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Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass abseits aller heiligen Haine, die es vielleicht gab oder auch nicht, durchaus eine Reihe von Sakralgebäuden und Tempeln in der mittleren und späten La Tène-Zeit existiert hat. Der heilige Hain, Geburtsort des erwachenden Bewusstseins, wurde zu einem abgetrennten Ort, der durch eine Mauer oder einen Graben gekennzeichnet wurde, später auch durch Palisaden und Gebäude. Er war immer noch Nemeton, im Sinne eines heiligen Platzes, aber was als heilig galt, unterlag einer Anzahl drastischer Veränderungen. Und hier kommen wir zu den Kulten des alten Gallien. Während die Viereckschanzen Deutschlands nur wenig Aufschluss über die Ritualpraxis geben und viele von ihnen kaum Spuren von Opfergaben aufweisen, haben Ausgrabungen von über fünfzig gallischen Tempeln Material erbracht, das den Sensiblen unter uns abstoßend erscheinen dürfte. Glaubst Du an die romantischen Kelten? Du bekommst gleich eine Gelegenheit, Deine Aufgeschlossenheit zu testen. Falls Du es ekelhaft findest, was eine Anzahl keltischer Völker für Religion, Sieg und gute Ernten zu tun bereit war, schlage ich vor, dass Du Deine Reaktionen beobachtest, während Du liest, und für Dich herausfindest, was Du persönlich in Bezug auf heilige Handlungen als angemessen empfindest. Und wie wär´s, wenn Du anschliessend diesen Kelten eine Chance gibst und Dir eine Welt vorstellst, in der widerwärtige Opferpraktiken einen Sinn ergeben?

Männlicher Kopf mit einer Aushöhlung für Opfergaben, Corbridge, Northumberland, Britannien.
Manchmal auch als „Maponuskopf“ bezeichnet, obgleich es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß es sich gerade um diese Gottheit handeln könnte. Ein gutes Beispiel für den Kopf als Kessel.
Die Tempel Galliens
Zunächst einmal einige Verallgemeinerungen im Hinblick auf gallische Tempel, die in den letzten Jahrzehnten ausgegraben wurden. In den meisten gab es einen heiligen Bezirk, der durch seine quadratische oder rechteckige Form definiert und von einer Mauer oder ein bis zwei Gräben und vielleicht einer Palisade umgeben war. Wie bereits erwähnt sorgten die Mauern und Gräben für etwas Ungestörtheit – sie waren definitiv nicht zu Verteidigungszwecken gedacht. In den meisten Fällen befand sich der Eingang irgendwo im Osten. Beachte, dass die Tempel selten präzise in eine spezifische Richtung orientiert waren.
Auch die Innengebäude waren nicht präzise ausgemessen. Im Zentrum einer gallischen Viereckschanze finden wir für gewöhnlich eine tiefe, kreisförmige Grube vor, manchmal umgeben von einer Ansammlung kleinerer Löcher. Die zentrale Grube hat eine Funktion, die der eines Altars nicht unähnlich ist: Sie dient als Mittelpunkt für das Ritual und nimmt die Opfergaben auf. In der frühen La Tène-Zeit war die Grube einfach ein rundes Loch. Spätere Generationen verbesserten sie, indem sie sie mit einem Dach versahen, um Regen abzuhalten, und nicht lange danach erschienen kleine, einfache Schreine als Gebäude über der zentralen Grube. Oft hatten diese Gebäude anfangs einen runden oder ovalen Grundriss, genau wie die Grube.
Von oben gesehen besteht so ein Tempelplatz aus einer Viereckschanze mit einer runden Grube und/oder einem runden Gebäude in der Mitte. Von der mittleren bis zur späten La Tène-Zeit wurden diese Gebäude sehr stark ausgebaut. In der Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus kann man bereits von Tempelgebäuden sprechen. In einigen Fällen hatte das Gebäude über der Grube eine rechteckige Form bekommen, und den Pfeilern nach zu urteilen, die das Dach trugen, müssen einige von ihnen recht hoch gewesen sein. Gleichzeitig änderte sich die Funktion der Grube. Vorher war es ein Ort gewesen, wo die geschlachteten Tiere verwesten. In der späten La Tène-Zeit wurde sie durch einen Feuerplatz ersetzt.
Es wäre verführerisch, Spekulationen darüber anzustellen, ob die Bestattungsbräuche der Zeit diesen Brauch beeinflusst haben. Manche gallischen Tempel wurden benutzt, um Speiseopfer darzubringen, wie zum Beispiel in Mirebeau, wo eine große Anzahl von Miniatur-Speisegefäßen, sorgfältig nachgebildet, entdeckt wurden; vermutlich waren sie mit Speisen und Getränken gefüllt. Speiseopfer spielten eine Rolle bei Bestattungsritualen, ebenso wie das Opfern von Schmuck, Torques, Fibeln, Armreifen, etc., die alle in gallischen Heiligtümern als Opfergaben an die Götter auftauchen. Manche Tempel scheinen auf bestimmte Opfergaben spezialisiert gewesen zu sein. Der vielleicht am besten bekannte Fall ist Snettisham in Norfolk, wo 75 mehr oder weniger intakte Torques von bester Qualität ausgegraben wurden, Fragmente von 100 weiteren, sowie 100 Armreifen und bisher 234 Münzen.

Taraske
Monster von Noves, Bouche-du-Rhone, sogenannte „Taraske“ nach einem Monster aus einem ländlichen Volksmärchen, späte La Tène-Zeit, Höhe 1.12 m. Ursprünglich wurde das Monster dargestellt, wie es einen Mann verschlang, von dem nur noch ein Arm und ein Bein zu sehen waren.
Münzen waren beliebte Opfergaben in gallischen Tempeln der späten La Tène-Zeit. Es mag seltsam klingen, aber als die Römer Gallien besetzten und anfingen, über etwas zu klagen, was ihnen wie grausame Menschenopfer erschien, war der Höhepunkt der gewaltsamen gallischen Opfer bereits vorbei. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts vor Christus kamen symbolische Opfergaben in Mode. Statt des üblichen Sortiments an Schädeln, Knochen, verwesenden Tieren und Waffen begegnen uns zahlreiche radförmige Amulette (Rouelles) aus Gold, Silber, Bronze oder Blei und eine zunehmende Menge an Münzopfern.
Ein gutes Beispiel ist Villeneuve-au-Châtelot, wo anfangs, im 4. Jahrhundert vor Christus, Waffen geopfert wurden und man im 1. Jahrhundert vor Christus zu Rouelles und Münzen überging, was sich bis in die Zeit der römischen Besatzung hinein erhielt; bisher wurden über 70.000 entdeckt. Die Münzen wurden manchmal in Löcher vergraben, manchmal auch achtlos verstreut. Drei in einem Loch versteckte Münzen wurden im Holz einer der Statuen entdeckt, die man im Genfer See in der Nähe von Villeneuve gefunden hat. Es wurde vermutet, dass Münzen geopfert wurden, weil sie Reichtum bedeuten. Ich vermute, dass das nicht der einzige Grund war. Keltische Münzen gehören zu den schönsten Kunstwerken, die je in Europa produziert wurden. Die Bilder auf ihnen üben einen starken Zauber auf den Geist aus – Grund genug, sie mit Religion in Verbindung zu bringen und in Rituale einzubeziehen.
All das waren allerdings reichlich späte Entwicklungen. Kehren wir zur Frühzeit zurück, als geschlachtete Stiere in heiligen Gruben verwesten und man Trophäen aus der Schlacht als schicke Tempelausstattung betrachtete.
In vielen Tempelbezirken wurden die Gräben (oder eine Reihe von Gruben) mit Opfergaben gefüllt. Es handelte sich um Tiere, Menschenknochen und in einigen Fällen um Waffen, Schilde, Rüstungen, Streitwagen und erlesene Kriegstrophäen. Diese Trophäen sind oft die gleichen wertvollen Güter, die dazu tendieren, auch in Kriegergräbern aufzutauchen. Opfertiere findet man in allen bekannten gallischen Tempeln. Es gibt allerdings beträchtliche Unterschiede im Hinblick auf die Spezies und die genaue Art der Opferung.
Ein weiteres Element, das oft innerhalb von Viereckschanzen auftritt, sind hoch aufragende Kultpfeiler. Wir wissen nicht, wie sie ausgesehen haben, ob sie schlicht waren, geschnitzt oder irgendwie dekoriert. Das Holz ist vor Unzeiten verrottet, aber die tiefen Löcher, in denen die Pfeiler steckten, sind noch sichtbar. Es handelt sich hier vielleicht um eins der älteren Elemente in der Ausstattung keltischer Tempel. Eine Reihe von Kultpfeilern wurde in der Nähe eines komplizierten Systems von Gräben und Grabhügeln der späten Hallstatt- bzw. frühen La Tène-Zeit auf dem Glauberg in Hessen entdeckt. Derzeit wird spekuliert, sie hätten als Sonnen- und Mondkalender gedient.
Soviel zum allgemeinen Überblick in Bezug auf gallische Tempelschanzen. Derartige Bauten sind nicht auf Gallien beschränkt. Archäologen haben ein hübsches Beispiel für den gallischen Tempelbaustil auf Hayling Island vor der südbritannischen Küste entdeckt; ein guter Beweis für die zahlreichen gallischen und belgischen Kelten, die über den Kanal segelten, um eine neue Heimat zu erobern.
Um diesen Bericht über sakrale Architektur etwas farbiger zu gestalten, möchte ich einige der eindrucksvollsten Orte Galliens näher beschreiben.
Die Erforschung von Gournay
Sehen wir uns zunächst einmal Gournaysur-Aronde in Nordfrankreich an, wo die Bellovaker ihr Oppidum hatten. Wir werden uns diesen Ort sehr genau anschauen, unter Einbeziehung der umfangreichen Forschungsergebnisse von Brunaux, da es sich um faszinierendes Beweismaterial für die sich wandelnden Trends in den gallischen Religionen handelt. Außerdem kann es als Traumschlüssel zur Religion der La Tène-Zeit dienen, für Leser, die gern etwas Praktisches unternehmen (ich hoffe, Du fühlst Dich angesprochen!) Die Anlage von Gournay hat einen nahezu quadratischen Grundriss von 45 x 38 m, mit einem Eingang im Nordosten, wo die Sonne über einem Fluss und sumpfigen Marschen aufgeht. In Gournay wurde bereits im frühen 4. Jahrhundert vor unserer Zeit gebaut, allerdings handelte es sich dabei nicht um die Schanze, sondern um die Aushebung einer 2 x 2 m großen, quadratischen Grube. Entlang der Ränder dieser Grube wurden ungefähr 20 irdene Gefäße verschiedener Größe aufgestellt; die Mitte blieb frei. Die Gefäße enthielten vielleicht Speise- und Trankopfer. Die Grube blieb eine Zeit lang offen. Dann wurde sie mit Erde zugeschüttet und ein kleiner Hügel mit einem Durchmesser von ca. 10 m über ihr errichtet. Zu dieser Zeit wurde mit dem Bau der Tempelanlage begonnen, die in etwa östlich des Hügels angelegt wurde. Anfangs war die Anlage eine bescheidene Angelegenheit. Stell Dir eine freie Fläche vor, umgeben von einem 2 m tiefen und breiten Graben. Das ist Phase 1 des Heiligtums (s. Illustration) – eine quadratische, offene Fläche, umgeben von einem Graben und einer Aufschüttung innerhalb des Grabens.
Mehrere lange Pfähle wurden innerhalb dieses Platzes aufgestellt, und der hauptsächliche rituelle Fokus war eine tiefe, runde Grube, etwas westlich des Zentrums.
Es gibt keine Anhaltspunkte für Gebäude, Trophäen oder Opferhandlungen in dieser Periode, und was innerhalb dieser Umfriedung vor sich ging, weiß keiner. Es könnte sich um Feste, Versammlungen, gemeinsame Gottesdienste, Rituale oder Volkstänze gehandelt haben – man weiß es nicht. Was immer es war, es hat keine Spuren hinterlassen. In der zweiten Phase, zwischen dem vierten und dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeit, wurde der Graben mit Holzplanken verkleidet und von einer hohen Holzpalisade umgeben, um die Grenzen zwischen außen und innen stärker zu betonen. Vielleicht wurden die Riten weniger öffentlich, oder es gab ein stärkeres Bedürfnis, den sakralen Bereich von seiner Umgebung zu trennen. Die Palisade sah zwar ein bisschen wie eine Verteidigungsanlage aus, stellte aber eher eine symbolische Grenze dar. Die Priesterschaft von Gournay vermaß den Platz sorgfältig und umgab die zentrale Grube mit einem Ring von neun kleineren Gruben. Es sagt einiges aus, dass alle diese kleineren Gruben exakt die gleiche Distanz zum Zentrum hatten (soviel zur Präzision), dabei aber etwas unregelmässig geformt waren, was einen allgemeinen Eindruck von Symmetrie macht, ohne dass die Erbauer davon besessen gewesen wären. Eine weitere Neuerung dieser Phase war eine geheimnisvolle Grube außerhalb des Eingangs. Phase 3, zwischen dem dritten und dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit, zeigt weitere Veränderungen. Die neun kleinen Gruben um die große, zentrale Grube wurden zugeschüttet. Dafür erscheint ein primitives Gebäude über der zentralen Grube – ein paar Holzpfeiler, die ein Dach tragen. Das „Gebäude” hatte keine Wände – vielleicht war sein einziger Zweck, Regen von der Grube fernzuhalten. Der Grundriss des Bauwerks ist rund. Zu dieser Zeit verschwinden die meisten anderen Pfeiler von der Viereckschanze. Wir sind auch Zeugen der Aushebung eines weiteren Grabens, der die Schanze außerhalb der Palisade umgab.

Grobe Skizze der Entwicklung von Gournay-sur-Aronde
Departement Oise, Nordfrankreich, nach Brunaux.
In Phase 4, im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit, wird das runde Gebäude durch ein rechteckiges ersetzt. Das neue hat Wände aus Flechtwerk an drei Seiten, aber Eingangsseite blieb völlig offen. In dieser Phase stehen mehrere hohe Pfeiler innerhalb der Schanze. Der Eingang wurde leicht nach Norden verschoben und liegt daher auf einer Linie in Richtung des rechteckigen Gebäudes. Ein Ergebnis davon war, dass das Licht der aufgehenden Mittsommersonne durch das Tor fallen und das Gebäude und seine Sakralgrube erleuchten konnte. Der innere Graben wird erweitert, um mehr Trophäen aufnehmen zu können. Der äußere Graben umgibt die gesamte Schanze, man betritt sie aller Wahrscheinlichkeit nach über eine kurze Holzbrücke. Am Eingang können wir uns ein hoch aufragendes, auf sechs Säulen ruhendes Portal vorstellen, einen massiven, eindrucksvollen Bau, wo eine Ansammlung von Trophäen und Menschenschädeln ausgestellt wurde. Es sind die einzigen Menschenschädel, die man in Gournay gefunden hat. In der Nähe fand man Schädel von Stieren und Kühen, zweifellos ein wesentlicher Teil der Dekoration. In dieser Periode wurden die meisten Opfer dargebracht.
Nun zu einer Rekonstruktion der blutigen Details. Zu bestimmten Anlässen wurde ein älterer Stier oder eine Kuh in die Schanze geführt und an einen der Pfähle in der Nähe der Grube gebunden. Im Verlauf einer unbekannten Zeremonie wurde das Tier mit einem Axthieb, Schwerthieb oder Speerstoß getötet (all diese Methoden konnten nachgewiesen werden) und intakt in die Grube geworfen. Dann überließ man es sechs bis acht Monate der Verwesung. Anschließend wurden die Knochen eingesammelt und die Grube gesäubert. Der Schädel wurde sorgfältig abgetrennt und in die Nähe des Eingangs gelegt; die restlichen Knochen wurden in den Graben geworfen. Der innere Graben enthielt die Knochen von etwa 40 Stieren und Kühen.
Man könnte sich darüber Gedanken machen, ob der massive Stier am Boden des Gundestrup-Kessels vielleicht ein geschlachtetes Rind in der Opfergrube darstellt (s. Illustration). Der Kessel und die Opfergrube haben eine Menge gemein – beide sind Fokus eines Rituals, Gefäße, die die Opfergabe empfangen, bewahren und transformieren, Tore in die Tiefe, Eingänge zur Welt unter der Oberfläche.
Stiere und Kühe waren nicht die einzigen Tiere, die geschlachtet wurden. Es gibt auch Hinweise auf die Opferung von Haustieren (Schweine, Schafe und Hunde). Auf welche Weise sie geopfert wurden, unterlag mehrmaligem Wandel. Im dritten bis zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit wurden Vieh und Schweine getötet, aber nicht zerlegt oder gegessen. Im zweiten bis ersten Jahrhundert vor unserer Zeit tauchen sie bei Opfermählern auf, wie auch Schafe und Hunde. Pferde wurden in allen gallischen Tempeln geopfert, sie waren aber nie Teil des Opferfestmahls. Das ist erstaunlich, da Haffner (1995) darauf hinweist, dass Pferde durchaus auf dem alltäglichen Speiseplan standen. Die Opfertiere wurden in den inneren Graben geworfen, aber nicht achtlos, sondern nach einem regelmäßigen und symmetrischen Muster (s. Illustration).
Die inneren Gräben von Gournay enthielten sehr viel mehr als nur Teile von Tierkörpern. Im frühen dritten Jahrhundert vor unserer Zeit fing die Priesterschaft von Gournay an, Trophäen zu sammeln. Eine überraschende Anzahl an Waffen, Rüstungsteilen und Schilden wurde gefunden, alles in allem etwa 3000 Waffen und mindestens 300 komplette Rüstungen. Die meisten von ihnen wurden jahrelang offen zur Schau gestellt. Dann, zu irgendeiner wichtigen Gelegenheit, wurden sie rituell zerstört: Verbogen, zerbrochen, zerschmettert und in die Gräben geworfen. Eine Auswahl an Waffen scheint auf einer Plattform über dem Tor zur Schau gestellt worden zu sein. Dieses rituelle Verhalten (Zurschaustellung gefolgt von ritueller Zerstörung) wurde in mehreren gallischen Heiligtümern nachgewiesen. Es mag sich dabei um ein wichtiges Element in der Denkweise der La Tène-Zeit gehandelt haben; eine ähnliche Idee liegt zugrunde, wenn ein unbezahlbar wertvolles Schwert verbogen oder zerbrochen wurde, bevor man es der Gottheit eines Flusses, Sees oder Sumpfes überantwortete. Vielleicht kann hier eine Äußerung von Polybios Aufschluss geben, der nach einer wichtigen Schlacht bemerkte, die siegreichen Gallier hatten die gesamte eingesammelte Beute zerstört – die Waffen ihrer Gegner und sogar einige ihrer eigenen Waffen. Für Polybios sah das so aus, als hätte sich eine Horde betrunkener Barbaren einfach einem Anfall hirnloser Zerstörungswut hingegeben. Aber ob sie nun betrunken waren oder nicht, das Ereignis kann sehr wohl einen religiösen Hintergrund gehabt haben. Abgesehen davon enthielten die Gräben die Knochen von etwa einem Dutzend erwachsener Menschen beiderlei Geschlechts, deren Glieder mit einem Messer abgeschnitten worden waren (zu welchem Zweck?), außerdem sechs (oder mehr) Schädel, die alle sorgfältig vorbereitet waren, indem man das Gehirn herausgenommen hatte und die oberhalb des massiven Portals Platz gefunden zu haben schienen.

Die Inhalte des innersten Grabens von Gournay
nach Brunaux, 1986
Es könnte sich lohnen, auf eine Phantasiereise zu gehen, um die von den Leuten von Gournay favorisierte Kosmologie kennenzulernen. Was Gournay angeht, sind unsere Rekonstruktionen hypothetisch und beschränken sich auf eine bestimmte Zeitspanne. Der Eingang lag ursprünglich im Ost-Nordosten, nicht auf einer Linie mit der Opfergrube oder dem ersten Gebäude. Im allgemeinen kann man im Osten die Richtung sehen, wo alle Himmelskörper - die Sonne, der Mond und die Sterne - aus der Unterwelt aufsteigen. Das Gegengewicht ist der Westen, wo sie alle in der Tiefe verschwinden, und damit in die Unterwelt. Die Schanze selbst enthielt nichts Ungewöhnliches, aber westlich der Grube befand sich der verborgene Bereich, direkt hinter dem rechteckigen Tempel. Und darüber hinaus gab es außerhalb der Schanze, westlich davon, den Hügel, der die Gefässe mit den Opfergaben enthielt, die alle in einer quadratischen Grube lagen und den Bewohnern der Unterwelt übergeben worden waren. Wir wissen nicht, ob die Priesterschaft des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeit wusste, was sich in dem vor zweihundert Jahren erbauten Hügel befand. Vielleicht hielten sie ihn für ein Grab aus früherer Zeit. Das wäre nicht ungewöhnlich; so manche Tempelanlage in Gallien oder Germanien lag in der Nähe älterer Grabhügel. Um Gournay zu betreten, musste man nach Westen gehen (d. h. in die Richtung des Verschwindens, des Todes und der Unterwelt), während man nach Osten ging, um die Schanze zu verlassen, in die Richtung der Geburt und des Wiederauftauchens. Im Süden der Schanze befand sich eine freie Fläche, die, wie Experten spekulieren, bei zeremoniellen Festmählern benutzt wurde.
Solche Aktivitäten waren wichtige Rituale im zweiten und ersten Jahrhundert vor unserer Zeit. Ich frage mich, wie sie an einem solchen Ort einen gesunden Appetit entwickeln konnten. Außerhalb der Anlage und etwa 100 m südlich davon befand sich eine Befestigung, die während der frühen und späten La Tène-Zeit bewohnt war; man könnte überlegen, ob der Süden Versammlungen, Siedlungen oder menschliche Aktivitäten ganz allgemein symbolisierte. Was den Norden angeht, so enthält der nördliche Abschnitt der Anlage ein Rätsel. In dem fetten Lehmboden wurden Spuren von Ästen und Holzstücke entdeckt. Sie waren dort nicht einfach achtlos verstreut, sondern ebenfalls sorgfältig gesammelt und in besonderen Gruben begraben worden. Eine Hypothese bezüglich dieser Funde ist, dass sich vielleicht eine Koppel im Nordabschnitt befand, wo die Opfertiere vor dem Schlachten gehalten wurden. Das würde das Vorhandensein von Ästen erklären, aber nicht, weshalb die Äste so sorgfältig gesammelt und vergraben wurden. Eine andere Theorie, die ich überzeugender finde, ist, dass sich im Norden eine Gruppe heiliger Bäume befand, vielleicht ein winziger „Hain”, der jene heiligen Haine symbolisierte, die so oft mit keltisch-germanischen Riten in Verbindung gebracht werden. Wenn wir an heilige Bäume denken, können wir uns vorstellen, dass herabfallende Äste und Zweige nicht achtlos behandelt wurden wie Abfall, sondern sorgfältig vergraben wurden. Die Assoziation zwischen Bäumen und hoch aufragenden Pfählen im Norden ergibt ebenfalls einen Sinn, da der Norden üblicherweise mit dem Weltenbaum oder dem Himmelspfeiler in Verbindung gebracht wurde, eine Vorstellung, die in der eurasischen Kosmologie sehr verbreitet war.
Das ist natürlich nicht alles, was Gournay ausmachte, da der heilige Bezirk über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich umgebaut und immer wieder neu gestaltet wurde und wesentliche Veränderungen der Religionsausübung mitgemacht hat. Genausowenig, wie wir wissen können, welche Glaubensinhalte die Priester von Gournay pflegten, können wir wissen, wer diese Priester eigentlich waren. Es mag in der späten La Tène-Zeit Druiden in Gournay gegeben haben, aber was die früheren Ritualisten angeht, kann man das nur herausfinden, indem man auf Zeitreise geht, und vorübergehend vorgefertigte Vorstellungen außer Acht lässt. Wenn Du gut in Trancereisen bist und Dich von der einen oder anderen Leiche nicht abschrecken lässt, dann begib Dich in das Zwischenreich der Tempelanlage, erfahre ihre Mysterien und lerne die verborgenen Bedeutungen zu verstehen, die sie für Dich bereithält. Du wirst dabei keine Fakten im historischen Sinn erfahren, aber Du könntest eine subjektive, magisch gültige Einweihung erleben.
Unter die Oberfläche zu gehen kann ich nur Praktikern empfehlen, die eine Menge Erfahrung im Umgang mit halb vergessenen Gottheiten haben, und außerdem die Weisheit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was erwacht, sowie das Taktgefühl, das ruhen zu lassen, was in Ruhe gelassen werden will. Du könntest die Himmelsrichtungen Gournays und ihre Bedeutung den sechs Seiten eines Würfels zuordnen und ein darauf beruhendes neues System der Wahrsagung erfinden. Wenn vier Augen für die Erde stehen, drei für den Himmel und sechs für das Tor, könntest Du sogar ein numerologisches System entwickeln. Kein altkeltisches, sondern ein neues, das offen ist für neue Interpretationen. Versuche, jede Richtung durch ein paar Substantive, Adjektive und Verben zu definieren. Im Verlauf dieses Prozesses wird die ganze Kosmologie in Deinem Geist sehr viel lebendiger werden. Es handelt sich nicht um einen Akt der Rekonstruktion, sondern der kreativen Re-Interpretation. In diesem Sinn war Gournay nicht nur ein Brennpunkt für viele religiöse Weltanschauungen, er könnte es wieder werden, wenn auch in einer neuen Form, die Deiner Zeit und ihren Überzeugungen angemessen ist.
Das Ende der streng genommen rein gallischen Periode kam 125 vor unserer Zeit, als die sakrale Schanze aus unbekannten Gründen systematisch abgebaut wurde. Die Opfergrube und die Gräben wurden aufgefüllt, die Palisade und die Gebäude wurden niedergebrannt, und der ganze Ort wurde sorgfältig gereinigt. Dann folgte eine Zeit der Inaktivität. Während des ersten Jahrhunderts unserer Zeit und unter römischer Herrschaft wurde ein neues Tempelgebäude genau an dem Ort errichtet, wo sich früher die Opfergrube befunden hatte (Phase 5). Statt einer Grube enthielt der „Tempel” einen Ort für Brandopfer. Um das Jahr 100 herum wurde der Ort erneut zerstört, im folgenden Jahrhundert aber wieder aufgebaut (Phase 6). Er diente bis ins 4. Jahrhundert hinein als gallorömischer Tempel, was zeigt, dass sich zwar Riten und Religion änderten, die heiligen Orte aber die gleichen blieben.
Ein Trophäenhort






