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Die Dinge werden noch extremer, wenn wir einen kurzen Blick auf die sakrale Anlage von Ribemont-sur-Ancre werfen, etwa 50 km nördlich von Gournay. Mitte der 90´er Jahre war nur ein Drittel von Ribemont freigelegt, aber was man dann fand, macht diesen Ort zu einem der wertvollsten und makabersten Kultplätze, die je gefunden wurden. Anders als Gournay ist Ribemont nicht sehr typisch für gallische Kultanlagen. Manche Experten halten sie nicht einmal für einen Tempel, sondern eine Art Kriegerdenkmal, mit dem eine Anzahl von Siegen des späten 3. Jahrhunderts vor unserer Zeit gefeiert wurde. Da Ribemont eine komplexe Geschichte hat und bis in die Zeiten der römischen Besatzung hinein in Gebrauch war, möchte ich mir nicht die Mühe machen, all seine Entwicklungsschritte aufzuzählen. Es genügt zu sagen, dass die Viereckschanze von Ribemont von einer Palisade umgeben war, die 3 m hoch aufragte und dass die offenen Gräben, die für Gournay so charakteristisch waren, hier fehlen. Allerdings ist Ribemont vielleicht der einzige Kultplatz, wo sich Teile der heiligen Gebäude außerhalb der Schanze befanden. Zwei dieser Gebäude wurden bisher erforscht. Eins ist das Portal über dem Eingang, wo die einzigen Schädel des Ortes aufbewahrt wurden. Das andere ist ein hohes Gebäude außerhalb der Umfriedung. Es scheint sich um eine überdachte Plattform gehandelt zu haben, die in einiger Höhe errichtet worden war, wo eine große Anzahl unheimlicher Trophäen aufbewahrt wurde. Und von hier an wird es extrem kompliziert.
Ich kann leider nicht die gesamten Hintergründe aufzählen, die zu den genannten Schlussfolgerungen führen; daher hoffe ich, dass der interessierte Leser sich die Mühe machen wird, etwas zu dem Thema nachzulesen (s. Brunaux, 1995). Wo das Gebäude stand, haben die Archäologen mehr als 10.000 Menschenknochen und mehrere hundert Waffen auf einer Fläche von nur 60 Quadratmetern entdeckt. Diese Gegenstände waren nicht achtlos verstreut. Die meisten Knochen befanden sich an ihrem anatomisch richtigen Ort, die Schwerter steckten in Scheiden, die Scheiden waren an Gürteln befestigt, und so weiter. Allerdings hatte man sich definitiv an den Leichen zu schaffen gemacht. So hatte zum Beispiel keine von ihnen einen Kopf. Und, was noch seltsamer war, jeder Körper war an der Taille durchgeschnitten worden. Die Priesterschaft von Ribemont hatte die Leichen sorgfältig so aufgestellt, dass jeder Oberkörper auf einem anderen Unterkörper als dem seinen ruhte! Es ergibt sich ein reichlich seltsames Bild. Wir haben hier diese mehrere Meter hohe Plattform am äußersten Ende der Schanze, direkt an der Wand. Auf ihr befindet sich eine Anzahl verstümmelter Leichen, die auf sehr wenig Raum aufrecht stehen oder sitzen. Sie tragen Waffen, Schilde und Rüstungen, aber sie haben keine Köpfe, und ihre Körper bestehen aus zwei verschiedenen Kadaverteilen. Die Leichen verwesen, aber da sie sich hoch über dem Boden befinden, wo sie dem Luftzug ausgesetzt sind und das Dach sie vor Nässe schützt, fallen sie nicht völlig auseinander. Die Muskeln und die Weichteile verwesen, aber Sehnen und Haut mumifizieren. Während dieses Prozesses scheinen sich die Gliedmaßen auf groteske und unnatürliche Weise zu bewegen. Als aufgrund eines unbekannten Ereignisses die Plattform zusammenbrach (oder zum Einsturz gebracht wurde), fielen die mumifizierten Leichen mehrere Meter in die Tiefe, verblieben aber größtenteils in ihrem ursprünglichen Zustand. Das Ganze erinnert an eine Bemerkung Diodors, der behauptete, dass der Sieger nach dem Kampf seinem gefallenen Gegner den Kopf abschnitt und ihn an die Zügel seines Pferdes hängte. Während er heimritt, um seine blutigen Trophäen über die Tür seines Hauses zu hängen, sammelten die Diener den Rest der Leiche und die Waffen ein. Könnte es sein, dass diese Teile in derartige Tempel wanderten?
Ribemont hat aber noch mehr zu bieten als das. Auch um die Palisade herum fand man menschliche Knochen. Wieder finden wir kopflose Körper vor, die aus verschiedenen Ober- und Unterkörpern zusammengesetzt waren, und wiederum waren diese Körper vollständig mit Waffen und Rüstungen ausgestattet. Ihrem Zustand nach zu urteilen ist es wahrscheinlich, dass diese morbiden Dekorationen aufrecht an der Wand lehnten und über Jahre hinweg friedlich vor sich hin verwesten. Innerhalb der Anlage und nahe bei ihren Ecken kommt es noch knochiger. Hier finden wir winzige, offene Einfriedungen, die wie Quadrate aussehen, mit einer Seitenlänge von 2 m. Die kleinen Wälle waren komplett aus Langknochen erbaut worden, die man sorgfältig aufeinander gestapelt hatte. Etwa 2000 von ihnen (von etwa 600 Leuten) wanderten in das Nordgebäude. Die meisten von ihnen stammten von Menschen und einige auch von etwa zwei Dutzend Pferden. Daraus wurde ein kleiner Wall erbaut, der etwa 70–100 cm hoch war. Wahrscheinlich hatten diese frühen „Knochenhäuser” kein Dach. Die Knochenwände umgrenzten einfach einen kleinen, heiligen Ort, wo unbekannte Riten durchgeführt wurden. Innen war der Boden mit menschlichen Beckenknochen gepflastert. Im Zentrum befand sich eine kleine Grube von nur 25 cm Durchmesser, aber fast einen Meter tief, gefüllt mit den zermalmten, verbrannten Überresten von hunderten menschlicher Langknochen. Das Knochenhaus im Südosten enthielt ebenfalls eine Anzahl menschlicher Langknochen. Außerdem wurden Fragmente von Knochen gefunden, die verdächtig danach aussahen, als sei das Mark extrahiert worden. Kannibalismus? Oder vielleicht nur Reinigung? Denk mal darüber nach. Erwäge alle Möglichkeiten. Da die Knochen vorher bereits eine Zeit lang der Verwesung ausgesetzt waren, bevor man sie zerbrochen hatte, ist es wahrscheinlich, dass das Mark nicht mehr essbar war. Alles in allem haben die Ausgrabungen von Ribemont bisher mehr als 15,000 menschliche Knochen zu Tage gefördert. Mehrere tausend Metallobjekte kamen zum Vorschein, unter ihnen etwa 500 Lanzenspitzen. Die Ausgrabungen sind noch nicht beendet. Vielleicht erwarten uns noch viele Überraschungen. Das Ausstellen der Trophäen, Leichen und Knochen fand zu Beginn des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeit ein Ende. Ab diesem Zeitpunkt wurde Religion in Ribemont zu einer eher symbolischen, weniger nekrophilen Angelegenheit. Der Glaubenswandel muss gründlich gewesen sein, denn als die Römer kamen, um das Land zu besetzen, fanden sie nichts vor, gegen das sie etwas einzuwenden gehabt hätten (außer den Druiden). Eine große Siedlung entstand um den Komplex herum, der Tempel wurde wieder aufgebaut, und alles war bis ins dritte Jahrhundert hinein voll funktionsfähig.
Abschliessend könnte man sagen, dass die gallischen Tempel, speziell in Nordfrankreich, sich intensiv dem Sammeln und Verehren morbider Trophäen verschrieben hatten. Natürlich wäre es leicht, die vielen Menschenknochen als Beweis für Menschenopfer zu interpretieren. Das könnte sein, muss aber nicht notwendigerweise so gewesen sein. Die Krieger von Ribemont waren vielleicht Opfer, vielleicht wurden aber auch würdige Feinde ausgestellt, die auf dem Schlachtfeld gestorben waren, oder es handelte sich um eine Massenexekution von Kriegsgefangenen oder sogar eine Anzahl stammeseigener Krieger, denen die Ehre zuteil wurde, den Tempel beschützen zu dürfen. Wer weiß schon, ob die verbrannten Knochen in den Gruben Freund oder Feind gehörten? Wer weiß, ob es ein Privileg oder eine Beleidigung für die Toten war, wenn aus ihren Knochen Wälle gebaut wurden? Wessen Knochen bildeten den Boden des Knochenhauses, und wessen Knochen wurden zerschlagen und verbrannt? Sei es, wie es sei, ich möchte darauf hinweisen, dass, ganz egal, wer in diesen Tempeln endete, sie mit Sicherheit Orte des schieren Verfalls waren. Es ist eine Sache, Knochen zur Schau zu stellen; tatsächlich tun das viele Völker überall auf dem Erdball. Die Frage ist nur, wie sie eigentlich das Fleisch entfernen. Die Leiche zu kochen ist eine viel sauberere Sache, als sie einfach verrotten zu lassen. Wenn ein Stier in der Grube von Gournay verweste, muss das ein ziemlich übler Anblick gewesen sein. Kannst Du Dir den Gestank vorstellen, die sich windenden Maden, kannst Du das Summen einer Million von Aasfliegen hören? All das hatte offensichtlich seinen Platz in der Welt der gallischen Religion der La Tène-Zeit. Diese Menschen, ganz egal, ob wir glauben, dass sie Druiden oder eine unbekannte Priesterschaft waren, machten aus ihren heiligen Orten Tempel der Verwesung und des Verfalls. Was ist heilig an der Verwesung? Kannst Du Dir ein totes Tier am Straßenrand ansehen und seine ästhetischen Aspekte schätzen, wie Baudelaire es tat? Es ist nicht einfach ein Totenkult, es ist ein Kult der Verwesung. Ich würde allerdings dafür eintreten, dass das nicht zwangsläufig bedeutet, dass die gallischen Priester morbid oder vom Tod besessen waren.
Für den modernen Menschen ist der Anblick einer Leiche etwas Schreckliches, aber das liegt daran, dass die westlichen Kulturen offenbar große Angst vor dem Tod in allen seinen Erscheinungsformen haben und daher versuchen, ihn aus dem Alltagsleben zu verbannen. Darf ich fragen, wie viele meiner Leser jemals einen Menschen haben sterben sehen? Und wie viele von denen, die Fleisch essen, haben jemals versucht, ein Tier zu töten? Ja, es ist einfacher, einem anderen die Schmutzarbeit zu überlassen. Ich frage mich, ob das eine gesunde Einstellung ist. Die Kelten waren näher am Sterben dran; jedes Kind war daran gewöhnt, zu sehen, wie Tiere geschlachtet wurden, nicht zu reden von den Dingen, die geschahen, wenn Verbrecher hingerichtet wurden oder wenn im Frühling wieder Krieg, Viehraub und nächtliche Angriffe zur Begleichung alter Schulden angesagt waren. Wenn Du ein verwesendes Tier betrachtest, wird es Dir vermutlich schwer fallen, zu akzeptieren, dass Tod und Verfall eine eigene Ästhetik haben. Viele Buddhisten und einige obskure tantrische Sekten meditieren angesichts verwesender Leichen oder besuchen Orte des Todes und Gräber, um sich an solche Erfahrungen zu gewöhnen. Es kann gut sein, dass die Priesterschaft solche Orte des Schreckens benutzte, um ihre eigenen Ängste und Befürchtungen zu besiegen und ein reifes Verständnis für die Tatsache zu entwickeln, dass Materie immer irgendwann zerfällt. Vor diesem Hintergrund könnte ein Tempel des Gestanks und der Verwesung genau der richtige Ort sein, um Ängste und Sorgen zu überwinden. Die Ästhetik des Grauens kann einen kathartischen Effekt haben, der zur Gewöhnung und schliesslich zum Seelenfrieden führt.
Anstatt nun zu Schlussfolgerungen zu kommen, möchte ich Dich bitten, diese Gelegenheit zu nutzen. Schließe die Augen, lass in Deiner Phantasie eine Tempelanlage entstehen und erforsche sie. Kannst Du die mumifizierten Leichen der Krieger oder den Stier in seiner Grube verwesen sehen, ohne dass Dich dieser ungewöhnliche Anblick emotional durcheinander bringt?
Roquepertuse
Zuletzt lass uns einen Blick auf Roquepertuse werfen. Dieser sakrale Distrikt gilt als Musterbeispiel für keltische Tempel, seit er in den 20´er Jahren ohne allzuviel Sorgfalt freigelegt wurde. Das Museum von Marseille hat die Möchtegern-Rekonstruktion stolz ausgestellt; es handelt sich im Wesentlichen um ein paar Steinpfeiler mit Nischen für Schädel, Teile von Statuen, die unbekannte Götter darstellen und einen sitzenden Vogel, der auf mehr unterschiedliche Arten interpretiert worden ist, als gut für ihn war. Das Ergebnis ist zwar eindrucksvoll (s. Illustration), lässt aber eine Menge Fragen offen. Ausgrabungen in den frühen 90´ern von B. Lescure haben ergeben, dass Roquepertuse sehr viel geheimnisvoller war. Zunächst einmal war die heilige Anlage kein abgeschiedener, isolierter Ort, sondern lag direkt neben einer Siedlung. Sie war auch viel größer als bisher angenommen. Wo die frühere Archäologie nur einen kleinen heiligen Bezirk gesehen hat, geht die moderne Forschung von einem so großen Bereich aus, dass sich die Frage stellt, ob tatsächlich der ganze Komplex sakral war. Die Steinpfeiler, die im Museum mit 70 cm Abstand aufgestellt sind, waren tatsächlich mehr als 2 m auseinander. Es gab eine Menge von ihnen, und auch Kopfstücke, die sie verbanden, und ein Dach über ihnen. Abgesehen von Anzeichen für eine Plattform im zweiten Stock und einer massive Steintreppe, die hinaufführte, dürfen wir uns die Steine in lebhaften Farben bemalt vorstellen. Heute kann man sie nicht mehr mit blossem Auge wahrnehmen, aber wenn man die Fluoreszenzmethode verwendet, sieht man Pferde, eine Schlange, ein Pferd mit einem Fischschwanz und eine große Anzahl geometrischer Symbole.
Diese Bilder werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten; die grüne Farbe beispielsweise war ein Importartikel aus Verona in Norditalien. Das gleiche gilt für die Bilder: Das Pferd mit dem Fischschwanz ist weder Teil der keltischen noch der griechischen Ikonographie, es taucht hauptsächlich bei den Etruskern auf. Das wirft die Frage auf, ob Roquepertuse überhaupt ein typisch keltischer Tempel war. Bemerkenswert wenige rein keltische Gegenstände wurden an dem Ort gefunden. Das Material weist nicht nur auf umfangreiche Importe aus Norditalien hin. Wir müssen uns auch fragen, ob die Leute von Roquepertuse vielleicht einer der Keltenstämme waren, der sich im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit in Norditalien niedergelassen hatte und seither unter dem Einfluss seiner etruskischen und ligurischen Nachbarn starke kulturelle Veränderungen erfahren hatte. Ach ja, und was die Schädel in den Nischen angeht, stellt sich jetzt heraus, dass sie ins Innere des Sakralgebäudes gewandt waren. Darüber könnte man einmal nachdenken. Bei Schädeln über der Eingangstür oder an der Aussenseite einer Mauer kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass sie eine apotropäische Funktion hatten und benutzt wurden, um Feinde und böse Geister abzuschrecken. Man könnte auch annehmen, dass die Schädel nicht unbedingt von freundlichen oder verehrten Personen stammten. In Roquepertuse konnte man die Schädel innen im Tempel sehen, sie wurden durch ein Dach geschützt und aller Wahrscheinlichkeit nach geschätzt und respektiert. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Verehrung von Schädeln in der keltischen Welt alle möglichen Formen annehmen konnte. Die Siedlung und das Heiligtum von Roquepertuse wurden um 200 vor unserer Zeit herum von unbekannten Personen zerstört – ein guter Hinweis darauf, dass das Leben im keltischen Gallien nicht so friedlich war, wie manche es gern hätten.
Um es noch einmal zusammenzufassen, würde ich vorschlagen, dass es sich bei den Kultorten der La Tène-Zeit-Kelten nicht einfach um Orte gehandelt hat, sondern um Orte des Übergangs, Passagen in andere Reiche und Realitäten. So, wie sich der geschlachtete Stier in einen Schwarm summender, krabbelnder Fliegen und Würmer verwandelte und nur die nackten Knochen zurückließ. Waren Aasfresser wie Krähen, Raben, Wölfe, Hunde, Schweine, Fliegen, Insekten und so weiter den Kelten heilig?

Karte der Ausgrabung von Ribemont
nach Brunaux. Ribemont-sur-Ancre.
Viele von ihnen tauchen in keltischen Mythen auf. Und da wir gerade von Aas sprechen, kannst Du Dir vorstellen, was für ein gesundheitliches Risiko diese heiligen Schanzen darstellten? Jemand kümmerte sich ja um diese Plätze. Jemand stellte die Leichen auf, und säuberte die Grube, nachdem der Stier verwest war. Waren es Druiden oder eine uns unbekannte Priesterschaft? Und wie gingen sie mit Infektionen, Leichengift und einer hohen Sterblichkeitsrate um? War das der Preis, den man für die Fähigkeit zahlte, die Bevölkerung einzuschüchtern, die Adligen zu beherrschen und die Herrscher in Schach zu halten? Denk mal darüber nach. Wenn die Druiden Galliens so große Macht ten, wie sicherten sie sich dann ihre Macht in einer aus streitlustigen Hitzköpfen bestehenden Gesellschaft? War es der Zweck von Ribemont und Gournay, die Bevölkerung zu Tode zu erschrecken?
Und was hat es mit der Viereckform der Anlage auf sich? Ist es nicht verführerisch, sie mit der viereckigen Gralsburg in Verbindung zu bringen, mit der viereckigen, rotierenden Burg der Anderswelt oder mit dem menschlichen Körper mit seinen vier Hauptpunkten (zwei Schultern, zwei Hüftknochen) der mittelalterlichen, bardischen Lehre? Was macht eine quadratische oder leicht rechteckige Form heilig? Und warum gibt es keine einzige exakt quadratische Viereckanlage? Was ist an Trapezformen so Besonderes? Vielleicht möchtest Du eine Weile darüber meditieren. Man sollte meinen, dass ein quadratischer oder rechteckiger Grundriss bereits bekannt war, ebenso wie Wälle, Gräben und Palisaden, und zwar von Verteidigungsanlagen her. Doch das ist nicht der Fall. Die Kelten bauten Verteidigungsanlagen und Ringwälle auf Berg- oder Hügelkuppen. Manchmal halfen sie der Natur ein wenig nach und machten Abhänge etwas steiler oder flachten sie oben etwas ab. Trotzdem passten sie ihre Verteidigungsanlagen dem natürlichen Terrain an. Keltische Festungen haben meist unregelmäßige Formen und abgerundete Ecken. Es waren die Römer, die rechteckige Forts einführen und bewiesen, dass sie allen Erdwallfestungen der Frühzeit überlegen waren.
Den militärischen Hintergrund können wir also vergessen. Was könnte den Kelten noch Modell gestanden haben für ihre Tempel? Denk mal darüber nach, wo man quadratische Formen in der Natur findet. Du wirst schnell feststellen, dass sie selten sind. Was als Grundriss für von Menschen bewohnte Gebäude, Siedlungen und Straßen so außerordentlich nützlich ist, stellt sich in der Natur als verblüffend rar heraus. Wo finden wir also den Prototyp der Viereckanlage? Wurde die Form gewählt, gerade weil sie so „un-natürlich” ist? Oder sollten wir die Antwort suchen, während wir den Himmel betrachten? Um der kreativen Spekulation willen möchte ich Deine Aufmerksamkeit auf die Konstellation Ursa minor am nördlichen Himmel lenken. Ich möchte Anad danken für diese bemerkenswerte Idee. Hier finden wir eine moderate Viereckschanze vor, obgleich ich vielleicht hinzufügen sollte, dass zwei der vier Sterne, die sie zu einem Viereck machen, an unserem modernen verschmutzten Nachthimmel schwer zu erkennen sind. Ursa minor, der kleine Bär, ist wichtig, weil er so nah an der Nordachse liegt, wo frühere Kulturen den Ort vermuteten, an dem der Himmelspfeiler den Himmel stützt. Heutzutage befindet sich Norden fast exakt am Polarstern, der selbst Teil des Schwanzes von Ursa minor ist.
Der Nordpunkt, der vom Winkel der Erdachse definiert wird, bewegt sich. In der La Tène-Zeit lag er näher an der „Viereck-” oder „Rechteck”-Schanze Ursa minor als und Polarstern. Man könnte die Konstellation spekulativ als viereckige, rotierende, sich um sich selbst drehende Burg bezeichnen und sie mit Taliesins Lied „den Herrscher will ich preisen”, Bo T 30 (s. im Kapitel „der ewig hungrige Kessel”) vergleichen, oder mit Cu Rois Burg in den irischen Mythen und dem Plan heiliger kelto-germanischer Spiele wie Gwyddbwll, Tawlbwrdd, Tablud, Tafl, Fithcheall, Brandubh oder mit den verzauberten viereckigen Burgen, die in der frühen Gralsliteratur so reichlich vorkommen.
Sei es, wie es sei, es ist wahrscheinlich nützlich, sich keltische Kultorte als Plätze des Übergangs, der Transzendenz und der Umwandlung vorzustellen. Was ihnen heilig war, war immer auch ein Tor zu einem anderen Bewusstsein. Heilige Haine, Tempelanlagen, Brunnen, Sümpfe, Seen, Felsspitzen, Höhlen und so weiter ergeben einen Sinn, wenn man sie sich nicht einfach als Plätze vorstellt, sondern als Orte des Übergangs. Heiligkeit beinhaltet die Erfahrung des Numinosen, und was heilig ist, ist nicht notwendigerweise ein Ding oder ein Ort, sondern eine bestimmte Qualität der Erfahrung. Das gilt für von Menschenhand erbaute Gebäude ebenso wie für geweihte Wälder oder heilige Flüsse. Halte nach den Toren Ausschau!
Schatten im Labyrinth
Es ist einfach Pech, dass wir so wenig über die Götter der keltischen Vorzeit wissen. Dass es viele Götter gab und dass Dutzende von Religionen existierten, ist halbwegs sicher, aber worum genau es sich dabei handelte, ist eine Frage, die nur das sprudelnde Wasser, die Flammen des Lagerfeuers, die heulenden Winde und der sternfunkelnde Himmel beantworten können. Wie auch immer die frühkeltische Religion ausgesehen hat, können wir nicht wissen. Diese Situation bessert sich ein bisschen, wenn wir zu den letzten Phasen der La Tène-Zeit kommen, als griechische und römische Autoren begannen, die eine oder andere Kuriosität über den Glauben der Kelten Galliens aufzuzeichnen. Nun ist Gallien nach allem, was wir wissen, nicht repräsentativ für die vielen Kulturen der sogenannten keltischen Welt. Dennoch sind diese kleinen Bruchstücke, so zweifelhaft sie auch sein mögen, das Einzige, was wir in der Hand haben. Wie sahen die keltischen Gottheiten aus?
Im Hinblick auf die meisten hat fast nichts überlebt. Sehen wir uns einige wenige von ihnen mal an. Nehmen wir dazu die berühmte Passage von Lukan (Bellum Civile/ Pharsalia). Lukan berichtet seinen Lesern, die drei höheren Götter Galliens seien Teutates, Esus und Taranis gewesen. Die Namen von drei gallischen Göttern zu kennen war schon mal gar nicht schlecht für einen römischen Dichter, der wahrscheinlich nie in Gallien gewesen war! Seine kurze Anmerkung wurde allerdings von Wissenschaftlern und populären Schriftstellern sehr missbraucht, da die meisten von ihnen sie ohne irgendwelches Nachfragen einfach abschrieben. Insbesondere die Gelehrten des 19. Jahrhunderts neigten dazu, „die Kelten” als eine einzige Nation anzusehen, oder, noch schlimmer, so etwas wie ein schlecht organisiertes Imperium. In Übereinstimmung mit den Vorurteilen ihrer eigenen Zeit gingen sie von einer einheitlichen Religion aus, und Lukans Aussage war genau das, was sie in ihren irrigen Annahmen bestätigte. In vielen von den älteren Studien findet man die Fabel von den drei höheren Göttern als plattes Faktum präsentiert – heute sind die Wissenschaftler vorsichtiger, das gilt aber nicht für zahllose Anhänger der neokeltischen Kulte.
Die religiösen Inschriften Galliens erwähnen 375 Götter, von denen 305 nur einmal genannt werden (Hutton, 1991). Das bedeutet nicht, dass die nur einmal genannten weniger wichtig waren, es bedeutet nur, dass es wenig Beweismaterial gibt. Die meisten Inschriften stammen von Altären, Statuen und Sakralgebäuden romanisierter Gallier. Vor der Besatzung wurden die meisten Gottheiten nicht in Gestalt von steinernen Statuen verehrt, und man hielt auch ihre Namen nicht fest. Die Völker des besetzten Gallien, Germanien und Britannien lernten von den Römern, wie man Statuen anfertigt und Altäre beschriftet. Früher existierte die eine oder andere Stein- oder Holzstatue, aber erst durch den Kontakt mit den Römern wurden diese Gegenstände wirklich populär. Wir müssen davon ausgehen, dass die Menschen der späten La Tène-Zeit oft abstrakte Vorstellungen vom Erscheinungsbild ihrer Gottheiten hatten. Nach der Besetzung begannen die Steinmetze, Statuen für die Legionen anzufertigen, und schon bald folgten Statuen der Lokalgottheiten - die meisten von ihnen ähnelten den römischen Vorbildern. Es gibt viele gallische Götterbilder, die fast exakt so aussehen wie die römischen Götter, sie haben lediglich einen gallischen Namen und ein paar andere Attribute.

Das Knochenhaus. Ribemont-Träume.
Teutates, Esus und Taranis
Hier rennen wir geradewegs in die „römische Interpretation” hinein. Die Römer tendierten dazu, die Namen der Götter ihres Landes den Göttern der besetzten Provinzen zuzuordnen. In manchen Fällen war das hilfreich, da es auf die Funktion eines bestimmten (unbekannten) Gottes hinwies. Aber häufiger täuschte es, so zum Beispiel, wenn verschiedene römische Götter einer einzigen keltischen Gottheit zugeordnet wurden, oder wenn die Gottheit so ausgefallen war, dass die Römer keine richtige Entsprechung dafür fanden. Und wenn wir das archäologische Beweismaterial für Lukans drei Götter in Betracht ziehen, wird es richtig obskur. Teutates (oder Toutates) könnte möglicherweise von *Teuto-Tatis stammen, was soviel bedeutet wie „Vater des Stammes”. Das macht ihn sicher zum wichtigsten Stammesgott, aber wir erfahren nicht, wer oder wie dieser Gott ist. „Vater des Stammes” deutet auf Ahnenverehrung hin, vielleicht auch vergöttlichte Ahnen, aber natürlich leitete jeder Stamm seine Abstammung von einem anderen Ahnen her und hatte wenig Respekt vor den Stammesvätern seiner Nachbarn oder Feinde (diese Begriffe waren häufig austauschbar).






