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»Wofür soll das gut sein?«, fragte Rob, als Mark eine kurze Pause einlegte.
»Kann ich noch nicht sagen. Ich werde es spätestens dann merken, wenn das Ding anfängt, im Rechner was kaputt zu machen.«
»Willst du das Programm nicht entfernen?«
Mark zündete sich eine neue blauberingte Zigarette an, blies eine süßliche Qualmwolke in die Luft und lächelte. »Das sind genau solche Herausforderungen, an denen ich nicht vorbeikomme. Aber vielleicht entpuppt sich dieser Virus als eine harmlose Sache.«
»Dafür scheint das Ding zu intelligent gebaut. Meinst du nicht?«, erwiderte Rob.
Rob gruppierte sämtliche Objekte, gab den Polygonbegrenzungen eine einheitliche Linienstärke und speicherte ab. Er hatte leichte Kopfschmerzen von der ständigen Arbeit am Bildschirm. Zwar hätte er auch mit den Virtual Glasses arbeiten können, doch die damit verbundenen Steuerungsvorgänge behagten ihm nicht. Ein Blick auf die Uhr – schon wieder weit nach achtzehn Uhr. Eigentlich ging seine Arbeitszeit bis sechzehn Uhr. Dennoch kam er selten früher hier weg. Dabei durfte er sich als einer der wenigen fest angestellten Grafiker in der Agentur noch glücklich schätzen. Die meisten mussten sich als sogenannte Freie auf dem immer dünner werdenden Arbeitsmarkt durchschlagen.
Rob wollte seinen Rechner gerade in den Stand-By-Modus schalten, als ein Anruf einging. Marks stoppelbärtiges Gesicht erschien auf der Bildplatte. Seine Augen blickten verstört.
»Hallo, Rob«, sagte er. »Ich muss mit dir reden. Kommst du zu mir?«
»Ich habe eigentlich schon etwas vor.« Rob lehnte sich leicht zurück. »Es müsste schon etwas sehr Wichtiges sein …«
»Es ist verdammt wichtig«, erwiderte Mark schnell, und sagte dann beinahe flehend: »Bitte!«
»Okay, ich kann aber nicht lange bleiben. Auf diese Verabredung habe ich lange hingearbeitet.«
»Ich warte auf dich.« Mark lächelte gequält. »Danke!«
Mark wohnte in einem der Altbauviertel. Es stank nach Hundekot, an den Straßenrändern lagen Müllsäcke. Die Stadtreinigung hatte sich hier schon seit Monaten nicht mehr sehen lassen. Drei etwa zehnjährige Kinder standen am Ende der Straße und hielten einen großen Hund an der Leine. Der Köter kläffte ihn an. Die Kinder lachten und riefen Schimpfwörter. Rob ignorierte sie.
Mark hatte seine Wohnung im dritten Geschoss eines noch halbwegs intakt aussehenden Gebäudes. Die massive Wohnungstür war mit hellgrüner, schon abblätternder Farbe gestrichen. Dort, wo der Klingelknopf sein sollte, ragten zwei kurze Kabelenden aus der Wand. Mark hatte sich nie Mühe gegeben, aus dieser Wohngegend herauszukommen. Rob hätte es hier nicht ausgehalten. Er klopfte.
Mark öffnete die Tür und ließ ihn ein. Obwohl Rob das letzte Mal vor rund zwei Jahren hier gewesen war, hatte sich an der Einrichtung nicht viel geändert. Zentrum der Wohnung war das Wohnzimmer, in dem mehrere Rechner mit offenem Gehäuse ihren Platz hatten. Ein Tisch, drei alte Stühle und zwei Schränke waren lieblos im Zimmer aufgestellt.
Mark verschwand in der Küche und kam mit zwei riesigen Tassen Kaffee zurück. Seine Hände zitterten.
»Ich bin heute gekündigt worden«, sagte er plötzlich. »Fristlos! Laut Personalsoftware gelte ich als Risikofaktor für die Betriebssicherheit. Keine Ahnung, wieso. Entscheidungen der Personalsoftware stellt man nicht infrage. Das Mistprogramm wurde angeschafft, um die Korruption beim Personalmanagement einzuschränken. Jede größere Firma lasst ihre Personalentscheidungen über diese Software laufen. Sie berücksichtigt psychologische und physiologische Gutachten und das aktuelle Verhaltensmuster der betreffenden Person.«
»Du hast vier Jahre in dem Scheißladen gearbeitet!«, rief Rob. »Hast du keine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten?«
»Ich könnte einen Widerspruchsantrag einreichen. Doch bei solch einer Anschuldigung … Ich sehe kaum Chancen.«
»Warum? Man kann doch nicht einfach etwas behaupten, ohne dir eine Möglichkeit zur Richtigstellung zu geben.«
»Das Programm sorgt für ein Höchstmaß an Sicherheit. Ein Verdacht reicht aus, um deinen Job zu gefährden. Industriespionage zählt zu den häufigsten wirtschaftlichen Vergehen mit verheerenden Auswirkungen. Darauf reagiert eine Firma besonders empfindlich.
Ich habe zumindest einen Verdacht: Die Software wurde manipuliert! Ich habe dir doch von diesem merkwürdigen Virus erzählt. Hinter dem Ding steckt mehr, als ich dachte.«
Mark nahm einen Schluck Kaffee.
»Seitdem in Onlinesystemen dank der Einbindung von Werbeträgern keine Gebühren mehr anfallen, stehen die meisten Rechner in einem ständigen Kontakt mit dem Weltnetz. Der Virus nutzt diesen Zustand und kommuniziert über diese Verbindungen mit anderen befallenen Systemen. Das eigentliche Programm hinter dem Virus ist also viel größer, als ich dachte. Es ist vielleicht so gewaltig, dass es Intelligenz besitzen könnte!«
Rob starrte Mark fassungslos an. »Du spinnst!«
Mark schüttelte den Kopf. »Ich habe solche Programmstrukturen noch nie gesehen. Selbstregenerierend und in ein höheres System eingebettet. Einfach genial …«
»Aber welchen Zweck soll die Sache haben? Ein Spaß durchgeknallter Informatikstudenten?«
Mark schüttelte langsam den Kopf. »Es könnte vieles sein. Ein direkter Eingriff in unsere Privatsphäre, ein aus den Bahnen geratenes wissenschaftliches Experiment oder ein Megavirus mit eigener Intelligenz.« Mark lächelte traurig. »Such selbst heraus, was am wahrscheinlichsten ist.
Vielleicht ist einigen Leuten unangenehm, dass ich auf ihre Schliche gekommen bin. Das würde zumindest einiges erklären …«
Rob befand sich in einem völlig abgedunkelten Raum. Langsam streckte er seine Hände aus, in der Hoffnung, irgendwann auf ein Hindernis zu stoßen, um sich zu orientieren. Doch da war nur Leere. Vorsichtig begann er, Schritt um Schritt nach vorn zu gehen. Die Hände nach vorn haltend spürte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Eine merkwürdige Stille, die wie Samt in seinen Ohren lag, verstärkte sein Gefühl der Unsicherheit.
Plötzlich hatte er den Eindruck, durch feine Spinnennetze zu gehen. Ein unkontrollierbares Schütteln zuckte durch seinen Körper, und er wischte sich hektisch über sein Gesicht, um die klebrigen Fäden abzustreifen. Das Gefühl erinnerte ihn an seine Kindheit, als er mit den Eltern jeden Herbst Pilze suchen war. Die Spinnweben zwischen den Bäumen hatten ihm den Spaß verdorben, sodass er später nur noch widerwillig mitkam.
Ein seltsamer, aber vertrauter Geruch geriet ihm in die Nase. Er machte noch einige Schritte nach vorn und spürte einen leichten Luftstrom auf seinem Gesicht. Jetzt konnte er auch den Geruch bestimmen. Es war der intensive Gestank nach frischem Blut. Sein Herz begann zu rasen.
Plötzlich brach den Boden unter seinen Füßen weg. Kopfüber, mit den Händen ins Nichts greifend, fiel er in die Dunkelheit.
Rob spürte einen schmerzhaften Aufschlag und erwachte neben seinem Bett. Ein lautes Summen zeigte einen dringenden Anruf an, der in der Warteschleife lag. Er stand auf, rieb sich die schmerzende Schulter und bestätigte den Anruf. Das Gesicht einer hageren, etwa vierzigjährigen Frau mit halblangen, schwarzen Haaren und einem dünnlippigen Mund erschien auf dem Schirm. Er schaute auf den Link der Statuszeile. Polizeidistrikt 8 war dort zu lesen. Da Rob von seiner Seite den Bildkanal deaktiviert hatte, streckte er ihr die Zunge heraus.
»Was gibt’s?«, fragte er.
»Sind Sie Rob Halberg, derzeit bei ComSatz beschäftigt?«
»Worum geht es?«
»Kennen Sie Mark Kalik?« Ihr Gesicht zeigte keine Regung.
»Wir sind befreundet. Ist was passiert?«
»Mark Kalik wurde heute Morgen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Ein Nachbar hörte laute Schreie und informierte die Polizei.« Sie schaute plötzlich in die Kamera, als würde sie ihn tatsächlich sehen. »Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Herrn Kalik?«
Rob schlug es heiß ins Gesicht, sein Magen krampfte sich zusammen. »Gestern Nachmittag«, sagte er einen Augenblick später. »Er wollte mir …« Rob stockte. »Wie ist es passiert?«
»Hirntod«, antwortete die Frau. »Wir fanden ihn an einen Rechner gekoppelt. Reizüberflutung.« Sie lächelte kurz. »Wir benötigen Ihre Aussage. Fünfzehn Uhr, Polizeidistrikt acht. Möglicher Verdienstausfall wird Ihnen erstattet.«
Die Verbindung endete abrupt und machte einem Werbespot über Speichermedien Platz.
Rob lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er konnte es nicht glauben. Mark tot – einfach so, von heute auf morgen? Ihn überkam Übelkeit. Er lief ins Bad, konnte sich jedoch nicht übergeben. Heftig atmend hockte er vor dem Toilettenbecken. Er musste etwas unternehmen.
Einige Sekunden lauschte er an Marks Tür. Von drinnen war kein Geräusch zu vernehmen. Er zog den Schlüssel, den er von Mark für Notfälle bekommen hatte, aus der Manteltasche und schloss leise die Tür auf. Die Wohnung machte, von einem süßlichen Geruch abgesehen, einen unveränderten Eindruck. Rob lief ins Wohnzimmer. Ein Rechner war umgekippt und der spinnenartige Sensorhelm lag auf dem Boden. Daneben waren die Umrisse von Marks Körper angezeichnet. Ein Bildschirm lief noch und zeigte fliegende Toaster.
Im Laufwerk des umgekippten Rechners entdeckte er den gleichen Datenträger, den Mark ihm ausgeliehen hatte und auf dem sich die 3-D-Simulation befand. Rob suchte den Raum nach schriftlichen Aufzeichnungen ab, konnte jedoch nichts finden. Vermutlich hatte die Polizei alles Wesentliche mitgenommen.
Er stellte den umgekippten Rechner wieder auf und schaltete ihn ein. Der Speicher wurde hochgezählt und das Betriebssystem geladen. Rob setzte sich, befestigte den Sensorhelm am Kopf und startete die Simulation. Es konnte kein Zufall sein, dass sich gerade dieser Datenträger im Laufwerk befand. Als das Programm in sein Nervensystem griff, hatte er einen Augenblick das Gefühl, schwerelos zu sein. Sein Blickfeld wurde weich überblendet, er vernahm leichtes Rauschen.
Wie aus diffusem Nebel entstand eine Landschaft um ihn. Er fand sich in einem Wald mit gewaltigen, moosbewachsenen Bäumen wieder. In der Ferne war das Gekreisch von Vögeln zu vernehmen. Hin und wieder brach die Sonne durchs Blätterdach und warf fächerartige Lichtsäulen auf den Boden. Rob fühlte den feuchten Boden unter seinen Füßen und das Gekrabbel von Insekten. Er war nackt. Mit zögernden Schritten begann er sich durch Büsche mit großen fleischigen Blättern zu kämpfen. Die mächtigen Bäume standen weit auseinander und waren am Fuß von Schlingpflanzen umwuchert. Rob spürte, wie ihm etwas auf den Rücken spritzte. Er fasste nach hinten und berührte eine klebrige Substanz. Als er die Hand nach vorn nahm, klebte an seinen Fingern schmieriger violetter Schleim.
Er lief eine lichtdurchflutete Schneise entlang. Diese Simulation sollte sich Mark ausgedacht haben? Sie war unglaublich detailliert, fast schon real. War das der seltsame Virus, mit dem sich Mark in den letzten Tagen beschäftigt hatte? Eine künstliche Intelligenz? Hatte etwa der Virus Mark umgebracht, oder waren es die Leute, die hinter dem Programm standen? Absurd!
Rob hielt inne. Vor sich erblickte er eine Lichtung. Gleißendes Sonnenlicht fiel auf eine pyramidenähnliche Konstruktion. Hellbraune verwitterte Steine waren zu einem etwa vier Meter hohen Bauwerk aufgeschichtet. Ein enger Eingang führte in unergründliche Dunkelheit. Direkt vor dem von schmalen Steinplatten umrahmten Eingang entdeckte er eine bewegliche Bodenplatte und am Rande der Pyramide einen schweren Stein. Mühsam schleppte er ihn vor den Eingang und ließ ihn, während er gleichzeitig zurücksprang, auf die Platte fallen. Es gab ein Geräusch wie von austretendem Gas. Einige Sekunden verharrte Rob regungslos, dann bemerkte er, dass das Innere der Pyramide jetzt erleuchtet war.
Gebückt betrat er den Eingang. Verwesungsgeruch schlug ihm entgegen. Rob ging Schritt für Schritt in das Gebäude hinein. Der Gang wurde nach hinten breiter und höher. An den Wänden brannten von Gas versorgte Fackeln. An seinem Ende weitete sich der Korridor zu einem größeren Raum. Behutsam betrat er das kuppelförmige Zimmer. Vom Zentrum der Decke hing eine milchige Kugel, aus der warmes Licht strömte. Die nach innen gewölbten Wände waren mit großflächigen farbigen Zeichnungen verziert, zumeist in Rot und Schwarz gehalten. Rob fuhr zusammen.
Die Bilder zeigten sterbende Menschen. Obwohl nur angedeutet, sah man den Gesichtern Schmerz und Entsetzen an. Von allen Seiten stürzten sich haarige Riesenspinnen auf die Menschenopfer. In Rob keimte ein entsetzlicher Verdacht. So schnell wie möglich musste er von hier verschwinden. Da gab der Boden unter seinen Füßen nach. Beinah gemächlich schwangen sechs spitz zulaufende Segmente nach unten und gaben den Blick auf eine dunkle Grube frei. Es raschelte leise.
Er brüllte auf, als er den Halt verlor, der Länge nach auf den harten Stein fiel und langsam von der Steinplatte rutschte. Rob stürzte zwei Meter tief und fiel auf Hunderte haariger Körper, eine Matte aus handgroßen Spinnen. Er versuchte aufzustehen, doch die Tiere krabbelten über seinen Körper, zwängten sich mit ihren hornigen Beinen zwischen seine Lippen und drangen ihm tiefer in Mund und Hals.
Rob spürte, wie er seine Kraft verlor. Seine Arme, mit denen er sich hochzustemmen suchte, zitterten. Mit letzter Energie brüllte er QUIT.
Rob sackte in sich zusammen, als sich sein Gehirn vom System löste. Er riss sich den Sensorhelm vom Kopf und warf ihn beiseite. Noch immer zitterte er am ganzen Körper, kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Plötzlich überlief es ihn heiß. Sein Blick fiel auf sein heimisches Arbeitszimmer. Auf dem Monitor stand GAME OVER.
Rob öffnete seine Adressdatenbank und klickte auf Marks Videoverbindung.
»Der Teilnehmer ist zurzeit nicht verfügbar. Versuchen Sie es später noch einmal«, meldete eine synthetische Frauenstimme nach wenigen Augenblicken. »Danke, dass Sie Videotec Vision als Übertragungssoftware benutzt haben.«
Rob stand auf, zog sich seinen Mantel über und ging auf die Straße. Kalter Wind peitschte gelbbraune Herbstblätter über den Fußweg. Die Straße war seltsamerweise fast menschenleer, nur ein Motorradfahrer fuhr langsam am Straßenrand entlang. Rob trafen einige Regentropfen. Er blickte nach oben und sah aufgewühlte dunkle Wolken über den Himmel ziehen. Er blieb schlagartig stehen. Diese Wolkenbewegungen kannte er. Zu exakt, um real zu sein. Um ihn begann sich alles zu drehen, seine Beine rutschten unter ihm weg. Erneut rief er QUIT.
Als die Überblendung sein Blickfeld freigab, sah er Hunderte von Spinnen sich in sein Fleisch graben. Zuckende Wölbungen bewegten sich langsam unter seiner Haut vorwärts und fraßen. Dumpf spürte er einen sich ausbreitenden Schmerz im ganzen Körper.
Er schloss die Augen und ließ sich zurückfallen. Eine schwere Müdigkeit erfasste ihn und drängte alle anderen Empfindungen zurück. Er wollte sich nur ausruhen, alles von sich abstreifen.
Rob versank in einer warmen, weichen Dunkelheit.
Welt Gottes
Als ich auf dem Raumhafen eintraf, ahnte ich nicht, was mich erwartete. Eine milde Herbstsonne lag über der Ebene. Das Schiff war bereits gelandet. Es stand in der äußersten Ecke des Landefeldes, so mit Ruß überzogen, dass es schwerfiel, die Kennnummer zu entziffern. Gerade kam der Bus, der die von WELT GOTTES zurückkehrenden Reisenden von der Raumfähre zum Terminal brachte.
Er wurde von den Pilgern, die durch ihre auf unterschiedliche Konfessionen hinweisende Kleidung gekennzeichnet waren, begeistert empfangen. Die meisten knieten nieder, als die Rückkehrer den Bus verließen. Ihre Gewänder leuchteten in der Sonne.
»Seid gegrüßt, Pilger Gottes«, dröhnte eine lautsprecherverstärkte Stimme über den Platz. »Kniet nieder, empfangt den Segen des unermesslichen Geistes! Wer fest im Glauben ist, den nimmt Gott auf und verzeiht ihm seine Sünden …«
Ein Ankömmling, der gestikulierte, wurde von Pilgern umringt. Manche knieten nieder, einige warfen sich zu Boden. »Ich bringe euch die Gnade, deren ich teilhaftig geworden bin.«
Die Rückkehrer mussten etwas Überwältigendes erlebt haben. Mein Auftrag schien interessant zu werden.
»Schau nur, Michael, diese Verrückten.« Bernard Pelot, als Ressortchef mein direkter Vorgesetzter, zog seinen unförmigen Hut noch tiefer ins Gesicht. »Eine heiße Sache, dein erster Auftrag. So etwas hätte ich mir damals für mich gewünscht – anstatt einer Reportage über die Bewältigung der Todesangst bei Hellsehern. Aber das hier! Religiöse Fanatiker und ein ungelöstes kosmisches Rätsel. Delvon muss einen Narren an dir gefressen haben.« Er lächelte mich an, seine gelbfleckigen Zähne wurden sichtbar. »Ein Tipp, Michael. Halte Augen und Ohren offen, frage sie aus bis aufs Hemd, aber lass dich auf keine Streitgespräche ein. Die sind dazu fähig, deinen Körper der kosmischen Kälte zu opfern.«
Er gab mir einen kräftigen Schlag auf den Rücken. »Komm mir gesund wieder!«
Die Pilger wiesen jeden Versuch ab, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie widmeten sich ausschließlich ihren Gebetsriten und versenkten sich in Meditation. Ich musste, wenn ich mich unterhalten wollte, mit zwei Geschäftsreisenden vorlieb nehmen oder konnte mir von einem Serviceroboter die technischen Details des Schiffes erklären lassen.
Ich sehnte das Ende des Fluges herbei. Auch nach drei Wochen hatte ich mich nicht an das Dröhnen der Generatoren gewöhnt, das bis in die Schlafkabinen drang und mir Albträume bescherte. Drei Wochen? Einer Vorahnung folgend, befragte ich meinen Kommunikator – und erschrak. Bis zum Austritt aus dem Überraum waren es vierzig Sekunden … Ich hatte gerade noch Zeit, mich anzuschnallen, als grelles Übergangslicht meine Augen blendete. Der Pilot hatte vergessen, das Warnsignal auszulösen.
Nach dreißig Sekunden hatten wir den Überraumsprung hinter uns. Ich erhob mich, stellte einen heruntergefallenen Blumentopf mit künstlichem Venustau auf den Tisch zurück und betrat den Hauptgang. Es herrschte ein vollkommenes Durcheinander. Die Hälfte der Leuchtkugeln war erloschen und der Boden von Ölflecken bedeckt. Reinigungsroboter konnte ich nirgends entdecken. Die Pilger liefen einander um und drängten sich vor dem Zentralmonitor, um einen Blick auf WELT GOTTES zu werfen. Der Planet glich einem blassen, milchigen Ball, in den man eine weißglühende Nadel gestochen hatte: ein Energiestrahl von mehr als zwanzig Kilometern Durchmesser, der sich weit in die Tiefen des Weltraums erstreckte. Obwohl schon etliche Raumschiffe über Jahre hinweg seinem Lauf gefolgt waren, hatten sie seinen Ausgangspunkt nicht erreicht.
Schmerzhaft hin und her gestoßen und von den emsig umherlaufenden Pilgern vom Zentralmonitor weggedrängt, kam ich mir inmitten dieser geballten Ansammlung von Frömmigkeit ziemlich überflüssig vor. Ich quetschte mich durch die Menschenmenge und lief zum Speisesaal.
Als die Fähre landete, wurde es gerade dunkel. Der Himmel war wolkenverhangen und schien uns jeden Augenblick mit Regen überschütten zu wollen. Obwohl heftiger Wind blies, war die Luft heiß und schwül.
Wegen des Sandsturms war der Hafentransporter, der uns zum Abfertigungsgebäude bringen sollte, kaum zu erkennen. Hinter trüben Fensteröffnungen bewegten sich dunkle Gestalten. Die Pilger begannen, eine mit Schmutz verkrustete Metalltreppe hochzuklettern. Ich folgte als Letzter und bekam bei jedem Schritt meines Vordermannes eine Ladung Dreck ins Gesicht. Oben warteten Serviceroboter und führten uns zu abgewetzten Sitzen. Einer der Roboter trat zu mir.
»Mr. Lorenz? Michael Lorenz?«
Ich nickte. »Richtig!«
»Ich bin be-beauftragt, Sie als Be-berater und Führer auf WELT GOTTES zu be-begleiten.«
Ich blickte an seinem Gehäuse hinunter und bemerkte Rostflecken und kleinere Löcher. An einer Hand fehlten zwei Finger.
»Was soll das?«, fragte ich verärgert. »Warum wird mir kein menschlicher Begleiter gestellt?«
Ein klägliches Knacken erklang aus der Lautsprecheröffnung, bevor er antwortete: »Schon während des Au-aufbaus der Station kam man zur Einsicht, dass es keinem menschlichen Wesen zuzumuten ist, längere Zeit auf diesem Himmelskörper zuzubringen.« In seinem Inneren rasselte etwas. »Übersinnliche Er-erscheinungen haben unvorhersehbare Reaktionen bei den Stationsmitarbeitern au-ausgelöst. Deshalb …«
»Das ist die dümmste Ausrede, die ich je gehört habe«, gab ich zurück. »Bei ausreichender Motivation finden sich für jeden Job die richtigen Leute. Es zieht doch genügend Pilger hierher!«
»Es ist …« In seinen elektronischen Eingeweiden rumorte es, Zahnräder knackten, er verstummte. Aus seiner Ohrimitation stieg eine kleine Qualmwolke. Als er sich nach einer halben Minute immer noch nicht rührte, lehnte ich mich zurück.
Zwei Stunden später hielt der Transporter vor einem Gebäudekomplex, der aus dunklen Gesteinsplatten zusammengesetzt war. Die Roboter drängten uns von den Plätzen und folgten beim Aussteigen. Wir betraten eine notdürftig ausgebesserte Straße. Die ehemals glatte Oberfläche war aufgebrochen und zum Teil zugeweht. In der Station schaltete jemand die Außenscheinwerfer ein, um uns die Orientierung zu erleichtern. Der Eingang, eine große ovale Tür, öffnete sich einen Spaltbreit. Für einen Augenblick legte sich der Wind, und wir kamen schnell ins Innere. Ein Androide neuester Bauart empfing uns mit warmer, weicher Stimme.
»Willkommen auf WELT GOTTES. Diese schon zweihundert Jahre alte Station ist für die nächsten Stunden Ihr Quartier. Sie können sich in dieser Nacht noch einmal auf sich selbst besinnen, bevor Sie morgen der Manifestation Gottes gegenübertreten. Der Marsch nimmt, je nach körperlicher Verfassung, vier bis fünf Stunden in Anspruch. Sollten Sie während des Aufenthaltes in dieser Station zu der Überzeugung gelangen, vom Pilgermarsch zurücktreten zu wollen, ist es möglich, die Zeit bis zur Rückreise hier zu verbringen.«
Fünf Stunden Fußmarsch! Warum hatte mir Bernard Pelot kein Wort davon gesagt? So schlecht waren die Vorrecherchen doch sicherlich nicht, dass er nichts davon gewusst haben sollte. Ich war nahe daran, mir zu wünschen, man hätte diesen Auftrag einem anderen vermacht.
Ich rief den mir zugeteilten Roboter und ließ mich zu meinem Zimmer führen. Ein großes Fenster ermöglichte den Blick auf den windumtosten Transporter, der verlassen vor der Station stand. O Gott, das Wetter schien noch schlechter zu werden.
Ich legte mich hin und versuchte, zu schlafen. Das ständige Flüstern von Bibelzitaten aus dem Bibelspender ließ mich keine Ruhe finden. Es würde erst dann verstummen, wenn man für einen deftigen Preis eine der schlechtgedruckten Bibeln gekauft hatte. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, und nach einer Weile taten mir sämtliche Knochen weh. Der Roboter stand in einer Ecke und funkelte mit seinen Kontrolllampen.
»Eine Partie Schach?«, fragte ich und schaltete das Licht wieder ein.
Am nächsten Tag erwachte ich samt Spielbrett und Schachfiguren im Bett. Der Roboter befand sich nicht mehr im Zimmer. Nach dem Waschen meldete sich mein Magen, und ich machte mich auf den Weg zum Speisesaal. Bei meiner Suche lief mir einer der Pilger über den Weg. Bisher war er mir wie die anderen aus dem Wege gegangen, jetzt warf er mir einen seelsorgerischen Blick zu und trat näher. »Sie scheinen allein angereist zu sein.« Seine Stimme klang rau. »Kommen Sie doch zu uns und schließen sich der Gruppe an.«
»Das würde ich gern.« Ich versuchte mit einem verunglückten Lächeln, ein wenig von seiner Liebenswürdigkeit zurückzugeben, und reichte ihm die Hand. Wirklich, es wurde höchste Zeit, etwas für meinen Artikel zu tun. »Ich bin Michael Lorenz.«
»Harlan«, sagte er und erwiderte meinen Händedruck.
Ich aktivierte unauffällig mein Multifunktionsaufnahmegerät und folgte ihm durch die schlecht beleuchteten Gänge. Im Speiseraum herrschte reger Betrieb. Hier entdeckte ich auch meinen Roboter wieder. Er war mit Küchenarbeiten beschäftigt und bemerkte mich nicht. Harlan lief zu einem großen Tisch, an dem etliche Pilger ihr Frühstück verzehrten, und stellte mich vor. Ich zog mir einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte mich.
»Ich bin von der Vereinigung VERKÜNDER DER GROSSEN WIEDERKEHR«, flüsterte mir jemand ins Ohr. »Ich hoffe, hier Antwort auf all unsere Fragen zu finden.«