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DEINE MUTMACHERIN
ILONA FRIEDERICI

Alle Rechte vorbehalten.
Außer zum Zwecke kurzer Zitate für Buchrezensionen darf kein Teil dieses Buches ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag nachproduziert, als Daten gespeichert oder in irgendeiner Form oder durch irgendein anderes Medium verwendet bzw. in einer anderen Form der Bindung oder mit einem anderen Titelblatt als dem der Erstveröffentlichung in Umlauf gebracht werden. Auch Wiederverkäufern darf es nicht zu anderen Bedingungen als diesen weitergegeben werden.
Copyright der ersten Auflage © 2018 Pro BUSINESS GmbH, erschienen unter dem Titel »Deine Mutmacherin.de« mit der ISBN 978-3-86460-860-5
Copyright © 2021 Verlag »Die Silberschnur« GmbH
ISBN: 978-3-89845-663-0
eISBN: 978-3-96933-996-1
1. Auflage 2021
Lektorat: Birgit Rentz
Illustrator der Bilder auf Seite 123 und 188: Fred Fuchs
Gestaltung & Satz: XPresentation, Güllesheim
Umschlaggestaltung: XPresentation, Güllesheim; unter Verwendung eines Motivs von © Velychko Viktoriia; www.shutterstock.com
Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstr. 1 · 56593 Güllesheim
www.silberschnur.de · E-Mail: info@silberschnur.de
INHALT
Prolog
So fing alles an
Rettende Engel
Wie lerne ich einen Menschen wirklich kennen?
Bietet Geld Sicherheit?
Honey
Mein ICH-Büchlein
Die Meeresschildkröte
Stau auf der A7
Loslassen können
Ein schöner Geburtstag
Wann sind wir alt?
Wertschätzung
Ein Lächeln hellt die Seele auf
Ist das Seelenverwandtschaft?
Die Mutmacherin
Vergleiche
Was denken die anderen?
Wann ist es wichtig, mutig zu sein?
Was kann an einer Krankheit schon gut sein?
Ist ein Tor ohne Torwart langweilig?
Der Angsthase in der Bärenhöhle
Wie das Schicksal es manchmal so will
Ist hübsch zu sein immer gut?
Posties
Macht Geld glücklich?
Mokkapudding
Visionswand
Denken wie ein Kind
Mein Sonnenschein
Das Glücklichsein kannst du nicht delegieren
Glaube und Vertrauen oder Angst
Körperhaltung und Gefühle
Was können wir allein bewegen?
Das Straßendinner
Was können wir gemeinsam bewegen?
Herr Nilsson
Nachwort
Danksagung
Die Autorin
Dieses Buch ist in Liebe meinen Kindern
Nina und Pascal gewidmet.
PROLOG
Hallo du – ja du, lieber Leser.
Bist du auch ein Mensch? Jemand, der mal Fehler machen darf? Der menschelt, wie ich es nenne? Jemand, der sich schon öfter geirrt und auch mal falsche Entscheidungen getroffen hat, der schon mal auf die Nase gefallen und wieder aufgestanden ist, sich zurechtgezupft hat und dann weitergegangen ist? Der einen Weg auch ein zweites Mal gegangen ist, weil er nicht aufgeben oder einsehen wollte, dass der zuvor beschrittene Weg der falsche war? Oder bist du jemand, der einen anderen, vielleicht ganz neuen Weg geht?
Bist du so schön unperfekt wie ich? Dann herzlich willkommen!
Als Kinder haben wir alle danach gestrebt, die Welt zu entdecken, und dabei unter anderem erst einmal laufen gelernt. Unermüdlich haben wir uns an der Tischkante hochgezogen – oder am Knie der Mama. Oder wir haben uns an anderen vertrauten Personen festgehalten. Wir haben nicht aufgegeben, bis wir endlich auf den Füßen standen und langsam vorwärtsgewackelt sind. Wie oft sind wir wieder hingefallen und ein weiteres Mal aufgestanden, bis wir es geschafft haben, wirklich standfest auf unseren Füßen zu stehen und zu gehen? Festen Fußes, so wie heute. Zweifel gab es nicht. Wir wussten einfach: »Wir schaffen das!« Aufgeben kam uns gar nicht in den Sinn. Und wie viele von diesen kleinen, etwa einjährigen Kindern haben am Ende laufen gelernt und wie viele nicht?
Ging es uns nicht ähnlich beim Sprechenlernen?
Und heute? Heute als erwachsene Menschen. Warum zweifeln wir immer wieder daran, dass wir dies oder jenes schaffen könnten? Wo ist unser Urvertrauen geblieben, wo oder wann haben wir es verloren? Wo hat es sich versteckt?
Es ist nicht weg, es schlummert in uns und möchte wieder geweckt werden. Davon bin ich überzeugt. Vielleicht ist es nur zugedeckt von Sätzen wie »Du schaffst das nicht!«, »Das darfst du nicht!«, »So was macht man nicht!« oder, oder, oder. Zugeschüttet von vielleicht gut gemeinten Worten unserer liebsten Menschen, die uns helfen, beschützen und behüten wollten. Aber weg ist das Urvertrauen nicht, nur gut verborgen hinter vielen Kartons von Lebenserfahrungen, hinter Kisten von Ratschlägen und Gefühlen in unserem »Keller«, dem Unterbewusstsein.
Hast du Lust, mal wieder in diesen »Kellerraum« zu gehen, bewaffnet mit einem Staubwedel, und einen Blick zwischen und vielleicht sogar hinter deine Kartons und Kisten zu werfen?
Magst du mal schauen, ob du allein bist mit deiner Geschichte oder ob es vielleicht anderen ähnlich geht wie dir? Dann lade ich dich herzlich ein, mit mir und vielen anderen Menschen eine »Kellerreise«, wie ich sie liebevoll nenne, zu machen. In den Raum des »Menschelns« einzutauchen und einfach mal einen Blick auf die Schönheit von Unperfektionismus, Mut und Zuversicht zu werfen.
Aber Achtung: An der einen oder anderen Stelle kann es provokant sein und vielleicht dein Denken und Handeln verändern!
Zum Schutze einzelner Personen wurden hier Namen und Orte verändert, aber das, was dahintersteckt, hat sich dadurch nicht geändert.
Eine Bitte habe ich noch: Lass dir Zeit beim Lesen. Vielleicht lässt du jede Geschichte erst einmal kurz auf dich wirken, bevor du weiterliest. Jede eventuell mal gelernte Schnelllesetechnik wird hier nicht gebraucht. Lies mit dem Herzen. Lass dich berühren. Und vielleicht fragst du dich: Was macht die Geschichte gerade mit mir? Egal welches Gefühl oder welche Empfindung bei dir hochkommen mag, sie ist immer richtig.
Und sollte eine Geschichte dich an jemanden erinnern, dann erzähle sie gerne dieser Person. Das verstärkt die erhoffte Wirkung dieses Buches vielleicht sogar noch.
Viel Spaß bei der Kellerreise hinter Kartons und Kisten!

SO FING ALLES AN
Wenn ich Zeit am Meer verbringe, dann sehr gerne am langen Sandstrand der Lübecker Bucht, wo die See relativ ruhig und entspannt ist. Ich höre dort die Wellen leise rauschen, und das klare Wasser spült in sanften Wellen an den Strand. Möwen unterhalten sich und die Sonne scheint mir bei strahlend blauem Himmel ins Gesicht und wärmt sanft meine Haut. Gleichzeitig weht eine leichte Brise von der See her und fährt durch mein Haar. Was für ein friedlicher Ort!
Besonders in der kälteren Jahreszeit zieht es mich hierher. Trotz der nicht mehr ganz so warmen Temperaturen laufen zwei Frauen mit dicker Winterjacke, aber nackten Füßen am flach auflaufenden Wasser entlang. Die natürliche Stille, nur unterbrochen von Kinderlachen, ist einfach schön. Einige Kinder buddeln mit ihren Vätern einen langen Priel vom Wasser bis hinauf zu einer traumhaften Sandburg, die mit Muscheln und Algen verziert ist. Ich wandere ein paar Kilometer am Ufer entlang, genieße die Atmosphäre und sauge die frische Luft in mich auf. Ich liebe es, hier zu sein. Meist stehe ich, wenn ich hier bin, schon früh auf, um gerade die morgendliche Stille am Meer zu genießen, die besondere Ruhe, bevor all die Touristen den Strand wieder füllen. Ich setze mich zum Meditieren in den Sand oder nehme meine Gitarre mit und spiele für die mich besuchenden Möwen und mich ein paar ruhige Klänge. Heute jedoch schreibe ich hier an meinem Buch.
Vor ein paar Jahren fuhr ich mit meinem Freund für ein paar Tage an die Ostsee, um auszuspannen, mal ein paar Tage Abstand vom Alltag zu haben. Die Weihnachtstage lagen gerade hinter uns und wir wollten an diesem besonderen Ort die Tage bis zum neuen Jahr verbringen. Diesmal hatte ich meinen Laptop mit im Gepäck, weil ich noch eine Kleinigkeit zu erledigen hatte.
Als wir ankamen, packten wir wie gewohnt unsere Koffer aus, tranken in Ruhe einen Tee und aßen das mitgebrachte Stück Kuchen. Merkwürdigerweise zog es mich, im Gegensatz zu sonst, nicht gleich an den Strand. Stattdessen packte ich meinen kleinen Laptop aus und erledigte kurz, was noch zu tun war. Das brauchte wohl so zehn bis fünfzehn Minuten. Doch statt danach den Deckel zuzuklappen, öffnete ich eine neue Datei. Getrieben von dem Gefühl, ich sollte ein paar Gedanken loswerden, die mir seit einigen Tagen durch den Kopf gingen, begann ich zu schreiben. Vielleicht bekam ich sie so aus meinem Kopf. Nach einiger Zeit fragte mich mein Freund, ob wir zum Strand gehen wollten. »Ich würde gerne nur kurz ein paar Gedanken aufschreiben, dann bin ich so weit«, antwortete ich und schrieb weiter. Etwas später fragte er noch mal: »Wollten wir nicht zum Strand?« Eigentlich war das immer mein Part zu fragen, ob wir an den Strand wollten. Ich liebte die Natur und hier besonders den Strand. Ich liebte es, Stunden an der frischen Luft zu verbringen. Etwas verdutzt schaute ich ihn an und meinte nur: »Ja, wie gesagt, ich möchte nur eben diesen Gedanken niederschreiben, und dann können wir sofort los.« Als mein Freund erwiderte: »Sofort? Das war schon vor über zwei Stunden!«, blickte ich irritiert auf die Uhr. Wir schmunzelten beide. »Ups!«
Kurz gesagt: An diesem Tag ging ich nicht mehr an den Strand, denn ich konnte nicht aufhören zu schreiben. Immer mehr Worte und Gedanken flossen aus mir he raus. Sie kamen einfach und bahnten sich ihren Weg über die Tastatur auf den Rechner. Dies ging dann auch noch die nächsten Tage so weiter. Ich fand einfach kein Ende. Immer neue Sätze sprudelten durch meinen Kopf und aus mir heraus. Das erinnerte mich an meine Kinderzeit, in der ich oft Geschichten aufgeschrieben hatte, damals jedoch auf Papier. So vergingen die Tage, und heute danke ich meinem Freund für seine Geduld mit mir. Schließlich entstand in diesen Tagen mein erstes Buch, das ich drei Jahre später veröffentlicht habe.
Warum erst drei Jahre später? Na ja, ich hatte zwar all die vielen Worte in den Rechner getippt, aber ich wusste nicht wirklich, warum. Und so kam es, dass sie dort für eine lange Zeit schlummerten. Ich fragte mich natürlich ein paarmal selbst, warum das so passiert war, hatte aber daraufhin nichts unternommen. Als ich nach einiger Zeit im Freundeskreis davon erzählte, wurde ich gefragt, ob man es mal lesen dürfe. Zunächst mochte ich diesen Gedanken nicht so gern, aber am Ende gab ich der Bitte einer Freundin nach und ließ sie das Geschriebene lesen. Sie war begeistert und meinte, ich solle es veröffent lichen. Aber wie das immer so ist mit dem eigenen Mut und dem Anspruch an sich selbst: Also nein, dachte ich, für die Öffentlichkeit ist das doch nicht gut genug. Ich fragte mich: Und wie soll das überhaupt gehen? Wer druckt so etwas? Außerdem kostet das doch bestimmt sehr viel! Nein, mit so etwas kannte ich mich nicht aus.
Und so schlummerten die Zeilen friedlich auf meinem Rechner.
Zwei Jahre später passierte etwas, was mich sehr bewegte und berührte. Die oben erwähnte Freundin kam aufgrund einer starken Lebenskrise unter anderem in eine depressive Phase. Es war eine sehr schwere Zeit für sie. Als Freundin versuchte ich, für sie da zu sein, ihr Mut zu machen, ihre Hand zu halten und sie durch diese Phase zu begleiten. Das tat ich dann auch, so gut ich konnte. Nach dieser schwierigen Phase stand sie zum Glück wieder voll auf den Füßen und wurde zu der alten, lebens bejahenden Person, die ich kannte. Das war so schön zu sehen!
Viele Monate nach dieser turbulenten Zeit nahm mich meine Freundin beiseite und offenbarte mir: »Ilona, weißt du eigentlich, was mich aus dieser schwierigen depressiven Phase mit herausgeholt hat? Es war dein Buch. Dein Buch hat mir so sehr geholfen, den Weg zurück ins Leben zu finden und zu gehen.« Mir liefen die Tränen, als ich das hörte, so gerührt war ich. Blitzartig wurde mir jetzt bewusst, warum ich mehr als zwei Jahre zuvor tagelang geschrieben hatte, ohne aufhören zu können. Jetzt ergab es einen Sinn. Alles im Leben hat ja einen Sinn, und nun kannte ich auch den Sinn, der hinter meinem Schreiben steckte.
Einige Zeit später lasen auch eine andere Freundin und meine Tochter dieses Buch und gaben mir ein ähnliches Feedback. Da wurde mir klar: Egal, was es kostet, das Buch will und soll gedruckt und unter die Menschen gebracht werden! Und ich packte mein erstes Buchprojekt an. Zunächst begann ich zu zeichnen, was ich auch schon so lange nicht mehr getan hatte. Zu jedem Kapitel sollte es ein Bild geben. Ich entdeckte meine kreative Ader wieder neu und fing dann mit Spaß und Freude an, die Zeilen in ein geeignetes Format zu bringen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie man aus dem Geschriebenen ein Buch machte, geschweige denn, wie man es veröffentlichte und wie es zu den Menschen gelangen konnte, denen es vielleicht guttat.
Aber ich machte einfach weiter, erzählte im Freundeskreis von meinem Vorhaben und sprach darüber mit den Kollegen. Und so kam alles ins Rollen. Immer mehr Menschen tauchten auf, die mich unterstützten – Hilfe war überall da. Und wenn ich ehrlich bin: Sie waren vorher schon da gewesen, ich hatte es nur nicht wahrgenommen. Ich stellte fest, dass ich seit Jahren nicht mehr da rüber gesprochen hatte, wie gerne ich früher schon Geschichten und anderes geschrieben hatte. Ich hatte diese Leidenschaft irgendwie verdrängt und war plötzlich glücklich, mich daran erinnert zu haben. Und wie es so oft im Leben ist: Wenn man anfängt, sich mit seinen Träumen und Wünschen auseinanderzusetzen, dann kommt die Vorsehung in Gang. Es passieren die unglaublichsten Dinge.
Das wusste auch schon Johann Wolfgang von Goethe:
In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche und unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und materielle Hilfen, die sich kein Mensch vorher so erträumt haben könnte. Was immer du kannst, beginne es. Beginne es jetzt.
Ich weiß nicht, wie das passiert, aber ich habe immer wieder erlebt, dass es so ist.

RETTENDE ENGEL
Es war ein sonniger Frühlingstag, so schön, wie die meisten Menschen hier zwischen Nord- und Ostsee ihn lieben. Die Natur war nach dem Winterschlaf wieder zum Leben erwacht und hatte sich in ein sattes, kräftiges und frisches Grün verwandelt. Ein leichter Wind, wie wir ihn oft bei uns im Norden haben, ließ die Blätter sich sacht bewegen. Die Sonne lachte am fast wolkenlosen blauen Himmel. All den Nachbarn, die wieder im Garten werkelten, war anzusehen, wie froh sie waren, dass die dunklere Jahreszeit vorbei war. Sie wirkten fröhlich und unterhielten sich über die Hecken und Zäune hinweg.
Auch ich saß im Garten, erfreute mich an den ersten bunten Knospen und Blüten und trank mit meiner Freundin genüsslich einen Tee. Mir wurde gerade mal wieder bewusst, wie gut ich es doch hatte. Ich hatte zurzeit absolut keine Sorgen, meine Familie war gesund und munter, wir hatten ein schönes Zuhause, und auch sonst ging es mir einfach nur gut. Das war aber nicht immer so gewesen, daran wurde ich an diesem Nachmittag erinnert. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich nicht wusste, wie ich am nächsten Tag das Brot für meine Kinder und mich auf den Tisch bekommen sollte.
Meine Freundin, mit der ich meinen selbst gebackenen Apfelkuchen genoss, war bedrückt. Sie hatte vor einiger Zeit einige Schicksalsschläge hinnehmen müssen, hatte dann auch noch ihren Arbeitsplatz verloren. Jetzt belasteten sie obendrein finanzielle Probleme. Ich wollte ihr so gerne helfen, sie unterstützen und ihr unter die Arme greifen. Ich sah doch ihren hängenden Kopf, erkannte in ihm die Schicksalsschläge des letzten Jahres und wie verzweifelt meine Freundin war. Es war einfach gerade alles zu viel für sie. Um wenigstens ihre finanziellen Sorgen etwas zu lindern, wollte ich ihr am liebsten einfach einen Umschlag mit Geld in die Hand drücken und ihr sagen: »Hier, nimm, ich brauche das gerade nicht.« Aber ich wusste, wie sie sich fühlte. Kannte sie zu genau nach all den Jahrzehnten, wusste, dass sie sich schämen würde, von mir Geld anzunehmen, und dass sie das nie zulassen konnte. Ich konnte mich so gut in sie hineinversetzen, da auch ich nicht so gut im Nehmen bin. Es war früher schon so: Das Geben war uns beiden immer leichtergefallen als das Nehmen.
Darum gab ich mir an diesem Tag einen Ruck und bat sie: »Nimm mir bitte nicht die Freude, eine Freude zu machen und dir zu helfen. Bitte!« Dann begann ich zu erzählen. Ich sprach von der Zeit, in der das Schicksal bei mir knallhart zugeschlagen hatte. Als ich den Mann verloren hatte und plötzlich mit meinen damals noch kleinen Kindern allein dastand. Als dann an meinem Arbeitsplatz allen Mitarbeitern auch noch die Stunden gekürzt wurden und ich nicht wusste, wie ich unsere Kosten tragen sollte. Dann waren unter anderem noch gleichzeitig Kühlschrank, Waschmaschine und Herd kaputtgegangen.
Ich erzählte ihr von »meinen rettenden Engeln«. Damals hatte auch ich nicht allein dagestanden. Und was das Besondere war: Mich unterstützten Menschen, die eigentlich nichts mit mir zu tun hatten, mit denen ich weder verwandt noch eng befreundet war. Mir liehen Menschen Geld, ohne zu wissen, ob ich es jemals in meinem Leben zurückzahlen konnte. Menschen, die so selbstlos waren und uns im Gottvertrauen unterstützten. Für mich war es damals wie ein Segen. Diese Menschen halfen mir aus meinem Tief heraus und über die schlimmste Zeit hinweg, und dafür bin ich ihnen noch heute so dankbar. Im Gespräch mit meiner Freundin erinnerte ich mich daran, wie schwer es mir damals gefallen war, diese Hilfe anzunehmen. Für mich hatte es sich angefühlt, als sei ich denen etwas schuldig. Aber ich war in einer Situation gewesen, in der ich an meine Kinder denken musste und nicht anders konnte. Also versuchte ich, meiner Freundin deutlich zu machen, wie sehr ich sie und ihre Verzweiflung verstehen konnte, und wünschte mir, dass sie mir erlaubte, jetzt und hier für sie ein »rettender Engel« zu sein. Ich hoffte, dass sie meine Hilfe annahm und verstand, dass ich all das, was ich damals selbst hatte erfahren dürfen, nun gerne an sie weitergeben wollte.
Heute weiß ich, dass ich alles geben kann, weil ich immer gut versorgt sein werde. Und sollte ich doch noch einmal in Not geraten, dann wird auch für mich wieder irgendwo Hilfe da sein.
Ich bin dankbar, dass meine Freundin mein Geschenk angenommen hat. Und dass sie weiß, dass ich nichts dafür erwarte. Aber noch viel mehr bin ich dafür dankbar, dass ich damals diese Erfahrung machen durfte und es auch heute noch darf. Dankbar für die »rettenden Engel«.
Wenn du dich also gerade in einer schwierigen Lage befindest, dann wünsche ich dir das Vertrauen ins Leben. Das Vertrauen, dass alles wieder gut wird. Und dass wir einander alle mit Geben und Nehmen helfen können. Oftmals sieht man an solchen dunklen Tagen kein Licht mehr – aber es kommt, und oft aus ganz unerwarteter Richtung.
Egal, wie dunkel die Wolken heute sind,
es schaut ein Engel durch einen klitzekleinen Spalt
und schickt immer wieder
einen Lichtstrahl hindurch.

WIE LERNE ICH EINEN MENSCHEN WIRKLICH KENNEN?
Zum ersten Mal persönlich traf ich Jason in Norwegen – in Oslo. Er war Geschäftsführer in unserem internationalen Konzern und leitete die englische Niederlassung. Auf jedem Bild, das ich vorher von ihm gesehen hatte, wirkte er ernst und war immer in einen schicken Anzug gekleidet. Die Kollegen sagten, er sei ein sehr unnahbarer und strenger Chef und Geschäftspartner. Er war einige Jahre älter als ich und ich fühlte innerlich einen gewissen Respekt vor ihm. Vielleicht auch, weil ich gehört hatte, dass er sein Unternehmen sehr erfolgreich und streng leitete und er im Unternehmen einen großen Einfluss hatte.
Bei Telefonkonferenzen hatte ich manchmal meine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, besonders weil er sehr schnell und mit einem starken Akzent sprach. Als ich ihn darauf einmal ansprach und ihn höflich bat, ob er etwas langsamer sprechen könne, tat er dies auch, doch schon nach wenigen Minuten fiel er wieder in seinen gewohnten Rhythmus zurück. Da er bereits seit Jahrzehnten im Unternehmen war, kannte er sich natürlich entsprechend gut aus. Er war vertraut mit der Branche und mir mit seinem Wissen um einiges voraus.
Aufgrund all der Aussagen der Kollegen und des oben genannten Wissens fieberte ich dem ersten persönlichen Treffen mit Jason und vier weiteren neuen Kollegen etwas aufgeregt entgegen. Rückblickend muss ich sagen, dass mein Selbstbewusstsein an diesen Tagen wohl keine große Lust gehabt hatte, morgens aufzustehen. Entsprechend verliefen die ersten Gespräche mit ihm zwar gut, gleichzeitig aber auch sehr sachlich und eher nüchtern. In diesen Tagen in Oslo wurden in der Gruppe Strategien erarbeitet und beschlossen, um das Unternehmen weiter voranzubringen. Persönliche Worte fielen aber kaum.
Bei den darauffolgenden Treffen, die von da an regelmäßig alle drei Monate stattfanden, war es ähnlich. Daten, Fakten und Aufträge wurden ausgetauscht, gemeinsame Strategien entwickelt und Beschlüsse gefasst, alles jedoch auf sachlicher Ebene. Nie wurde nach dem persönlichen Befinden des anderen gefragt, ebenso wenig wurde Privates ausgetauscht.
In Bezug auf Jason ging es meinen Kollegen lange Zeit genauso wie mir, somit machte ich mir keine allzu großen Gedanken. Aber innerlich hatte ich mir natürlich ein Bild von ihm gemacht, obwohl ich ganz genau wusste, dass ich ihn gar nicht wirklich kannte.
Dass ich ihn tatsächlich nicht kannte, wurde mir erst sehr viel später bewusst. Das erste Mal in einer Woche im Frühjahr, zwei Jahre nachdem ich Jason kennengelernt hatte. Wieder war unser Quartalstreffen geplant, diesmal in Amsterdam. Zwei Tage vor meinem Abflug stellte ich bei mir einen Knoten in der Brust fest. Meine Frauenärztin bestätigte mir das noch am selben Tag und überwies mich zur Mammographie. Natürlich bekam ich an dem Tag keinen Termin mehr, und so flog ich mit der Ungewissheit, ob es sich bei dem Knoten um ein bösartiges Geschwür handelte, zum Meeting. Vielleicht kannst du dir vorstellen, dass ich in dieser Zeit nicht mit meiner vollen Konzentration in der Runde saß und mir auch nicht unbedingt nach Lachen und Fröhlichkeit zumute war. Pflichtbewusst riss ich mich aber zusammen und gab mir Mühe, dem Meeting so gut wie möglich zu folgen.