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Gleichzeitig ist der Mensch relational, d. h., er ist in seiner Welt auf vielfältige Weise eingebunden und steht mit anderen Menschen von der Zeugung bis zum Tod in Beziehung. Auf dem Hintergrund der abendländischen Tradition stellt sich die Frage, ob diese wechselseitigen Beziehungen für den freien Menschen konstitutiv oder nur sekundär sind. Oder sind sie gar bedrohlich, weil sie den Selbststand und die Unabhängigkeit des Einzelnen einschränken?
Das christliche Abendland hat den Menschen lange Zeit als Einzelwesen beschrieben, als Ebenbild Gottes, als in sich ruhende Persönlichkeit oder als autonomes Ich. Dass der Mensch Partner und Partnerin von anderen Menschen ist und in Gemeinschaft lebt, wurde als zweitrangiger Sachverhalt angesehen.
Auch in der Neuzeit wird der uneingeschränkte Selbststand des Menschen in den Vordergrund gestellt. Beziehungen und Bindungen schränken die Freiheit des Einzelnen ein. Selbstbestimmung wird so zu einem Kampf gegen alle Fremdbestimmungen und Abhängigkeiten, Bindungen und Beziehungen. Diese seit Descartes zu beobachtende Tendenz neuzeitlichen Denkens findet ihren deutlichen Ausdruck in einem Wort von Karl Marx: „Ein Wesen gibt sich erst als selbstständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selber verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als abhängiges Wesen.“ Gefragt ist also der Selbststand gegen abhängig machende Beziehungen (Greshake, 43), wobei Beziehungen grundsätzlich mit Abhängigkeit in Verbindung gebracht wurden.
Mit dem Begriff der Selbstverwirklichung haben die Psychologie und Pädagogik der letzten Jahrzehnte diese Idee der Neuzeit aufgegriffen. Als Ideal gilt, „sich von den gesellschaftlichen Konventionen und den mitmenschlichen Erwartungen, der Fremdbestimmtheit freizusagen und damit dem eigenen wahren und eigentlichen Selbst zum Durchbruch zu verhelfen. Das falsche Selbst, die angepasste Fassade, entwickelt man, weil man geliebt und akzeptiert werden möchte und sich scheut, eigene Verantwortung zu übernehmen. Zum eigentlichen Selbst findet man durch den radikalen Anspruch, sich in von der Umwelt unabhängigen Gesetzen zu definieren als einmaliges und authentisches, nur aus sich und in sich zu verstehendes Wesen“ (Willi, 1986,10).
In den letzten Jahren wird immer deutlicher, dass der Mensch diese Unabhängigkeit gar nicht besitzt und sie eigentlich auch nicht anstrebt, weil er Anerkennung und Liebe braucht. Empirische Beobachtungen bestätigen, dass der Mensch den tiefsten Zugang zu sich selbst in Beziehungen findet: „Der Mensch entwickelt sich in Beziehungen. Wir werden in Beziehungen gezeugt, geboren, gestillt, ernährt, gepflegt, unterrichtet und angelernt. Immer sind es mitmenschliche Beziehungen, welche der Entwicklung Anstoß und Form geben. Aber auch der Erwachsene entfaltet seine Persönlichkeit nicht aus sich heraus, sondern in Beziehungen …“ (Willi, 10 f.). Das In-sich-Stehen und das Auf-andere-hin-Sein bedingen sich also gegenseitig. Der Mensch wird am Du zum Ich.
In diesem Zusammenhang ist Martin Buber zu erwähnen. In der Begegnung mit der jüdisch-chassidischen Mystik erkennt Buber, dass erst die gegenseitige Wesensbeziehung zwischen zwei Menschen zur vollen Teilhabe des Seins führt. Dieses Verhältnis zum Sein sieht Buber zweifach: als Ich-Es und Ich-Du. In diesen beiden Möglichkeiten des Menschseins, der Urdistanzierung und dem In-Beziehung-Treten wird das Spezifische des Menschseins deutlich : Im Unterschied zum Tier kann der Mensch sich von der Welt abgrenzen, die Welt zum Gegenüber machen. Die „Urdistanz stiftet die menschliche Situation, die Beziehung, das Menschwerden in ihr“ (Buber, 416). Erst wenn ich das selbstständige Anderssein gelten lasse, kann der oder die andere er oder sie selbst sein und mit mir in Beziehung treten.
E. Grisebach geht noch einen Schritt weiter: Er sieht den Konflikt als konstitutiv für das Verständnis personalen Handelns. Nach ihm „zielt aller Umgang des Menschen mit Wirklichkeit grundsätzlich auf ‚Herrschaft‘, auf Vergegenständlichen, Verfügen und Unterwerfen. Während die Naturwirklichkeit diesem Zugriff stumm ausgesetzt ist, erfährt der Mensch im anderen Menschen das einzig antwortfähige Wesen in der Natur, das sich der Besitzergreifung ausdrücklich widersetzen kann …“ „In dieser grenzsetzenden Dialogizität von ‚Spruch und Widerspruch‘ entsteht für Grisebach das spezifisch humane Kräftefeld, aus dem heraus alle substanzielle Selbstwerdung des Menschen, alle reale Sozialität und eigentliche Moralität erwächst“ (Renöckl, 67 ff.). So haben alle menschlichen Beziehungen auch eine konflikthafte Dimension, wo die unterschiedlichen aggressiven Energien aufeinanderprallen können oder nicht zum Fließen kommen. Wichtig ist, dass die Spannungen wahrgenommen, ausgesprochen und konstruktiv ausgetragen werden.
4.3.Aggression und BeziehungIn welchem Verhältnis stehen Aggression und Beziehung? Das traditionelle Verständnis sagt, dass Aggressionen Beziehungen eher stören oder gar zerstören. Wenn wir jedoch die ursprüngliche Bedeutung der Aggression als „Herangehen“ und „Zugehen“ auf andere betrachten, dann ist Aggression geradezu beziehungsstiftend. Denn Beziehung entsteht, wenn zwei Menschen aufeinander zugehen, ihre Lebensenergien einer auf den anderen ausrichtet und wenn sie diese in gegenseitigem Geben und Empfangen teilen. Beziehung meint, sich aufeinander „beziehen“.
In Platons „Symposion“ erzählt Aristophanes von der Erschaffung des Menschen als Kugelwesen. In dieser Geschichte sagt er Wesentliches über das Verhältnis von Aggression und Beziehung im menschlichen Leben aus: Zuerst, so erzählt Aristophanes, „gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei, männliches und weibliches, sondern es gab noch ein drittes dazu, welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden, dessen Name auch noch übrig ist, es selbst aber ist verschwunden. Mannweiblich nämlich war damals das eine, Gestalt und Benennung zusammengesetzt aus jenen beiden, dem männlichen und weiblichen, jetzt aber ist es nur noch ein Name … Ferner war die ganze Gestalt eines jeden Menschen rund, so dass Rücken und Brust im Kreise herumgingen. Und vier Hände hatte jeder und Schenkel ebensoviel wie Hände und zwei Angesichter und vier Ohren, auch zwei Schamteile, und alles übrige, wie es sich hieraus ein jeder weiter ausdenken kann …“ Diese Wesen waren sehr mächtig und gewaltig an Kraft und Stärke, so dass die Götter ängstlich beratschlagten, wie sie diese Giganten entmachten könnten. Zeus machte den Vorschlag, den Kugelmenschen in zwei Hälften zu teilen, denn „so werden sie schwächer sein und doch zugleich uns nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind, und aufrecht sollen sie gehen auf zwei Beinen“ (Platon Bd. 2, 189e–190a).
Seit die ursprüngliche Kugelgestalt des Menschen in zwei Teile getrennt ist, setzen diese beiden Teile alle Energien ein, um wieder zusammenzukommen, ebenso das Männliche und Weibliche ins Mannweibliche. Dieses Streben, „durch Nahesein und Verschmelzung mit dem Geliebten aus zweien einer zu werden …, dieses Verlangen eben und Trachten nach dem Ganzen heißt Liebe“ (Platon Bd. 2, 191a–d).
Ähnliche Gedanken wie in Platons Symposion finden sich u. a. auch im Alten Testament: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt“ (Gen 2,18). Und darum „verlässt der Mann die Gemeinschaft mit Vater und Mutter, und er bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch“ (Gen 2,24).
Hier ist in einem Mythos begründet, was wir im täglichen Leben erfahren: Aggressionen und Beziehung gehören zusammen. Die Aggression ist die Lebensenergie, die zum anderen strebt, um mit ihm zusammen zu sein. Als inneres Streben, als Sehnsucht, als Lebenskraft sucht sie die Liebe zum anderen Menschen als Lebenserfüllung. Auf diese Weise ermöglichen Aggressionen Beziehungen in ihrer Vielfalt.
5.Geistesgeschichtliche Wurzeln für das abwertende Verständnis von Aggressionen und GefühlenDer kurze geistesgeschichtliche Überblick möchte zum besseren Verständnis einige Hintergründe aufzeigen, die u. a. zur heutigen Abwertung der Gefühle und insbesondere der Aggressionen geführt haben. Dabei taucht der Begriff Aggression nur selten direkt auf. Die aggressiven Antriebskräfte werden den Affekten zugeschrieben und mit den Begriffen Wut, Zorn, Ärger, Groll, Triebe, Leidenschaft oder Hass meist einseitig negativ beschrieben. Es sind gewisse durchgehende Trends in der Geringschätzung der Leiblichkeit und der Gefühle festzustellen: von Platon über die stoischen Tugend- und Lasterkataloge, die von Paulus und einigen Kirchenvätern aufgegriffen wurden, bis hin zur Aufklärung und in unsere Zeit.
5.1.Das ganzheitliche biblische MenschenbildDas biblische Menschenbild ist ganzheitlich angelegt und geht von einer Leib-Seele-Einheit aus. Dabei spielen Gefühle und Beziehungen eine wichtige Rolle. Sowohl im Alten Testament als auch im Neuen Testament wird ein Beziehungsrahmen deutlich, „in dem der Mensch aus der Gottesbeziehung sein Selbstverständnis gewinnt und seine mitmenschlichen Beziehungen, seine Beziehungen zur Welt und zum Leben gestaltet“ (Außerleitner, 410 ff.). Das personale Gottesverhältnis wird vor allem in Beziehungsmetaphern ausgesprochen, die Vertrauen und Furcht, Intimität und Ehrfurcht, Nähe und Distanz ausdrücken. Die mitmenschlichen Beziehungen sind ebenso wie das Selbstverständnis des Menschen in der Gottesliebe verwurzelt und empfangen aus ihr die Qualität der Nächsten- und Selbstliebe. So ist das ganze Leben des Menschen im Alten Testament von einer religiösen Beziehungsdynamik geprägt, die durch die wechselnde Intensität der Gemeinschaft mit Gott bestimmt wird. Der Tod bildet die Grenze der leiblichen Existenz des Menschen.
Das Neue Testament greift die ganzheitliche Sicht des Menschen als Leib-Geist-Lebewesen auf (Mt 6,22 ff.; Lk 11,34 ff.; 12,22 f.). Durch die Gemeinschaft mit Christus, dem menschgewordenen Gott, wird der Mensch in die Dynamik der trinitarischen Liebe mit hineingenommen: Es entsteht eine neue Qualität der Schöpfung durch die Beziehung der „Gotteskindschaft“. Auch hier werden die Gottesbeziehung und die mitmenschlichen Beziehungen in den Evangelien lebensfördernd und beziehungsstiftend gesehen, besonders deutlich in den Metaphern vom Leib Christi oder vom Weinstock und von den Rebzweigen.
Diese Verbindung der gott-menschlichen Beziehungen drückt sich auch in den Grundhaltungen des Christen und in seinem mitmenschlichen und sozialen Verhalten aus. Letztlich wird diese Umwandlung durch den „heiligen“, den beziehungsstiftenden und ganzmachenden Geist initiiert, der „gerade keine Dichotomie von Welt und Gott, Materie und Geist, sondern die Verleiblichung des göttlichen Heils in der menschlichen Gesellschaft“ bewirkt (Außerleitner,412).
Allerdings zeigen sich bereits in den paulinischen Briefen erste hellenistische Einflüsse der Leibfeindlichkeit. Der Leib wird als Ort der Sünde gesehen. Gefühle aller Art, insbesondere Ärger, Hass, Wut und Zorn, werden an einigen Stellen pauschal mit einem sündigen Verhalten gleichgesetzt (Eph 4,31 f.; Kol 3,8 ff.; Gal 5,19 ff.). In diesen Texten drückt sich eine dualistische Tendenz aus, die Gefühlen wie Zorn, Ärger und Wut die Sanftmut, Liebe und Freundlichkeit als das Ideal christlicher Vollkommenheit gegenüberstellt. Über allem stand das Motto: die Kontrolle behalten, sich beherrschen. Dies war seit der Zeit des frühen Christentums ein wichtiges Ziel christlicher Lebensführung. „Die Kontrolle zu verlieren heißt, dem Leib mit seinen Begierden einen Raum zu geben, wo eigentlich der Verstand, die Seele mit ihren dem Göttlichen nahekommenden Qualitäten bestimmend sein sollten“ (Klessmann, 16).
Mit diesem Verständnis von Aggressionen geht eine einseitige Abwertung einher: Die lebensfördernden und beziehungsstiftenden Seiten der aggressiven Lebenskräfte werden kaum berücksichtigt und gleichzeitig die negativen Aspekte von Sanftmut, Freundlichkeit und Friedfertigkeit ausgeblendet, die zur Harmonisierung und Vermeidung von Auseinandersetzungen und Konflikten führen können.
Und doch konnte man nicht übersehen, dass im Alten Testament häufig vom Zorn Gottes die Rede ist und dass die Propheten sich voll von aggressiven Lebensenergien wie Zorn, Ärger und Eifer leidenschaftlich mit den Feinden Gottes auseinandersetzten. Auch Jesus zeigte ebenso wie Paulus Zorn und Ärger und reagierte aggressiv in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern (z. B. Lk 11,37 ff.) und Schriftgelehrten. Dasselbe gilt für den Umgang Jesu mit seinen Jüngern, wenn er z. B. zu Petrus sagt: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen“ (Mk 8,33). Ein weiteres Beispiel ist die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (Mk 11,15 ff.). Wie ist diese Aggressivität Jesu mit dem christlichen Vollkommenheitsideal zu vereinbaren? Die Lösung lautete damals: Gegen die Feinde des Glaubens und der Gemeinde sind Ärger und Aggressionen erlaubt, nur intern, untereinander sollen sie ausgeschlossen sein (Klessmann, 17).
5.2.Dualistische TendenzenIn der Auseinandersetzung mit seiner Endlichkeit und seinem begrenzten Leben war der Mensch schon immer versucht, die Lösung für seine Lebensprobleme in der Dichotomie von Seele und Leib zu sehen. Um von den leiblichen Belastungen (Mühsal, Krankheit, Schmerz, Tod) befreit zu werden, hielten sich viele Philosophen (u. a. Plato, Aristoteles, Plotin) an das dualistische Prinzip der Trennung von Leib und Seele: Geist und Seele zu sein und den Leib nur zu haben. Das führte zu einer Geringschätzung des Leibes bis hin zur Leibfeindlichkeit.
Das platonische Seinsschema und stoische Einflüsse haben bis in unser Jahrhundert hinein das ganzheitlich-biblische Selbstverständnis des Menschen immer wieder überlagert (Außerleitner, 413). Die prä-existente, unsterbliche Geist-Seele muss durch Läuterung aus dem Gefängnis des Leibes befreit werden, um zu ihrem „göttlichen Ursprung“ zurückzugelangen.
Das platonische Stufenschema widerspricht in wesentlichen Punkten dem biblischen Verständnis von der Selbstwerdung des Menschen: z. B. in der Abwertung der Materie und des Leiblichen gegenüber einem positiven, ganzheitlichen Schöpfungsverständnis der Bibel. Es unterscheidet sich im Leib-Seele-Dualismus von der biblischen Leib-Seele-Einheit, die das Leibliche und damit auch die aggressiven Lebensenergien und die Sexualität wertschätzt. Die absolute Transzendenz Gottes widerspricht der biblischen Offenbarung von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ebenso wie die Lehre von der Göttlichkeit der Seele der biblischen Lehre von der geschaffenen Gottebenbildlichkeit. So wertet Platon in seinem Stufenschema (Reinigung – Erkenntnis – Einigung) das Leibliche, das Materielle und damit auch das Emotionale und Geschlechtliche ab. Gefühle allgemein und die leibhaften Triebe sind minderwertig.
Die hellenistisch gebildeten Kirchenväter (Origines, Gregor von Nyssa und Dionysius im griechischen Raum, Ambrosius, Augustinus und Gregor der Große im lateinischen Raum) haben sich mit dem platonischen Stufenschema auseinandergesetzt und immer wieder versucht, das platonische Gedankengut mit dem biblischen Verständnis in Einklang zu bringen. Dabei haben die Einzelnen in ihren Theorien zur Selbstwerdung des Menschen und seines Weges zu Gott unterschiedlich platonisches Gedankengut übernommen. Ihre Kritik am platonischen Denken „richtete sich vor allem gegen die Möglichkeit der direkten Gotteserkenntnis, des Tugendfortschritts aus eigener Leistung, gegen die Göttlichkeit der Seele und gegen die Möglichkeit ihrer substanzhaften Vereinigung mit Gott … Diese Kritik wurde jedoch selten ganz konsequent durchgezogen. Der Grundsatz: ‚Der Logos wurde Mensch, damit wir göttlich werden‘ (Clemens und Athanasius von Alexandrien, Origines) zeigt zu deutlich, welche Attraktion die platonistischen Motive Gotteserkenntnis, Göttlichkeit der Seele, Vereinigung mit Gott auf die Kirchenväter ausübten“ (Außerleitner, 136 f.).
Die dualistische Tendenz spiegelt sich auch in den von der Stoa übernommenen Tugend- und Lasterkatalogen wider, wo die leiblichen Triebe und die Affekte wie Wut, Zorn und Ärger als Sünde betrachtet werden.
Die Wüstenväter nehmen den Leib zwar ernst, sie verstehen ihn aber als Ort der Versuchung, als Einfallstor für die Sünde. Sie kasteien den Leib, um ihn gleichsam für die Auferstehung „vorzubereiten“. Letztlich ist das „Leibliche“ auch für sie minder-wertig.
Thomas von Aquin hat die biblische Tradition der seelisch-leiblichen Einheit des Menschen in seiner Theologie ausdrücklich aufgegriffen. Er sieht den Menschen ganzheitlich als Geschöpf Gottes in seiner Geist-Seele-Leib-Wirklichkeit (S. th. I, 76). Die erlösende Zuwendung und Liebe Gottes wendet sich dem ganzen Menschen zu, seiner Seele, seinem Geist und seinem Leib, vor allem in der Menschwerdung seines Sohnes Jesus.
Seit Thomas ist das biblisch-ganzheitliche Verständnis in der christlichen Anthropologie neu verankert, wenn es auch immer wieder durch neuplatonische, stoische und moralisierende Einflüsse in Frage gestellt wird.
Zu erwähnen ist noch die Mystik, in der eine ambivalente Einstellung zur Leiblichkeit zu beobachten ist. Das zeigt sich z. B. in der Fragestellung, ob Mystiker über alle Geschöpflichkeit hinaus mit Gott in sich in Berührung kommen oder ob Mystiker „nur“ in der geschaffenen Welt von Bildern und Wahrheiten und in der konkreten Menschwerdung Jesu Gott erfahren können. Sudbrack schreibt dazu: „Jede Mystik hat es mit Bildern zu tun. Aber sie besteht im ständigen Überschreiten der Bilder, besser gesagt: in deren Öffnung für die geistige Welt, die sich im Bild verleiblicht“ (Sudbrack, 148).
Der Mensch begegnet Gott in vermittelter Unmittelbarkeit auch in der Schöpfung und vor allem im menschgewordenen Gottessohn Jesus Christus (Sudbrack, 150). So sprechen sich Bernhard von Clairvaux, Teresa von Avila u. a. in kritischer Auseinandersetzung mit der platonischen Stufenlehre gegen ein rein geistiges Beten aus, weil dadurch das Menschliche und damit auch die Menschwerdung Gottes letztlich abgewertet werden.
Die dualistischen Denkformen der Neuzeit gehen vor allem auf Descartes und seine res cogitans und res externa und auf I. Kant mit seinen drei Säulen „Vernunft – Verstand, Verstand – Sinnlichkeit, Pflicht – Neigung“ zurück. In der Aufklärung und auf andere Weise im Pietismus hat sich ein „dualistisches Ideal“ menschlicher Lebensführung, „vernunftmäßig und beherrscht zu leben“, durchgesetzt. D. h., alle nach außen drängenden Gefühle, insbesondere die aggressiven Antriebskräfte, Ärger, Wut, Zorn und Leidenschaft, müssen unterdrückt werden, um einen möglichst hohen Grad an „Vollkommenheit“ zu erreichen und so dem Willen Gottes zu entsprechen.
Die Abwertung der Leiblichkeit und die Unterdrückung der Emotionen hat u. a. zu der sogenannten negativen Aszese geführt, die eine falsch verstandene Selbstverleugnung zur ausschließlichen Tugend erklärt und als Nachfolge des leidenden Jesus betrachtet.
Unterdessen wissen wir, wie wichtig die aggressiven Antriebskräfte, die in die Aus-ein-ander-Setzung führen, und damit auch Gefühle wie Wut, Ärger und Zorn für die Entwicklung der Ich-Stärke und der persönlichen Identität sind. Werden sie unterdrückt, wird eine gesunde Persönlichkeitsentfaltung und Selbstwerdung des Menschen eher behindert oder gar verunmöglicht. Ferner besteht die Gefahr, dass die Abwertung des Leiblichen und die Unterdrückung von Gefühlen allgemein und insbesondere von lebensfördernden Aggressionen zu einer Vermeidung von konstruktiven Auseinandersetzungen im religiösen Leben und im kirchlichen Bereich führen können.
5.3.Die wiedergewonnene ganzheitliche Sicht des MenschenDas 2. Vatikanische Konzil orientiert sich wieder eindeutig an dem ganzheitlichen Menschenbild der Bibel und betrachtet den Menschen als „Geist in Leib“. Durch seine Leiblichkeit vereint der Mensch die „Elemente der stofflichen Welt in sich: Durch ihn erreichen diese die Höhe ihrer Bestimmung und erheben ihre Stimme zum freien Lob des Schöpfers. Das leibliche Leben darf also der Mensch nicht geringachten; er muss im Gegenteil seinen Leib als von Gott geschaffen und zur Auferstehung am Jüngsten Tage bestimmt für gut und der Ehre würdig halten“ (Rahner/Vorgrimler, 460 f.).
Leib und Leiblichkeit sind für den Christen vom Glauben her als Geschenk Gottes grundsätzlich positive Werte. Durch die „Fleisch-Werdung“ des Sohnes Gottes, der uns in allem gleich wurde, außer der Sünde, ist der Wert des Leibes noch einmal unterstrichen worden und, wie die Bibel sagt, „geheiligt als Tempel Gottes“ (1 Kor 3,16). Gefühle und auch die aggressiven Lebensenergien haben ihren Sitz im Körper. Erst der Leib ermöglicht, dass sie sich bewegen können und zum Aus-Druck kommen, „aus dem Körper heraus“ und sich so auf andere zubewegen und Beziehung stiften. Freude, Sympathie, Glück, Liebe und Leid drücken sich im Körper aus; Freude z. B. in Formen der leiblichen Freude: in Tanz, Sport, Spiel; oder Liebe in der sexuellen Intimität und Zärtlichkeit. Wie sehr können leibliche Gebärden, Mimik, Gesten und die ganze Körpersprache seelische und geistige Vorgänge im Menschen nach außen vermitteln. D. Mieth schreibt zusammenfassend: „Daher kann der Leib nicht einfach als das aufgefasst werden, was wir mit dem Tier gemeinsam haben. Ebenso wenig ist der Leib die Summe der körperlichen Funktionen des Menschen. Leiblichkeit bezeichnet die psychosomatische Einheit im Hinblick auf ihre sichtbare und sinnliche Erscheinung“ (Mieth, 642).
M. Schneider beschreibt das Menschenbild der christlichen Anthropologie wie folgt: „Ziel christlichen Lebens ist kein entleiblichter und entsinnlichter Geist (nous, intelligentia), das wäre eine (neuplatonische) Versuchung. Gewiss müssen die Sinne geläutert und von jeder egoistischen Begierlichkeit gereinigt werden, doch den geläuterten ‚Sinnen‘ kommt es zu, den menschgewordenen Gott zu erspüren: ‚Was wir gehört und mit unseren Augen gesehen … und mit unseren Händen betastet haben vom Wort des Lebens‘ (1 Joh 1,1 f.). Die innere Bedeutung der Sinne wird im Blick auf die Menschwerdung Gottes deutlich. Seit der Himmel auf die Erde herabgekommen und der Herr bleibend gegenwärtig ist, findet der Mensch Gott in allen Dingen des Lebens, also nicht jenseits, in einer geistigen Welt; das reine Herz schaut ihn schon jetzt überall“ (Schneider, 270 f.). Auch die Vollendung des Menschen in Gott wird am ganzen und unteilbaren Menschen offenbar werden, einschließlich seiner Leibgestalt. So hofft der gläubige Mensch nicht auf eine Befreiung vom Leib, sondern auf die Vollendung seiner Leiblichkeit.
In jüngster Zeit wird in der Liturgie und im Gebet die Bedeutung des Leibes neu entdeckt: in den körperlichen Gebetshaltungen, in Gestik und Mimik, in Bewegung und Tanz. Hier wird der Leib in ein ganzheitliches Beten und Meditieren bewusst mit einbezogen, gemäß dem Wort des Paulus: „Verherrlicht Gott in eurem Leib“ (1 Kor 6,20).
Im christlichen Brauchtum wird die Ehrfurcht vor dem Leib u. a. in den sakramentalen „leiblichen Berührungen“ ausgedrückt.
In der Taufe wird die Stirn des Täuflings mit Chrisam gesalbt und das Wasser des Lebens über seinen Kopf ausgegossen. Sein Mund wird als Ort des Aus-Drucks der Gefühle und der Einnahme von lebenserhaltenden Speisen und Getränken gesegnet. Ebenso das Herz, als Sitz des Lebens, der Gefühle und der Verankerung von Beziehungen.
In der Eucharistie kommen wir in der Gestalt von Brot und Wein mit Christus leibhaftig in Berührung.
In der Krankensalbung wird der Körper des Kranken an allen Sinnen mit dem Öl des Heiles gesalbt.
Im Begräbnis nach dem irdischen Tod wird der Leib in die Erde gebettet, aus der er genommen ist, in der Erwartung seiner Verklärung bei der Auferstehung von den Toten. Hier wird deutlich, dass wir von Gott als Menschen mit Leib, Geist und Seele geschaffen und erlöst sind.
Leider hat sich die ganzheitliche Sicht des Menschen als Leib-Geist-Wesen in den Jahren nach dem Vatikanischen Konzil nur langsam durchgesetzt. Nach wie vor sind Vorurteile gegenüber dem Leiblichen, den Gefühlen und Beziehungen im Allgemeinen und den Aggressionen und der Sexualität im Besonderen in christlichen und kirchlichen Kreisen zu finden (vgl. die Ergebnisse der im Oktober 2015 beendeten Bischofssynode).
6.ZusammenfassungDie Fabel des arabischen Mystikers Sa’di vom „invaliden Fuchs“ fasst unser Thema Aggression und Beziehung gut zusammen (Mello, 64): „Unterwegs im Wald sah ein Mann einen Fuchs, der seine Beine verloren hatte. Er wunderte sich, wie das Tier wohl überleben konnte. Dann sah er einen Tiger mit einem gerissenen Wild. Der Tiger hatte sich satt gefressen und überließ dem Fuchs den Rest. Am nächsten Tag ernährte Gott den Fuchs wiederum mit Hilfe des gleichen Tigers. Der Mann war erstaunt über Gottes große Güte und sagte zu sich: ‚Auch ich werde mich in einer Ecke ausruhen und dem Herrn voll vertrauen, und er wird mich mit allem Nötigen versorgen.‘