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Georg machte einen Bogen um die Menge und verschwand in einer Seitengasse. Laute Musik tönte über ihm. Sie kam aus einem der wenigen werbefreien Fenster, das weit geöffnet war und hinter dessen Scheiben helles Licht brannte.
Durch die laute Musik drang Geschrei. Eine männliche aggressive Stimme und die erregte Antwort einer Frau.
Da hatte jeder Mensch nur noch wenig mehr als zwei Tage zu leben, und diese Leute wussten nichts Besseres zu tun, als sich anzubrüllen. Aber vielleicht löste dieser besondere Zustand angestaute Aggressionen. Das nie Ausgesprochene, ständig Verdrängte entlud sich in den letzten möglichen Augenblicken.
Georg ging weiter. Der Streit schien beendet, nur das Rumoren der Musik drang noch an sein Ohr. Aus den Augenwinkeln bemerkte er das Aufflammen der Treppenbeleuchtung. Wenige Sekunden später verließ eine mit einem dunklen Mantel bekleidete Frau den Hauseingang. Ihr blondes, halblanges Haar war ein unsteter Lichtfleck in der Finsternis. Georg folgte ihr.
Ein quälender Druck stieg in ihm auf. Ein verzweifeltes Gefühl, das seinen Weg nach oben suchte. Es pochte als heißes Blut in den Schläfen und fand sich als kalter Schweiß auf seinen Handflächen.
Georg näherte sich der Frau, die schnell vor ihm herlief. Ein schwacher Duft erreichte ihn. Ihr Parfum! Drei hastige Schritte, und er packte sie von hinten. Georg fühlte einen warmen, weichen Körper, während sich die Frau heftig wehrte und mit den Ellenbogen nach hinten stieß. Als sie anfing, um Hilfe zu rufen, verschloss er ihr mit einer Hand den Mund. Mühsam zwang er sie auf den Boden und rollte sie herum. Seine Hand wanderte zwischen ihre Beine, riss die Kleidung beiseite. Dann wälzte er sich auf sie, presste seinen Körper auf ihren zitternden Leib, der sich in hilfloser Gegenwehr aufbäumte. Dabei blickte er in ihre weit aufgerissenen Augen, in denen sich winzige Lichtpunkte spiegelten.
Georg spürte ihre Haut auf der seinen und vermochte dennoch nichts zu empfinden. Sein Drängen war ein gefühlloses Aneinanderreiben von Fleisch. Es gab nichts Warmes an dieser Bewegung. Sosehr er sich auch mühte, es ging nicht. Er ließ von ihr ab, fiel zur Seite. Die Frau kroch sofort zur Hauswand und zog die Knie an. Ihr Gesicht zeigte blasse rote Flecken.
4
Die Erstarrung überfiel Sabine in dem Augenblick, als sie die Beine hochzog. Ihr Körper verlor jegliches Gefühl, der Schmerz verwandelte sich in dumpfes Unbehagen. Was hatte ihr der Selbstverteidigungskurs vor einem halben Jahr eingebracht? Ganz automatisch hätten die Reaktionen ablaufen müssen. Eintrainierte Bewegungen. Alles Unsinn! Das funktionierte vielleicht bei anderen.
Doch was war in diesem Augenblick noch wichtig? Auch Robert, dem sie vorhin entflohen war, hatte versucht, sie gegen ihren Willen zu nehmen.
In ihren Gedanken tauchte mit einem Mal Eileen auf. Sie war der wichtigste Halt für sie in den letzten drei Jahren. Wichtiger noch als ihre Eltern oder einer der Männer, die sie kannte. Doch der Kontakt zu Eileen war schon vor Monaten abgebrochen. Ein unsinniger Streit, etwas Belangloses. Der Gedanke schmerzte, dass sie sie nie wiedersehen würde. Doch irgendwie war sie sicher, dass auch Eileen in diesem Augenblick an sie dachte. Dass sie trotz der fehlenden Versöhnung ein Gefühl der Wärme verband.
Sie blickte auf und starrte den Mann an. Fast regungslos hockte er da und rieb seine Finger. Der Anblick ließ seltsame Gefühle in ihr aufkommen.
5
Er hörte, wie sie Beschimpfungen murmelte. Leise und monoton, als wäre sie sich dessen nicht bewusst. Als sie merkte, dass er ihren Blick erwiderte, wich sie ihm aus und zog die Knie noch ein Stück höher.
»Ich wollte das nicht …«, flüsterte er und hatte das Gefühl, nur unverständlich zu stammeln.
»Scheißkerl!«, Ihre Stimme war heiser. »Scheißkerl!«
Georg musterte ihr Gesicht. Trotz des Überfalls strahlte es eine ungewöhnliche Weichheit aus. Es verwirrte ihn.
»Machst du so etwas öfter?«, fragte sie mit gefassterer Stimme.
Georg schüttelte den Kopf.
»Du hast noch nie mit einer Frau geschlafen«, sagte sie so sicher, als wäre es auf seine Stirn geschrieben.
Georg sog die warme Nachtluft durch die fast geschlossenen Lippen. Was konnte ihm das Geständnis angesichts des bevorstehenden Endes noch ausmachen? Sein Nicken war eine kaum merkliche Bewegung.
Er beugte sich nach vorn, um den aufkommenden Schmerz zu dämpfen. Ein Schmerz, der, von den Augen ausgehend, sich über den ganzen Kopf ausbreitete. Wellen quälender Hitze.
»Was hast du?«, hörte er ihre Stimme. Georg blickte auf und sah, wie sie ihm die Hand entgegenstreckte. Als sie ihn berührte, war er erstaunt über die Rauheit ihrer Finger.
6
Lautes Gebrüll war auf einmal zu hören. Georg blickte sich um und sah eine Gruppe Jugendlicher von der Kreuzung her kommen. Sie schlugen mit Eisenstangen auf abgestellte Fahrzeuge ein und warfen Steine gegen Fenster.
»Komm!«, rief er und stand auf. Seit letztem Monat warnte man vor den sich überall bildenden Jugendbanden. Sie durchstreiften ganze Stadtbezirke, verprügelten Passanten oder schossen auf sie und plünderten Geschäfte.
Georg beugte sich zu ihr hinunter. Bewegungslos hockte sie am Boden.
»Wir müssen hier weg«, drängte er. »Die schlagen uns sonst zu Tode.«
»Geh, hau ab!«, erwiderte sie.
Er fasste ihre Hand und versuchte sie hochzuziehen. Als sie sich losreißen wollte, traf ein kleiner Stein ihre Stirn. Sie zuckte zusammen. Er packte ihren widerstrebenden Körper und zog sie empor. Ein Stein traf ihn schmerzhaft auf den Rücken, die Schreie kamen näher. Da begannen sie, zu laufen. Steine und Feuerwerkskörper sausten an ihnen vorbei oder trafen auf die Häuserwände.
Georg war ausdauerndes Laufen nicht gewohnt. Es dauerte nicht lange, und seine Beine wurden langsamer und das Atmen zur quälenden Herausforderung. Die Stelle, an der ihn der Stein getroffen hatte, begann stärker zu schmerzen. Sie hatte mehr Energie in sich, ihr Atem klang ruhig und gleichmäßig.
Als er bemerkte, dass die Schreie leiser wurden, drehte er sich um und sah, wie der Mob in eine andere Straße einbog, einem lohnenderen Ziel entgegen. Er trat zu der Frau, die in einiger Entfernung wartete. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander. Der Gestank nach Verbranntem lag in der Luft. Plötzlich erlosch die Straßenbeleuchtung.
»Fassen Sie mich an«, sagte sie.
Er tastete nach ihr und traf ihre ausgestreckte Hand. Langsam gingen sie im Dunkeln weiter. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, schwach traten die Umrisse der Umgebung hervor. Sie passierten eine Kreuzung und kamen auf einen breiten Fußweg. Rechts von sich hörten sie zwei Männer miteinander reden. Ohne einen Laut schlichen sie an ihnen vorbei und hatten nach etwa hundert Metern die düstere Silhouette einer Parkanlage vor sich.
»Bleiben wir hier!«, sagte sie. »Wir können im Park übernachten. Die Temperatur ist völlig ausreichend.«
7
Wärmende Sonnenstrahlen auf dem Gesicht, erwachten sie mückenzerstochen am nächsten Morgen. Aus einem der ausgeplünderten Läden um das Parkgelände besorgte Georg etwas zum Essen. An mehreren Stellen der Stadt stiegen tiefschwarze Rauchfahnen zum Himmel. Es herrschte eine merkwürdige Stille. Wie ein zum Zerreißen gespanntes Band, das jeden Augenblick die Grenze der Belastbarkeit überschreiten konnte, schwebte sie über der Stadt.
Der Tag verging, während sie den großflächigen Park erkundeten, mit anderen Personen ins Gespräch kamen, sich von einem heftigen Regenschauer durchnässen und von der Sonne wieder trocknen ließen.
Georg hatte schon lange nicht mehr so viel Zeit für sich gehabt. Es gelang ihm sogar, nicht ständig an den die Erde bedrohenden Asteroiden zu denken.
Als es Nacht wurde, durchkämmte eine der Jugendbanden das Gelände. Georg verharrte mit Sabine in dichtem Gebüsch und wartete.
Später, als der letzte Schein der Sonne vom Horizont verschwunden war und der wolkenfreie Himmel eine unendliche Tiefe gewonnen hatte, in der schwach die Sterne funkelten, saß Georg mit ihr auf einem Flecken Gras, umgeben von Büschen und Bäumen. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Nur schwach vermochte er die Umrisse ihres Gesichts auszumachen.
»Mir wird kalt«, sagte sie, umfasste seine Hand und zog ihn zu sich. Er näherte sich langsam ihrem Gesicht, ohne zu begreifen was geschah. »Du verdammter Idiot«, flüsterte sie, bevor sich ihre Lippen vorsichtig berührten. Er spürte Wärme und Weichheit, ertastete zärtlich ihren Körper. In der Nähe fielen plötzlich Schüsse, Leuchtkugeln tauchten die Umgebung in rot-grünes Licht. Irgendwo riefen Leute.
8
Sie schwieg, streichelte sein Gesicht und verwischte die Tränen. Er spürte die Bewegungen ihrer Finger auf seinem Rücken, wie sie seine Haut liebkosten. Seine Hand, die auf ihrem Bauch lag, fühlte die Bewegungen ihres Körpers, sein Auf- und Abschwingen bei jedem Atemzug. Ein Gefühl, das ihn beruhigte und nach einer Weile ganz und gar erfüllte.
Er betrachtete ihr Gesicht. Mit geschlossenen Augen lag sie da, die Arme von sich gestreckt. Nur ihr ruhiger werdender Atem war noch zu hören.
Ringsum herrschte absolute Stille.
Er blickte auf.
Zwischen zwei Bäumen sah er den Stern den Horizont berühren.
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