Seewölfe Paket 11

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Hasard nahm das Spektiv ein Stück nach links und konnte die Gestalten von vier spanischen Soldaten erkennen, die soeben aus dem Mangrovendik-kicht hervorgetreten waren und nun nacheinander ihre Musketen auf den zerlumpten Mann abfeuerten.
„Mein Gott!“ stieß Hasard aus. „Die veranstalten ja ein reines Zielschießen auf den armen Teufel.“ Er ließ das Spektiv sinken und wandte sich zu seinen Männern um. „So schnell wie möglich dicht ans Ufer ’ran, dann beidrehen und das große Beiboot abfieren! Wir müssen dem Mann mit den Ketten aus der Klemme helfen – wer immer er auch ist.“
„Wenn wir das man noch schaffen“, sagte Ben Brighton, der die Szene auch durch sein Fernrohr beobachtete. „Die Dons haben ihn ja gleich.“
6.
Morgan Young duckte sich und packte den Baumstumpf. Die Musketenkugeln sirrten über seinen Kopf und über seinen Rücken – so dicht, daß er schon glaubte, getroffen zu werden.
Immer mehr Spanier traten jetzt aus dem Dschungel hervor und hoben ihre Waffen gegen ihn.
Young schleppte den Baumstumpf durch die Brandung, verlor dabei den Säbel, konnte ihn nicht mehr aufheben, sondern nur noch ins tiefere Wasser waten, den Stamm sinken lassen und sich daran festklammern. Er stieß sich mit den nackten Füßen vom Grund ab und brachte sich weiter voran. Als er keinen Halt mehr unter sich spürte, hob er die Beine an und begann, damit auf und abzuschlagen.
Hinter ihm liefen die Soldaten an dem Platz zusammen, auf dem er kurz vorher gestanden und der Besatzung des englischen Seglers zugewinkt hatte.
Wieder feuerten sie, und die Kugeln schlugen bedrohlich nah rechts und links neben dem Engländer ins Wasser. Verzweifelt arbeitete er mit den Beinen, streckte seine Gestalt und stieß den Stumpf vor sich her.
Die Brandung wurde zu seinem erbitterten Feind, sie bäumte sich gegen ihn auf und wollte ihn zurück ans Ufer werfen. Young zog den Kopf ein und tauchte unter, um den schäumenden Fluten so wenig Widerstand wie möglich zu bieten. Er hörte nicht auf, mit den Beinen zu schlagen. Es kostete ihn seine ganze Energie, soviel Vortriebskraft zu erlangen, daß er durch die Brandungswellen hindurch ins tiefere Wasser geriet.
Etwas grub sich brennend in sein linkes Bein und ließ ihn aufschreien. Er war getroffen! Er schluckte vor Schreck und Schmerz Wasser, ließ fast seinen Halt los und drohte, die Gewalt über sich selbst zu verlieren. Voll Panik kämpfte er gegen das Ertrinken an, brachte sich wieder hoch und klammerte sich keuchend und wasserspuckend an dem Stumpf fest.
Das linke Bein schmerzte höllisch.
Young konnte es aber noch bewegen, und daraus schloß er, daß die Knochen nicht getroffen waren. Vielmehr schien es sich um eine Fleischwunde zu handeln, die von der Musketenkugel gerissen worden war. Vielleicht war das Geschoß nicht einmal steckengeblieben, sondern gleich wieder zur anderen Seite hin ausgetreten.
Morgan Young schloß vor Pein und Angst die Augen und biß die Zähne fest aufeinander. Ihm wurde schwindelig, er drohte das Bewußtsein zu verlieren. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an.
Er öffnete die Augen wieder, blickte sich um und sah, daß sie Entfernung zwischen ihm und seinen Gegnern gewachsen war.
Er sah aber auch, daß das Wasser hinter ihm sich dunkel färbte von dem vielen Blut, daß er verlor.
Die Schmerzen brannten und stachen in seinem Bein und pflanzten sich durch die linke Hüfte bis in den ganzen Unterleib fort.
Sein Herz pumpte heftig bis in den Hals hinauf.
Die Spanier hatten ihre Musketen nachgeladen, rammten jetzt eiserne Gabelstützen in den weichen Boden des Ufers und legten die Schäfte ihrer Waffen darauf. Auf diese Weise konnten sie besser zielen. Sie drückten ab, und in kurzen Abständen krachten die Musketen.
Young schwamm mit seinem morschen Baumstamm auf dem Kamm einer Woge, tauchte jetzt aber in ein Wellental und entzog sich den Blikken der Spanier. Sämtliche Kugeln gingen daneben. Die Reaktion der Soldaten und ihrer Truppenführer darauf war ein wütendes Geschrei.
Young lachte auf. Trotz seiner Schmerzen und seiner Verzweiflung spürte er jetzt wieder den Schimmer einer Hoffnung, denn er hatte ihnen doch wieder ein Schnippchen geschlagen und trieb immer näher an das fremde Schiff heran.
Das Schiff war seine Rettung – und jetzt, als er wieder von einer Welle hochgehoben wurde, konnte er deutlich verfolgen, wie die schmucke Dreimast-Galeone keine Kabellänge von ihm entfernt beidrehte. Die Segel wurden aufgegeit, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurde jetzt in Lee – also an der ihm zugewandten Schiffsseite – ein Beiboot abgefiert und zu Wasser gelassen. Young konnte die Männer sehen, die in aller Eile an der genauso flink ausgebrachten Jakobsleiter abenterten und auf die Duchten des Bootes kletterten.
Morgan Young war fasziniert und zutiefst gerührt, er lachte wieder und spürte dabei, wie ihm heiße Tränen über die Wangen rannen. Er schämte sich dieser Tränen nicht.
Plötzlich glaubte er, hinter seinem Rücken eine Bewegung wahrzunehmen. Rasch wandte er sich um – und sein Lachen zerfiel von einem Augenblick auf den anderen. Sein Gesicht verwandelte sich in eine Maske des Entsetzens.
Lange Baumstämme schienen auf den Wogen zu schwimmen, doch bei näherem Hinsehen entwickelten sie ein beängstigendes Eigenleben. Es war die Täuschung aller Menschen, die diesen Kreaturen zum erstenmal begegneten, sie für borkige, angefaulte Holztrümmer zu halten, die träge dahinglitten, denn die Ähnlichkeit war verblüffend.
Young hatte mit allem gerechnet, nur nicht hiermit! Das die Krokodile in den Mangrovensümpfen dicht am Meer genauso wie tief im Binnenland lauerten, war ihm bekannt, aber daß sie sich auch bei diesem Seegang ins Salzwasser hinauswagten, hätte er nie für möglich gehalten.
Ihre Gier nach Beute schien grenzenlos zu sein.
Sie mußten ihn aus ihren kleinen, gnadenlosen kalten Augen beobachtet haben, als er ins Wasser gestürmt war und sich aus der Reichweite der gegnerischen Kugeln gebracht hatte. Sie hatten sich aus den Mangroven in die Brandung geschoben, ohne daß er es sofort bemerkt hatte.
Sechs Krokodile zählte Young, aber aller Wahrscheinlichkeit nach waren es noch mehr. Sie waren ihm schon dicht auf den Fersen, nur ein Wellental trennte sie noch von ihrem Opfer.
Wieder schrie Morgan Young auf – gellend und langgezogen.
Bei diesem Seegang ein Boot zu Wasser zu bringen und zu bemannen, war kein leichtes Stück Arbeit. Wild tanzte die Jolle unter Dan O’Flynn, der gerade als letzter abenterte.
Wie Hasard, Ferris Tucker, Big Old Shane, Stenmark und Batuti, die vor ihm an der Jakobsleiter hinuntergehangelt waren, riskierte auch Dan, zwischen der Bordwand der „Isabella“ und dem Dollbord des Bootes zerquetscht zu werden, falls er nicht den richtigen Moment für seinen Sprung abpaßte.
Er verharrte auf der viertuntersten Sprosse, wartete, bis die Jolle von einer Woge hobgehoben wurde, und stieß sich dann ab. Mit einem Satz landete er zwischen Stenmark und Batuti, und sie packten seine Arme, damit er nicht zur anderen Seite hin aus der Jolle kippte.
Hasard saß auf der Heckducht und hielt bereits die Ruderpinne. Ferris und Shane hatten sich auf den mittleren Duchten niedergelassen und griffen zu den Riemen.
„Ruder an!“ rief der Seewolf.
Dan, Batuti und der Schwede nahmen ebenfalls Platz und beeilten sich, die Riemen in die Dollen zu legen. Der Seewolf stemmte einen Bootshaken gegen die Bordwand der „Isabella“. Die Jolle löste sich von ihrem Schiff, schwamm frei, und die fünf Männer pullten kräftig an, während Hasard die Ruderpinne herumdrückte.
Heftig stampfte und schlingerte die Jolle in der aufgewühlten See. Für eine Weile konnten die sechs Männer den im Wasser treibenden Mann nicht mehr sehen, denn ihr Boot sackte tief in eine Wellengrube ab.
In diesem Moment ertönte der langgezogene Schrei, der gegen den Wind bis zur „Isabella“ schallte und gleichzeitig bis zum Ufer wehte, wo die Spanier die Hälse reckten und die Köpfe hoben, um zu verfolgen, was jetzt geschah.
„Sir!“ brüllte Gary Andrews vom Großmars aus. „Aufpassen! Salzwasserkrokodile! Steuerbord voraus, von euch aus gesehen!“
Die Jolle schob sich auf die schaumgekrönte Spitze einer Welle, und von hier aus konnte der Seewolf sowohl den Mann mit seinem Baumstumpf als auch das halbe Dutzend herangleitender Krokodile erkennen.
Das konnte wohl kein Trick mehr sein, um die Männer der „Isabella“ in eine Falle zu locken, wie es auf Seribu geschehen war. Niemals hätte ein Mann soviel riskiert, um nur ein billiges Schauspiel aufzuziehen.
Hasard richtete sich von der Heckducht auf, hielt die Ruderpinne dabei aber noch fest.
Mit weit abgespreizten Beinen stand er da und rief Ferris Tucker zu: „Ferris, mach eine Höllenflasche fertig! Mit Musketen und Tromblons können wir gegen die Biester nicht allzuviel ausrichten!“
„Aye, Sir!“
Ferris holte den Riemen ein, hob ihn über die Köpfe der Kameraden und legte ihn längs auf die Duchten. Er bückte sich, nahm eine der pulvergefüllten „Flaschenbomben“ vom Bootsboden auf und kramte Feuerstein und Feuerstahl aus seinen Taschen hervor.
Genug Waffen hatte der Seewolf vorsorglich von Bord der „Isabella“ mitnehmen lassen, aber er hatte nicht auch noch ein Kupferbecken mit glimmender Holzkohle abfieren lassen können, denn das wäre garantiert umgekippt und hätte den Männern die Haut versengt.
So mußte Ferris also mühsam mit Feuerstein und Feuerstahl die Lunte der Flasche anzünden und gleichzeitig die schwankenden Bootsbewegungen durch geschickte Beinarbeit ausgleichen. Es kam schon fast einem Akrobatenstück gleich, was er hier tat, und kostbare Zeit ging verloren.
Big Old Shane, Dan O’Flynn, der Schwede und der schwarze Herkules aus Gambia pullten, so schnell sie konnten, und die Jolle war dem verzweifelten Mann, der obendrein auch noch verwundet zu sein schien, jetzt sehr nah.
Nah aber waren auch die Krokodile.
Hasard stand immer noch aufrecht da, und er konnte jetzt, als die Jolle auf einem neuen Wellenkamm tanzte, das Blut im Wasser hinter den Beinen des fremden Mannes sehen.
Wenn die Krokodile Blut spürten, wurden sie so wild und mordlustig wie die Haie, soviel war Hasard bekannt. Auch er und seine Crew hatten ihre Erfahrungen mit den gefährlichen Echsen gemacht, deshalb wußte er, daß man sie auf keinen Fall unterschätzen durfte.
Mit einem einzigen Biß seiner gewaltigen Kiefer konnte so ein Biest einem ausgewachsenen Mann die Beine vom Rumpf trennen. Und genau dieses Schicksal erwartete den Mann im Wasser, wenn nicht sofort etwas geschah.
Hasard stellte die Ruderpinne fest, nahm eine Muskete zur Hand und feuerte sie auf das Krokodil ab, das dem Fremden inzwischen am nächsten geraten war.
Bei dem Tanz, den das Boot in der See aufführte, und der Bewegung des lebenden Zieles war es beinah ein Wunder, daß er überhaupt traf. Der Schuß krachte, und im nächten Augenblick zuckte die große Echse heftig im Wasser zusammen. Ihr Maul klaffte auf und schnappte wieder zu, dann fiel sie ein Stück zurück.
Dennoch hätte auch eine Folge von sechs Musketenschüssen nicht viel ausrichten können, wie der Seewolf vorausgesehen hatte, denn die anderen Bestien drängten – unbeeindruckt von dem, was ihrem Artgenossen geschehen war – nach, und auf den Wellen tauchten jetzt immer mehr Tiere auf.
„Ferris!“ schrie der Seewolf.
„Es geht los, Sir!“ brüllte sein rothaariger Schiffszimmermann zurück. Die Lunte war jetzt trotz aller widrigen Umstände gezündet, sie glomm rötlichgelb und zischte, und die Glut arbeitete sich durch die Schnur auf den Korken der Flasche zu.
Ferris hob die geballte Ladung Pulver, Eisen, Blei und Glas hoch über seinen Kopf, zählte noch bis fünf und schleuderte sie dann über den Mann im Wasser hinweg mitten zwischen das Rudel Krokodile.
Hasard hatte die Muskete mit einem Tromblon vertauscht und feuerte zum zweitenmal, aber dieses Mal ging der größte Teil der Ladung aus gehacktem Blei und Eisen fehl, und die Panzerechsen wichen immer noch nicht zurück.
Die Flaschenbombe landete mit einem schwachen Klatscher im Wasser und versank. Es sah tatsächlich so aus, als habe Ferris Tucker den Moment der Explosion falsch kalkuliert, aber der rothaarige Riese wußte es besser, er grinste grimmig und zuversichtlich.
Wenn die Lunte nämlich erst einmal bis durch den Flaschenkorken abgebrannt war, dann glomm sie auch unter Wasser weiter, denn die Nässe konnte ihr nichts anhaben.
Plötzlich ging die „Höllenflasche“ dicht unter der Wasseroberfläche hoch. Die Detonation glich dem Ausbruch eines Seebebens: Wie von einer unsichtbaren Macht bewegt, wölbten sich die Fluten plötzlich hoch und warfen die Krokodile ein Stück in die Luft hoch.
Der Unterwasserdruck beförderte Morgan Young direkt auf die Jolle zu. Er hatte den Kopf eingezogen und wieder unter Wasser genommen, als die Flaschenladung explodiert war, jetzt aber blickte er wieder auf und sah die Hände, die sich ihm aus dem Boot hilfreich entgegenstreckten.
Er griff zu, glitt fast doch noch wieder ab, aber Shane und Batuti beugten sich tiefer über das Dollbord, faßten nach und packten ihn fest an den Oberarmen. Sie hievten ihn über die Dollen hinweg, ließen ihn zwischen zwei Duchten sinken und warfen erst dann wieder einen Blick auf die Krokodile.
Zwei oder drei Tiere hatte es zerrissen, die anderen ergriffen jetzt entsetzt die Flucht.
„Donnerwetter“, sagte Big Old Shane. „Was so eine Höllenflasche doch alles fertigbringt, Ferris!“
Der Schiffszimmermann grinste ihn an. „Nun tu doch nicht so scheinheilig, das wußtest du doch auch vorher schon.“
„Ja, aber man muß den Augenblick der Zündung schon richtig berechnen und die Flaschen auch zu werfen wissen!“ rief Dan O’Flynn.
Ferris ließ sich wieder auf seiner Ducht nieder und griff nach dem Riemen. „Nun hör sich das einer an“, sagte er. „Die Kerle wollen mir tatsächlich Honig um den Bart schmieren. Weiß der Henker, warum.“
„Ferris!“ rief der Seewolf. „Das war wirklich ein guter Wurf. Alle Achtung!“
„Danke, Sir“, sagte der rothaarige Riese, und diesmal spürte er sein Herz vor Stolz wirklich kräftiger schlagen.
Hasard drückte die Ruderpinne wieder herum, und die Jolle wendete in der stürmischen See. Bei der Rückfahrt zur „Isabella“ stellte er zu seiner Zufriedenheit fest, daß Ben Brighton den White Ensign inzwischen aus dem Großtopp hatte niederholen lassen.
Hasard hatte ihm das befohlen, bevor er das Schiff zur Rettung des Kettensträflings verlassen hatte. Vielleicht hatten die Spanier die Flagge noch nicht gesehen, vielleicht war es gut, wenn sie nicht erfuhren, welcher Nationalität die „Isabella“ war.
Morgan Young war ohnmächtig geworden, aber jetzt schlug er sehr schnell wieder die Augen auf und gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich. Ein starkes Brennen in seinem linken Bein hatte ihn ins Bewußtsein zurückgerufen. Entsetzt wollte er hochfahren, doch Hände drückten ihn auf sein Lager zurück.
„Nun mal immer mit der Ruhe“, sagte eine rauhe Stimme. „Mit zappeligen Patienten haben wir auf diesem Schiff nicht viel im Sinn.“
Young hob den Blick und sah über den Kopf und die Schultern eines Mannes hinweg, der sich offensichtlich um seine Blessur bemühte, genau in das derbe, narbige Gesicht eines riesigen Kerls, der ein Kinn wie ein Rammklotz und Schultern so breit wie ein Schiffsschapp hatte.
„Die Krokodile, mein Gott, die Krokodile“, stammelte Morgan Young.
„Hol’s der Teufel“, sagte der Narbenmann unwirsch. „Ich bin kein Krokodil, du Witzbold, ich bin der Profos auf diesem Kahn. Mein Name ist Edwin Carberry, verdammt noch mal, und solange ich hier meines Amtes walte, herrschen Ordnung und Disziplin, verstanden?“
„Verstanden, Sir“, erwiderte Young beeindruckt von so viel Autoritätsgebaren.
Der andere Mann hob jetzt seinen Kopf und lächelte Young freundlich zu. „Keine Angst, Freund, so wüst sind die Sitten an Bord der ‚Isabella‘ nun auch wieder nicht – und bellende Hunde beißen bekanntlich nicht.“
„Wie war das eben, Kutscher?“ fragte Carberry drohend.
„Mister Carberry, Sir, ich erkläre unserem Patienten nur, daß er hier unter Freunden ist und daß es um seine Beinwunde nicht so schlimm bestellt ist, wie man anfangs vielleicht denken konnte.“
„Aha.“
„Ich habe das linke Bein abgebunden und die Fleischwunde desinfiziert, also ausgebrannt und mit Tinktur gesäubert. Nach der Kugel habe ich aber vergeblich gesucht, die steckte nämlich nicht in der Wade.“
„Na, ein Glück“, brummte der Profos.
Der Kutscher reichte Young die Hand. „Willkommen an Bord der ‚Isabella‘. Ich bin der Feldscher, du kannst dich darauf verlassen, daß du hier anständig gesundgepflegt wirst.“
Young ergriff die ihm dargebotene Hand und schüttelte sie. Er stellte fest, daß er keine Handschellen und keine Kette mehr trug, und hob verwundert die Augenbrauen.
Der Kutscher lachte. „Ferris hat dir die Kette gleich abgenommen, als wir dich an Bord gehievt hatten. Ich schätze, du fühlst dich jetzt ein wenig erleichtert.“
„Mächtig erleichtert, Sir.“
„Nenn mich Kutscher, so rufen mich hier alle.“
„In Ordnung, Kutscher. Habe ich viel Blut verloren?“
„Nur ein paar Gallonen, aber du kommst schon wieder auf die Beine, Mann“, sagte Carberry in seiner üblichen schroffen Art. „So, und jetzt hört mit eurem albernen Geschwafel auf. Zur Sache: Wie ist dein Name?“
„Morgan Young.“
„Engländer?“
„Mein Gott, das hört man doch – sowohl an seiner Aussprache als auch an seinem Namen“, stöhnte der Kutscher.
„Kutscher, halte die Futterluke, du bist nicht gefragt worden“, fuhr der Profos ihn an. „Nun, Young?“
„Ich bin wirklich Engländer. Gebürtig aus Southampton.“
„Ekliges Nest“, meinte Carberry. „Aber besser als gar nichts. Fein, daß wir dich aufgefischt haben, was, wie? Ich hab schon gedacht, du wärst ein Don oder vielleicht ein Ire oder ein Schotte, der sich als Engländer ausgibt …“
„Selig sind die geistig Armen“, murmelte der Kutscher, vorsichtshalber aber auf lateinisch, wie Doktor Freemont es ihm seinerzeit mal beigebracht hatte. Er schickte einen Blick zur Balkendecke der Achterdeckskammer hoch, mit dem er die außerirdischen Mächte um Vergebung für die polternde, ungeschickte Art des Profos bat, mit Neulingen umzugehen. Viele mutige Männer hatten sich schon zutiefst erschrokken, als sie dem Narbenmann zum erstenmal begegnet waren.
„… und du sollst mich nicht immer unterbrechen, Kutscher!“ führte Carberry seine Rede zu Ende. „Sonst setze ich dich doch noch mit deinem Hintern in die heiße Suppe, die du uns vorzusetzen wagst.“
„Ja, Sir“, sagte der Kutscher. Man sollte es schließlich nicht zu weit treiben.
Carberry trat dicht vor Morgan Young hin und drückte ihm ebenfalls die Hand. „Wir Engländer müssen zusammenhalten, was, Morgan?“
„Sicher, Sir. Wie kann ich mich für meine Rettung bedanken?“
„Warte, ich sage jetzt unserem Kapitän Bescheid“, brummte Carberry. Er schritt durch den wankenden Schiffsraum zur Tür, öffnete sie und rief in den Gang hinaus: „Sir, du kannst ihn dir anschauen. Er ist nicht abgekratzt, sondern aufgewacht und scheint auch schon wieder recht munter zu sein!“
„Hasard?“ fragte Morgan Young verdutzt und blickte den Kutscher an.
Der erwiderte: „Ja. Philip Hasard Killigrew. So heißt unser Kapitän.“
Youngs Augen weiteten sich. „Das gibt’s doch nicht. Philip Hasard Killigrew – der Seewolf. Ich werd verrückt!“
7.
Wütend hatten die beiden Landtrupps der Spanier vom Ufer aus verfolgt, wie die Männer der fremden Galeone den Kettensträfling Young geborgen hatten. Jetzt wandten sie sich ab und verschwanden wieder im Busch, um ins Gefangenenlager von Airdikit zurückzukehren und Don Felix Maria Samaniego Bericht zu erstatten.
Zwei andere Soldaten hatten bereits den Leichnam ihres von Morgan Young getöteten Kameraden zurück in die Strafkolonie geschafft, dorthin, wo der junge Spanier Romero inzwischen wie ein Hund verscharrt worden war.
Die beiden zwanzigköpfigen Suchtrupps hatten einen totalen Mißerfolg zu verzeichnen. Ihre Führer wußten nicht mehr weiter, sie waren ratlos und brauchten neue Befehle von ihrem Kommandanten, wie jetzt zu verfahren war.
Für den Rückmarsch ins Lager brauchen sie mindestens eine Stunde Zeit.
Die jeweils acht Mann Besatzung der beiden Pinassen und der Schaluppe hingegen, die auch im Morgengrauen noch rund um die Einfahrt zur geschützten Ankerbucht von Airdikit nach dem verschwundenen Engländer gefahndet hatten, hatten derweil die Explosion der Flaschenbombe vernommen und auch wie aus weiter Ferne Geräuschfetzen gehört, die wie das Krachen von Musketen klangen.
Der Teniente, der den kleinen Verband leitete, beschloß, selbst mit seiner einmastigen Pinasse nach Südosten zu segeln und nach der Ursache für die Schießerei zu forschen. Die zweite Pinasse und die Schaluppe indes sollten weiterhin vor der Einfahrt zur Bucht patrouillieren und den in nordwestlicher Richtung verlaufenden Küstenstreifen kontrollieren, der während der Nacht noch nicht abgesucht worden war.
Der Teniente hieß Leandro Moratin.
Teufel auch, dachte er, während seine Männer die Pinasse wendeten und mit neuem Kurs an den Wind brachten, sollten die Landtrupps diesen verfluchten englischen Bastard wirklich doch noch gestellt haben?
Wenig später sichtete Moratins Ausguck Mastspitzen an der südöstlichen Kimm und kurz darauf die vollständigen Masten einer Galeone, die mit aufgegeiten Segeln da lag.
Was er von der Entdeckung dieses Schiffes nun halten sollte, wußte der Teniente Moratin nicht. Er nahm sich aber fest vor, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Deshalb steuerte er seine Pinasse mit unverändertem Kurs auf die Dreimast-Galeone zu, die ihrerseits beigedreht im Wind liegenblieb.
Hasards breitschultrige Gestalt erschien im Rahmen der Tür zur Achterdeckskammer. Carberry rückte ein Stück zur Seite und hielt sich am Schapp fest, damit er nicht ins Wanken geriet und durch den Raum stolperte. Hasard lehnte sich gegen den Türrahmen und blickte zu Morgan Young und zum Kutscher.
Young setzte sich auf, obwohl der Kutscher es ihm untersagt hatte, und salutierte, wie ein Kadett der Royal Navy es nicht besser fertiggebracht hätte.
„Sir Philip“, sagte er ergriffen. „Es ist mir eine ungeheure Ehre, Ihnen begegnet zu sein, und ich werde es Ihnen und Ihrer Crew nie vergessen, daß Sie mir das Leben gerettet haben.“
Der Profos stieß einen schnaubenden Laut aus. „Das war eine gute Rede, Morgan. Hasard, dies ist Morgan Young, und er stammt aus Southampton, wofür er selbstverständlich nichts kann.“
„Sind wir uns früher schon mal begegnet, Morgan Young?“ fragte der Seewolf.
„Nein, Sir, aber ich weiß trotzdem, daß man Ihnen den Beinamen ‚Seewolf‘ verliehen und Sie zum Ritter geschlagen hat“, erklärte Young stolz. Er war ein großer Mann biederen Aussehens, mit dunkelblonden Haaren, wasserblauen Augen und einem dichten Vollbart, der ihm in der Gefangenschaft gewachsen war.
Hasard musterte dieses Gesicht prüfend, aber er konnte sich nicht entsinnen, jemals zuvor mit diesem Mann zu tun gehabt zu haben. Er trat auf Youngs Koje zu, in die der Mann auf seine Anweisung hin gelegt worden war, blieb am Fußende stehen und hielt sich mit einer Hand am Pfosten der Umrandung fest.
„Wer hat dir das erzählt, Morgan?“ wollte er wissen.
„Ein Landsmann, Sir Philip.“
„Du kannst ruhig Hasard zu mir sagen. Meine Männer pflegen mich so zu nennen.“
„Danke, Sir Hasard. Ich …“
„Den ‚Sir‘ kannst du auch weglassen, denn unser Kapitän legt keinen gesteigerten Wert darauf, mit seinem adligen Titel angeredet zu werden“, unterbrach ihn der Profos. „Aber nun mal fix raus mit der Sprache, Morgan, laß dir gefälligst die Würmer nicht einzeln aus der Nase ziehen: Wer zur Hölle ist dieser Engländer, der dir über den Seewolf erzählt hat?“
„Ein Mitgefangener aus dem Arbeitslager der Spanier, aus dem ich letzte Nacht ausgebrochen bin. Er heißt Jonny. Aber davon abgesehen – ich habe auch in England schon von den Taten des Seewolfs und seiner Mannschaft vernommen, bevor ich auf der ‚Balcutha‘ anheuerte und …“