Seewölfe Paket 11

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Zwei Spanier bewachten das Eisengatter, das nicht weit vom Fuß der Treppe entfernt den Eingang zu sämtlichen Räumen des Gewölbes verriegelte. Dieses Gatter ließ sich nur vermittels einer Winde öffnen, die rechts neben dem Einlaß in einer Nische der wuchtigen Steinmauer angebracht war. Bediente man die Winde, so hob sich das schwere Gestänge unter dem Zug von Eisenketten, die in die Decke des Gewölbes eingelassen waren.
Die beiden Wachtposten fuhren herum, als sie polternde Geräusche hinter sich vernahmen. Sie rissen ihre Musketen hoch und brachten sie in Anschlag auf die Gestalten, die jetzt lärmend die Stufen hinunterkollerten.
Sie zögerten jedoch zu schießen, denn die beiden Männer, die ihnen bis vor die Füße rollten, trugen die Rüstung der spanischen Soldaten. Und auch die Flüche, die sie ausstießen, klangen so unverkennbar spanisch, daß die Wächter des Kerkers keinen Zweifel daran hegten, echte Landsleute vor sich zu haben.
Die Brustpanzer der beiden offensichtlich Gestrauchelten schepperten auf dem Steinboden, und ihre Helme klapperten. Sie blieben auf den Bäuchen liegen und stöhnten.
„Was ist los?“ fragte der eine Wachtposten. „Ich denke, der Kampf ist entschieden!“
„Ist er auch“, brummelte Dan O’Flynn in tadellosem Kastilisch. Er erhob sich, hielt den Kopf dabei aber so gesenkt, daß die Spanier sein Gesicht nicht erkennen konnten.
„Aber wir haben eine Meldung des Kommandanten“, sagte Shane, der sich nun ebenfalls aufrichtete und dabei genauso verfuhr wie Dan. „Und wir haben es so eilig gehabt, sie euch zu überbringen, daß wir auf der Treppe ausgerutscht sind.“
„He, wer bist du denn?“ sagte der zweite Wachtposten. Er beugte sich vor, griff mit der Hand nach Shanes Schulter und versuchte, den Mann so umzudrehen, daß er sein Gesicht sehen konnte. „Pablo?“
Dan und Shane fuhren gleichzeitig herum und schlugen mit ihren Fäusten zu. Dan traf das Kinn seines Gegners sofort, und dieser Mann brach bewußtlos zusammen, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben oder eine Geste des Widerstandes zu zeigen.
Shane erwischte den zweiten Wachtposten nicht ganz so glücklich. Seine Faust schrammte an der Kinnlade des Mannes hoch und prallte gegen die Kante des Helmes. Der Spanier wollte schießen, schreien, Widerstand leisten, aber Big Old Shane nahm ihn blitzschnell in einen Klammergriff – obwohl seine Hand schmerzte –, riß ihn herum, zog ihm den Helm vom Kopf und verpaßte ihm einen Hieb, der auch ihn zusammensinken und schlaff werden ließ.
Ein lautes Stöhnen konnte der Spanier aber doch noch von sich geben, ehe er ohnmächtig wurde.
Doch jetzt ertönte draußen der Gewitterdonner, und gleich darauf fiel der erste Kanonenschuß. Shane und Dan grinsten sich zu, sie hatten beide den Eindruck, das Stöhnen des Zusammenbrechenden sei in dem Donnern untergegangen.
Sie zerrten die beiden Soldaten in einen Seitengang, der sehr dunkel war und außerdem geräumig genug, um ihnen ausreichend Platz zu bieten. Dan und Shane nahmen den Spaniern die Waffen ab, kehrten zum Eisengatter zurück und verständigten sich durch Gebärden, was als nächstes zu tun war.
Dan hastete die Treppe hinauf, um den anderen Bescheid zu geben. Jonny, Sullivan und die anderen sollten nachrücken, nur Christians sollte als Aufpasser oben im Eingang des Südturms stehenbleiben, damit seinen Kameraden niemand in den Rücken fallen konnte.
Big Old Shane begann, die Winde zu drehen. Er glaubte, im Lager Musketen- und Pistolenschüsse fallen zu hören, und jetzt dröhnte auch der zweite Siebzehnpfünderschuß auf dem Söller der Festung und wenige Augenblicke später der dritte.
Das Eisengitter hob sich.
Dan O’Flynn hastete mit Sumatra-Jonny, Sullivan und den Männern der „glorreichen Zehn“ die Treppe hinunter. Jonny hatte ein wahrhaft diebisches Grinsen aufgesetzt, und er schickte sich schon an, unter den spitzen Zähnen des Gatters hindurchzukriechen, da tauchte auf der anderen Seite überraschend die Gestalt eines spanischen Soldaten auf.
„Jesus, Maria!“ schrie der Soldat. „Was treibt ihr denn da? Ihr – mein Gott, wer seid ihr?“
Im Gewölbe brannten Pechfakkeln, die in schmiedeeisernen Haltern steckten, und etwas von dem Lichtschein fiel auf Jonnys Gestalt, aber auch auf die Gesichter von Dan O’Flynn und Shane. Der Spanier begriff sofort, daß er es bei den Uniformierten nicht mit seinen Kameraden zu tun hatte – und er wußte ja auch, daß die Eindringlinge, mit denen man sich auf dem Platz zwischen Hütten und Hafen einen erbitterten Kampf geliefert hatte, in der Verkleidung spanischer Soldaten erschienen waren. Er selbst hatte seinen Posten im Kerker während dieses Gefechtes nicht verlassen dürfen, aber ein Melder hatte ihm und den beiden anderen Wächtern alles Wesentliche mitgeteilt.
Also fiel er nicht auf Dans und Shanes Maskierung herein wie vor ihm die beiden anderen Soldaten. Mit Entsetzen stellte er fest, daß seine Kameraden verschwunden waren und die Gegner deren Plätze eingenommen hatten. Mit einem Aufschrei hob er seine Muskete und zielte auf Jonny.
Jonny befand sich in einer so unglücklichen Lage, daß er sich drehen und wenden konnte, wie er wollte – er entging diesem Schuß auf gar keinen Fall.
Der Schuß krachte.
Dan O’Flynn, der Sumatra-Jonny am nächsten stand, zuckte unwillkürlich zusammen. Aber dann sah er, daß es nicht der Spanier gewesen war, der gefeuert hatte. Der Soldat ließ vielmehr die unbenutzte Muskete zu Boden fallen, griff sich mit beiden Händen an den Hals und gab einen röchelnden Laut von sich, während er in den Knien einknickte und zusammenbrach.
Dan drehte sich verblüfft um und sah, wie auch die anderen verdutzt zu dem hageren Batak blickten. Der hatte nämlich die Pistole gehoben, die er auf dem Festungshof dem einen überwältigten Posten abgenommen hatte, und stand auch jetzt, nach dem Schuß, in aufrechter, fast steifer Haltung da und schaute durch den aufsteigenden Schmauch Sumatra-Jonny an, der sich gerade auf der anderen Seite des Gitters erhob und auflachte.
„Danke, Taluk!“ rief Jonny. „Das war gerade noch rechtzeitig. Ich werd’ dir’s nicht vergessen, daß du das für mich getan hast. He, Freunde, habt ihr gesehen, was ich für prächtige Burschen in meiner Crew habe?“
„Allerdings“, gab Dan trocken zurück. „Das war ein ausgezeichneter Schuß. Jonny, du solltest aber besser die Augen offenhalten und nachsehen, ob noch mehr Soldaten im Gewölbe sind.“
„O Mann, da hast du allerdings recht“, sagte Jonny. Er ging zu dem toten Spanier, nahm ihm die Waffen ab und schritt vorsichtig weiter voran, die Muskete im Anschlag.
Shane hatte das Gatter jetzt fast ganz hochgedreht und arretierte die Winde. Mit Dan, Taluk und den anderen hastete er Sumatra-Jonny nach. Sullivan lief unterdessen die Treppe hinauf, um Christians Bescheid zu geben, daß alles in Ordnung sei. Natürlich würde sich Christians wegen des Schusses Sorgen bereiten.
Kurze Zeit später unterrichtete Christians seinerseits seinen Kameraden Josh Bonart, daß der Einbruch in das Kellergewölbe reibungslos verlaufen sei, und Bonart rannte daraufhin vom Südturm aus zurück zu Carberry und Trench mit denen er durch das Tor auf den Lagerplatz stürmte.
Jonny führte seine Begleiter in den Gefängnistrakt des großen Gewölbes, und hier empfingen sie begeisterte Rufe und Händeklatschen der Kettensträflinge und das Rasseln und Scheppern ihrer Eisen, mit denen sie heftig gegen die Gitterstäbe schlugen.
Jeweils zehn Mann waren in eine Zelle gesperrt, und jede Zellentür hatte ein Schloß.
Jonny hob die Hand und wies einen großen, schweren Schlüsselbund vor, den er dem toten Spanier mit den Waffen zusammen abgenommen hatte.
„Keine Sorge, Freunde!“ rief er. „Wir haben alles, was wir brauchen! He, Kameraden von der ‚glorreichen Zehn‘, die Haft ist zu Ende, wir sind endlich wieder frei! Ho, ihr anderen, wer sich uns anschließen will, der soll es tun! Wer aber selbst glaubt, daß er zu diesem prachtvollen Haufen nicht paßt, der soll von mir aus gleich verduften und sich im Busch verkriechen! Mehr können wir nicht für ihn tun!“
„Hurra!“ schrien die Gefangenen. „Es lebe Jonny!“
Jonny grinste, rasselte mit den Schlüsseln und wandte sich der ersten Zellentür zu, um sie aufzuschließen.
„Eine feine Rede war das, Jonny“, sagte Big Old Shane anerkennend. „Aber jetzt mal was anderes. Täusche ich mich, oder hast du uns vorhin von Waffenlagern und Pulverkammern erzählt, die hier unten untergebracht sind?“
„Du täuschst dich nicht“, antwortete der krummbeinige, häßliche Mann. „Wieso?“
„Ach“, meinte Dan O’Flynn. „Weißt du, wir wollen uns nur noch ein paar Waffen holen. Die könnten wir gut gebrauchen, wenn wir auf den Lagerplatz zurückkehren, was meinst du?“
„Ja, ganz bestimmt sogar. Und das viele Pulver?“
„Damit haben wir auch noch was vor“, erwiderte Shane grinsend.
„Es ist viel zuviel, um es alles zur ‚San Rosario‘ oder an Bord der ‚Isabella‘ zu mannen, wenn du das meinst“, sagte Jonny.
Big Old Shane schüttelte den Kopf. „Jetzt hast du mich falsch verstanden, Jonny. Dan und ich meinen bloß, daß das Zeug viel zu schade ist, den Dons wieder in die Hände zu fallen.“
Sumatra-Jonny kriegte große Augen. Dann begriff er, was sie planten, und begann zu kichern.
6.
Dobro, der Malaie, zählte mit Ranon und Calderazzo zum Kern der Besatzung der „Malipur“; er war der dritte Mann, der von Anfang an mit dabeigewesen war. Er kannte sich hervorragend mit allen Segelmanövern aus und betätigte sich außerdem als Segelmacher an Bord der Galeone. Er verstand sein Handwerk und gehörte mit dem Inder und dem Sizilianer zu den besten Leuten, die unter René Joslins Kommando fuhren, aber das unabwendbare Drama aufzuhalten, das über das Schiff und seine Besatzung hereinzubrechen drohte, lag außerhalb seiner Kompetenz.
Daran vermochte auch der fünfte Mann nichts zu ändern, der mit Ranon und Dobro in den Laderaum der „Malipur“ abgeentert war: Slacks, der Schiffszimmermann. Slacks war Engländer und hatte in seiner Jugendzeit bei einem der besten Schiffsbauer seines Landes eine Lehre absolviert. Auf abenteuerliche Weise war er nach Indien gelangt. Einige Jahre war er Gefangener der Portugiesen gewesen und hatte in Goa Schwerstarbeit leisten müssen.
Wegen seines Geschicks, mit Holz umzugehen, und seiner großen Fingerfertigkeit hatte er sich jedoch einen Vertrauensposten erwerben können und war vor der Schufterei in den Steinbrüchen bewahrt worden. Nachdem er am Aufbau eines großen Forts beteiligt gewesen war, bei dessen Errichtung seine brauchbaren Verbesserungsvorschläge berücksichtigt worden waren, war ihm eines Nachts die Flucht gelungen. Slacks hatte sich Freibeutern angeschlossen, war später in den Golf von Bengalen gelangt und hatte vor anderthalb Jahren bei Joslin angeheuert.
Immer wieder hatte er versucht, die „Malipur“ so weit zu reparieren, daß sie wieder so seetüchtig und manövrierfähig wurde, wie sie es früher einmal gewesen war. Aber sein guter Wille war jedesmal an dem grenzenlosen Geiz des Franzosen gescheitert.
Joslin war nicht bereit, Holz und andere Materialien zu kaufen, die für eine hinreichende Instandsetzung dringend erforderlich waren. Ja, er wollte nicht einmal seine Männer dafür bezahlen, daß sie das Holz selbst in den Küstenwäldern schlugen, und auch keine Zeit darauf verwenden.
Slacks hatte sich darauf beschränkt, wenigstens das einzige Beiboot, das der „Malipur“ geblieben war, immer wieder fachgerecht zu kalfatern oder morsche Planken auszuwechseln, so daß wenigstens die Jolle im Bedarfsfall allen Wettern standhielt. Im übrigen spielte Slacks schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, wieder abzumustern.
Schon an dieser Fahrt vom Golf von Bengalen zu den Philippinen hatte er nicht mehr teilnehmen wollen, und er verfluchte sich selbst dafür, daß er es am Ende auf Joslins Bitten hin doch getan hatte.
Slacks stand bis zu den Knien im Leckwasser der Galeone und hämmerte Planken gegen die Innenhaut des Schiffes, obwohl er genau wußte, daß auch das nichts mehr nutzte, wenn sie nicht bald vor dem Sturm in eine schützende Bucht verholten.
Er fühlte sozusagen körperlich, wie es um das Schiff bestellt war. Kein zweiter wußte über die Schwächen des „Dreckskahns“ – so nannte er ihn bei sich – besser Bescheid als er. Slacks hörte, wie das Rauschen und Gurgeln der Wasser zunahm, und er spürte die Angst vor dem nahenden Tod in sich aufsteigen.
Er brüllte genauso laut wie der Sizilianer. Als trotz allen Abdichtens und verzweifelten Pumpens doch immer mehr Wasser in die Frachträume lief, beschloß er, den entscheidenden Schritt zu tun.
„So!“ schrie er. „Mir langt’s jetzt! Ich gehe zum Alten und bringe ihm bei, was er zu tun hat, damit wir nicht alle absaufen wie die Ratten!“
„Das habe ich schon versucht!“ rief Ranon, der Inder.
„Und er hat sich geweigert, eine Bucht anzulaufen?“
„Ja.“
„Er sagt, in der verfluchten Mentawaistraße seien wir sicher vor dem schlimmsten Sturm!“ schrie Calderazzo.
„Das merken wir ja!“ brüllte Slacks außer sich vor Wut. „Ich entere jetzt das Achterdeck, Leute, und wer mir folgen will, der soll es sich nicht zweimal überlegen! Hilfe kann ich sogar gebrauchen!“
„Ich komme!“ rief der Sizilianer, ließ die Lenzpumpe los, die er mit Shindaman zusammen bedient hatte, lief durch das aufspritzende Wasser zu dem Engländer und trat neben ihn. „Das ist ganz nach meinem Geschmack!“ fügte er laut hinzu.
Eine schlingernde Bewegung des Schiffes drohte sie beide umzureißen, doch Slacks hatte die Geistesgegenwart, sich an einem Stapel Kisten festzuhalten, ehe es ihn aus dem Gleichgewicht warf. Calderazzo klammerte sich am linken Arm des Kameraden fest, und so wurde auch er vor einem neuerlichen Sturz in das schwappende Naß bewahrt.
„Was habt ihr vor?“ schrie Ranon ihnen zu.
„Bist du mit von der Partie?“ wollte Slacks wissen.
„Nur, wenn es kein böses Blut gibt!“
„Das läßt sich jetzt nicht mehr vermeiden!“ rief der Sizilianer.
Der Inder stolperte ein paar Schritte durch den Gang zwischen den Kisten, Fässern und Ballen und näherte sich den beiden. „Ihr wollt ihn also zwingen, vom Kurs abzuweichen? Das ist Meuterei! Überlegt euch, was ihr …“
„Wir wissen, was wir tun!“ unterbrach Slacks ihn scharf. „Oder ist es dir lieber, abzusaufen?“
„Wir könnten es auch mit heiler Haut überstehen!“ fuhr Ranon ihn an. „Bei einer Meuterei bin ich nicht dabei!“
„Keine Angst, wir springen schon nicht zu rauh mit dem Alten um“, sagte Slacks. Dann stieß er Ranon, der eine drohende Haltung einnahm, vor die Brust, daß dieser zurücktaumelte.
Slacks drehte sich um und hastete zum Niedergang, gefolgt von dem Sizilianer.
Der Inder verlor auf dem schlüpfrigen, tanzenden Deck die Balance und fiel hin. Die „Malipur“ senkte ihren Bug tief in ein Wellental, und das Leckwasser floß von achtern nach vorn durch den Gang und überspülte seine Gestalt. Ranon tauchte mit dem Kopf unter, schluckte Wasser und suchte mit den Händen nach einem Halt. Er fand ihn an einer der Zurrings der Tuchballen, richtete sich mit dem Oberkörper wieder auf und spie die Flüssigkeit mit einem Fluch aus. Er schüttelte sich, rappelte sich ganz auf und wandte sich zu Shindaman und Dobro um.
„Pumpt weiter!“ rief er ihnen zu. „Ich will zusehen, daß ich ein Unheil verhindern kann!“
Mit diesen Worten verließ auch er in aller Hast den Frachtraum und versuchte, den Engländer und den Sizilianer noch einzuholen, bevor sie vom Achterkastell auf die Kuhl hinaustraten.
Der Bengale und der Malaie blickten sich im Dunkel des Schiffsraumes über die Lenzpumpe hinweg an. Sie schüttelten die Köpfe, zuckten mit den Schultern und griffen nach dem beidseitig zu bedienenden Schwengel der Pumpe. Mit den Rükken gegen die Bällen gepreßt und die Füße so fest wie möglich auf die Planken gestemmt fuhren sie fort, das Wasser aus dem Bauch der Galeone zu pumpen. Ihre Mienen waren hart und verbissen. Sie wußten, daß ihr Werk eine wahre Sisyphusarbeit war, denn es drang nach wie vor mehr Wasser ein, als sie hinausbefördern konnten. Trotzdem pumpten sie weiter, als hinge von ihnen allein das Wohl der „Malipur“ ab.
Joslin fühlte, wie ihn die Angst übermannte und nicht mehr losließ. Bislang hatte er alle Hoffnung darauf gesetzt, daß der Seegang und der Wind sich etwas mäßigen würden, wenn sie mit der Galeone tiefer in die Mentawaistraße eindrangen. Jetzt aber sah er ein, daß er sich in diesem Punkt getäuscht hatte.
Und noch etwas trug erheblich zum Aufkeimen seiner Furcht bei: Er hatte den deutlichen Eindruck, daß er das Ruder nicht mehr lange halten konnte. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen den Kolderstock, der sich selbständig machen wollte und zu einer gefährlichen Waffe werden konnte, wenn er seinen Griff auch nur für einen Augenblick lockerte. Dann nämlich würde der hölzerne Hebel bis nach Backbord hinüberschnellen und ihm, Joslin, möglicherweise die Beine zerquetschen, wenn er sich nicht schnell genug in Sicherheit brachte.
Diese Aussicht war aber noch lange nicht das Schlimmste, was die Gedanken des Franzosen beschäftigte. Vor wenigen Minuten glaubte er ein verdächtiges Knacken und Knirschen im Gebälk der Ruderanlage vernommen zu haben, und er wußte, daß es keine Täuschung gewesen war.
Vielleicht hatte einer der Balken oder gar das Ruder selbst schon einen Knacks davongetragen – und was das hieß, hätte selbst ein weniger erfahrener Mann als Joslin gewußt.
Das Ruder konnte brechen. Dann würde der Südsüdwest-Wind die Galeone aus dem Kurs werfen und vor sich her nach Legerwall drücken, bevor der Kapitän und seine Männer auch nur die Chance hatten, das Ruder zu reparieren.
Dann fehlt nur noch ein Mastbruch, und wir sind geliefert, dachte der Franzose, dann wirft uns der Sturm auf die Küste oder auf ein Riff, oder aber der ganze Kahn schlägt quer und säuft ab.
Jetzt war er fast bereit, seine Meinung zu revidieren und neue, anderslautende Befehle zu geben, damit er das Schiff, die Ladung und die Mannschaft retten konnte. Aber er lag noch mit sich selbst im Widerstreit, denn er wagte sich nicht auszurechnen, wie viele Tage er möglicherweise vor der Küste von Sumatra festlag, wenn er nun doch aufgab, den Sturm abwettern zu wollen.
In seine Überlegungen hinein platzten Slacks und Calderazzo.
Rene Joslin sah sie durch einen Schleier von Gischt in den Manntauen auf sich zuhangeln. Sofort war ihm klar, was sie von ihm wollten. Calderazzo war ein guter Seemann, aber er konnte unberechenbar sein, wenn sein Temperament durchbrach. Heißblütig und schnell aufbrausend, wie er war, konnte dann Furchtbares passieren. Joslin hatte den Sizilianer in den Jahren ihres Zusammenseins ein paarmal deswegen maßregeln müssen, einmal, weil der Mann in seiner Wut fast zwei andere Decksleute niedergestochen hätte, die sich auf einen Streit mit ihm eingelassen hatten. Diese beiden hatten anschließend sehr schnell wieder abgemustert.
Slacks war deshalb ein unsicherer Kandidat, weil er schon mehrfach zu verstehen gegeben hatte, daß er die „Malipur“ bald wieder verlassen würde. Joslin konnte ihm das nicht unbedingt übelnehmen, aber er hatte den Verdacht, daß der Engländer die anderen Kerle noch gegen ihn, den Kapitän, aufwiegeln würde, ehe er ihnen ein für allemal den Rücken zukehrte.
Joslins Augen waren schmale Schlitze, als sich der Engländer und der Sizilianer vor ihm aufbauten. Seine Miene war hart und verschlossen.
„Was habt ihr hier zu suchen?“ rief er ihnen zu. „Ist euer Platz nicht unten im Laderaum?“
„Wir kämpfen da unten auf verlorenem Posten!“ schrie Slacks. „Das Wasser ist schneller und stärker als wir, und bald wird es an allen Ecken und Enden in den verdammten Kahn laufen – und wir wollen in der Brühe nicht ersaufen, Capitaine!“
„Kehrt sofort nach unten zurück!“
„Capitaine!“ brüllte Calderazzo gegen das Sturmtosen an. „Das können Sie von uns nicht verlangen! Sie wissen sehr genau, wie es um die ‚Malipur‘ bestellt ist! Deshalb verlangen wir von Ihnen, daß Sie …“
„Ihr habt gar nichts zu verlangen!“ fiel ihm der Franzose aufgebracht ins Wort. „Zum letzten Mal, räumt das Achterdeck, oder ich lasse euch wegen Befehlsverweigerung auspeitschen und einsperren!“
„Nein!“ schrie Slacks ihm ins Gesicht. „Nicht mit uns, Mann, denn bevor wir absaufen und von den Haien gefressen werden, haben wir noch ein Wörtchen mitzureden an dem, was aus uns wird!“
„Wir müssen eine Bucht anlaufen!“ rief der Sizilianer.
„Genau“, pflichtete der Engländer ihm sofort bei. „Wenn nicht, gehen wir mit diesem vergammelten Dreckeimer, diesem verrotteten Seelenverkäufer, alle Mann zum Teufel!“
„Wie nennt ihr mein Schiff?“ schrie Joslin. „Parbleu, das werdet ihr noch schwer bereuen.“ Er vollführte eine Körperdrehung, lehnte sich mit dem Rükken gegen den Kolderstock und hielt ihn auch weiterhin mit der linken Hand fest, tastete mit der rechten jedoch nach seiner Steinschloßpistole, die in seinem Hosengurt steckte.
„Ziehen Sie bloß nicht die Pistole!“ warnte Slacks.
„Sei vorsichtig, Capitaine!“ brüllte Calderazzo und fuhr mit der Hand unters Hemd. Joslin wußte, daß er dort, in einem kleinen Futteral aus Schweinsleder, das er an einem Schulterriemen trug, das Messer hatte.
„Drohen wollt ihr mir also?“ René Joslin stieß einen wilden Fluch aus und zückte die Pistole. Er spannte den Hahn und richtete die Waffe auf Slacks, den er in diesem Moment für den übleren Kerl von beiden hielt.
Als Slacks sich auf ihn stürzen wollte, riß der Franzose, ohne zu zögern, den Abzug durch.
Er hatte selbst schon mit dem Gedanken gespielt, eine geschützte Bucht anzusteuern. Aber das ließ er sich von seiner Mannschaft nicht vorschreiben. Jetzt, da Slacks und Calderazzo mit der direkten Forderung auf ihn zugetreten waren, schaltete er auf stur.
Und wenn das Ruder und die Masten hundertmal brachen und auch die „Malipur“ samt ihren fünfzehn Männern geradewegs in die Hölle fuhr, Joslin würde sich niemals dem Druck beugen, den die beiden auf ihn auszuüben dachten. Ließ er es zu, daß sie ihm etwas auferlegten, war es mit seiner Autorität als Kapitän für alle Zeiten aus und vorbei.
Lieber starb er, als eine Meuterei auf seinem Schiff ausbrechen zu lassen. Aber dich nehme ich noch mit auf die lange Reise ins Jenseits, du Hund, dachte er, während er den aufschreienden Slacks über den Lauf der Pistole hinweg anstarrte und auf das Krachen des Schusses wartete.
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