und bewegte die Blätter, überall schien Bewegung zu sein. Hier und dort knackte oder raschelte es, überall war das eigentümliche Klagen und Kreischen, Maunzen und Schnattern der Nachtvögel und der anderen Urwaldbewohner zu vernehmen, die zu dieser Stunde wach waren.