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Dieses Thema könnte eine detaillierte Studie vertragen.
Kelten und Germanen
Es ist traurig, aber wahr, dass die meisten modernen Keltophilen Anhänger der Fabel sind, die sogenannten keltischen und germanischen Völker seien Erzfeinde gewesen. Man findet Bücher über keltische Mythen, in denen die Kelten mit den amerikanischen Prärieindianern verglichen werden – was immer das wert sein mag (Geldmäßig gesehen offenbar eine Menge), aber es finden sich kaum Autoren, die sich die Mühe machen, darauf hinzuweisen, dass die Mischung sogenannter keltischer und germanischer Stämme in Mitteleuropa so kompliziert war, dass ihre römischen Zeitgenossen sie kaum auseinander halten konnten. Bis zum heutigen Tag streiten sich die Wissenschaftler darüber, welcher Stamm eigentlich zu welcher kulturellen oder linguistischen Gruppe gehörte.
Zwischen germanischen und keltischen Stämmen zu unterscheiden ist sehr leicht, vorausgesetzt, man folgt Cäsars Definition und macht sich nicht die Mühe, sich jüngere Forschungsergebnisse anzusehen. Die besten Gegenstücke zum gallischen Taranis sind der germanische Donar, der angelsächsische Thunor und der nordische Gott Thor. Gwydion könnte sehr wohl mit Wodan/Odin verwandt sein; die Wintergöttin Cailleagh könnte eine Widerspiegelung von Hel, Helja, Hella oder Huldra sein; Brig und Frigg haben vielleicht mehr gemein als ähnliche Namen; Njörd, Nodens, Nehallenia und Nyd entstammen der gleichen ozeanischen Quelle, und ob Lugus ein Nachfolger von Lug, Lleu, Loki oder dem schrecklichen Lukiferus ist, kann man raten.
Vielleicht mal eine Bemerkung am Rande: Eines der Probleme der modernen Forschung ist, dass so viele frühere Forscher das Material schlampig behandelt haben. Etwa so, wie die ersten Archäologen ihre Arbeit verrichtet haben, indem sie Gräber mit Hilfe von Sprengstoff freigelegten, hatten die ersten Prähistoriker eine reichlich naive Einstellung und gaben Erklärungen zu allerhand Dingen ab, die sie noch nicht einmal halb verstanden. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hungerten viele europäische Nationen nach Informationen über die Religion und Kultur ihrer angeblichen Vorfahren, und Wissenschaftler wurden dafür bezahlt, dass sie Resultate vorweisen konnten, ganz egal, wie. Das war die Zeit, wo nationale Identität „in” war, als eine Nachfrage bestand nach Ahnen, auf die man stolz sein konnte. Es war die Zeit einiger großer Fälschungen. Es war auch die Zeit, in der Wissenschaftler, die Fragezeichen stehen liessen, anstatt (falsche) Gewissheiten zu liefern, schnell arbeitslos wurden. Und das Schlimmste von allem war die Politik. Es ist schwer vorzustellen, aber die Leute glaubten damals noch an Politik. Französische Prähistoriker überzeugten ihre Landsleute davon, dass der Ursprung aller keltischen Kultur Gallien sei. Deutsche Historiker postulierten einen uralten Konflikt zwischen stolzen, edelgesonnenen Germanen mit degenerierten Kelten, die zu leicht an berauschenden Wein aus südlichen Landen herankamen. Englische Wissenschaftler gingen noch einen Schritt weiter und vermuteten, dass sich ein tiefer Graben zwischen den keltischen und den angelsächsischen Bewohnern ihres Landes aufgetan habe. Die Angelsachsen, so dachten sie, seien geradlinige, logische Denker gewesen, sehr nüchtern, ein bisschen langweilig, aber wirklich prima Verwaltungsbeamte. Die Kelten dachten in Spiralen, pflegten eine Million abergläubischer Bräuche, waren sehr intuitiv und außerdem gute Dichter. Anhand solcher Theorien war leicht zu erklären, weshalb die Engländer die regierende Schicht waren und die Waliser, Schotten und Iren sich glücklich schätzen konnten, dass solche fähigen Denker über sie herrschten und sie ausbeuteten.
Derartiges wurde von Wissenschaftlern ausgebrütet und eifrig von der Öffentlichkeit aufgesogen. Da so viele politische Spannungen dahinter steckten, wurde von einem fundamentalen Unterschied zwischen Briten und Angelsachsen (Kelten und Germanen) ausgegangen. Solche Theorien dienten auch dazu, um wissenschaftlich zu beweisen, dass die Iren außerstande waren, sich selbst zu regieren. Manche Wissenschaftler gingen auch noch über diesen Punkt hinaus und fanden, die ganze Sache hätte etwas mit arischer Überlegenheit zu tun. Ihrer Meinung nach waren die Iren noch nicht einmal Indo-Europäer. Um das ärgerliche Faktum zu verheimlichen, dass Irisch durchaus eine indo-europäische Sprache ist, erfanden sie eine Anzahl vager neuer Begriffe und eine dunkelhäutige „hibernische” oder „atlantische” Rasse, von denen die Iren angeblich abstammten. Wenn Dir in der Literatur kleine, dunkelhäutige Kelten und große, blonde Germanen begegnen, kannst Du davon ausgehen, dass sie im 19. Jahrhundert erfunden wurden.
Moderne Wissenschaftler haben diese Theorien längst dem Orkus anvertraut – die Öffentlichkeit aber nicht. Bis zum heutigen Tag glaubt man, die Kelten hätten eine romantische Kultur voller Magie gehabt, während die Germanen und die Angelsachsen oft als nüchtern und ernst dargestellt werden. Und das trotz aller Gegenbeweise. Natürlich kennen wir viele keltische Mythen, aber Rituale haben kaum überlebt. Die Zaubersprüche und Rituale der Angelsachsen sind viel besser dokumentiert, von denen der Nordgermanen ganz zu schweigen.
Und da wir gerade dabei sind, ist Dir aufgefallen, dass die Art, wie vor hundert Jahren der Unterschied zwischen den sogenannten Kelten und Germanen definiert wurde, ziemlich große Ähnlichkeit mit dem Gewäsch hat, das Leute von sich geben, wenn man sie bittet, die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Denken zu definieren? Oder mit dem abergläubischen Blödsinn, der in den 70´er Jahren über die Hirnhälften verzapft wurde?
Götter des Landes
Fahren wir fort mit den Gottheiten der späten La Tène-Zeit. Wie Du Dich vielleicht erinnerst, wurden viele Göttinnen mit Wasser assoziiert und in Gestalt von Quellen, Seen und Flüssen verehrt. Andere Göttinnen waren für das Land zuständig. Die Göttin Abnoba wurde mit einer Bergkette gleichen Namens in Verbindung gebracht, sie stimmt mit dem Schwarzwald überein.

Spekulative Kosmologie. Eine Viereckschanze träumen.
Die Göttin Arduinna war für die Ardennen zwischen Maas und Rhein zuständig. Eine ähnliche Beziehung existiert zwischen der Göttin Boand und dem Fluss Boyne, dem Gott Condatis und der Stadt Condate, der Göttin Eriu und Irland und so weiter. Viele Götter sind bekannt, die für die Landschaft vor Ort standen. Diese Gottheiten waren für die Anwohner sehr wichtig – die Stämme dagegen, die ein paar hundert Meilen weiter weg lebten, kannten sie kaum und machten sich auch nichts aus ihnen. Das mag zu Problemen geführt haben, wenn die Stämme wanderten, was bereits in der Hallstattzeit passiert war (es gibt einige Hinweise auf Siedler vom Hallstatt-Typ in Britannien um 600 vor unserer Zeit, mit denen die britische Eisenzeit begann), noch häufiger aber kam das zwischen 350 und 200 vor unserer Zeit vor, als keltische Stämme über ganz Europa und Kleinasien ausschwärmten. Was passierte mit den Lokalgottheiten, wenn ihre Anhänger auswanderten? Was denkst Du?
In vielen (aber nicht allen) Fällen wurde das Land als eine oder mehrere Göttinnen personifiziert. Das führte zu dem irischen Brauch, den König mit der Schutzgottheit des Landes zu verheiraten. Du hast wahrscheinlich schon einmal von dieser Zeremonie gehört. Eine ziemlich wüste Version davon wurde von Gerald of Wales im späten 12. Jahrhundert aufgezeichnet: Der potentielle König von Donegal kopulierte mit einer Stute. Nach dem Verkehr wurde das Pferd getötet und in einem Kessel gekocht. Die Untertanen aßen das Fleisch, während der König in der Brühe badete. Dann wurde er in Weiß gekleidet, musste barfuß in einem Fußabdruck stehen, der in einen Felsen gemeißelt war und erhielt schließlich seinen Amtsstab. Die Stute verkörpert in dieser Geschichte die Schutzgottheit des Landes, was nicht unwahrscheinlich ist. Allerdings sollte ich hinzufügen, dass die Geschichte, abgesehen von ein paar archaischen Elementen, fragwürdig ist. Schriftsteller zitieren die Geschichte im Allgemeinen so, als sei Gerald persönlich dabei gewesen und kommentieren sie mit Bezug auf alte indische Pferdekulte und –opfer, was einigermaßen spaßig ist. Sie erwähnen kaum je, dass Gerald niemals in Donegal war, Donegal zu seiner Zeit seit sechs Jahrhunderten christlich war und dass die Leute, die diese Geschichte überlieferten, dem fraglichen Königshaus nicht sonderlich wohlgesonnen waren.
Ob die gallischen Kelten an Schutzgöttinnen glaubten, mit denen der König verheiratet werden sollte, steht zur Debatte; als Cäsar nach Gallien kam, war die Einrichtung des Königtums schon lange durch einen permanent zankenden Adel ersetzt worden. Die britannischen Kelten scheinen sich von den Iren darin unterschieden zu haben, dass sie eine Anzahl von Königinnen hatten. Das wirft ein zweifelhaftes Licht auf die Frage, ob der Regent mit der Göttin des Landes verheiratet wurde. Heirateten diese Königinnen dann eine männliche Gottheit, oder war diese Symbolik von untergeordneter Bedeutung oder unbekannt? Für andere keltische Länder gibt es überhaupt kein Beweismaterial. Wir könnten unsere Spekulation noch eine Weile fortsetzen, ohne hinterher irgendwie schlauer zu sein.
Cernunnos
Kommen wir zu dem zur Zeit beliebtesten keltischen Gott. Es handelt sich um eine häufig dargestellte Gottheit mit Hörnern. Diese wird gerne als Cernunnos bezeichnet, was aber recht spekulativ ist. Eigentlich ist der Name nämlich gar nicht überliefert. Es gibt nur eine einzige Abbildung eines gehörnten Gottes (auf einem Altar aus Paris), die eine Namensinschrift hat. Der erste Buchstabe fehlt, der Rest liest sich ’ernunnos‘. Jetzt wird gerne behauptet, der fehlende Buchstabe wäre ein C, was uns einen Gott namens Cernunnos einbringt. Und Cernunnos bedeutet angeblich ’der Gehörnte‘. Dummerweise sind die Sprachforscher anderer Meinung. Alles was mit Hörnern zu tun haben soll, müßte ’Carnunnos‘ geschrieben werden. Als ’Cernunnos‘ ist der Name schlicht nicht übersetzbar. Oder handelt es sich um einen Schreibfehler? Wie dem auch sei, wir haben also einen Gott namens ’?ernunnos‘ der sich durch Hörner auszeichnet. Es können Hirsch-, Stier- oder Widderhörner sein. Oft ist der Gott im gallo-römischen Stil dargestellt, und hat einige Ähnlichkeit mit Pan. Wobei wir zur nächsten Frage kommen. Handelt es sich um einen Gott oder um mehrere? Ist der mit dem Geweih identisch mit den Hörner tragenden? Und wieder gibt es keine Antwort. Wir können nur raten. Noch spaßiger wird es, wenn wir die Bedeutung der Gottheit verstehen wollen. Einige gallo-römische Darstellungen zeigen ihn mit einem gefüllten Beutel, manche auch mit einer Maus. Beides sind Attribute von Mercurius, dem Gott der Händler (und Diebe). Im modernen Wicca sieht das anders aus. Dank Gerald Gardener und seinen Nachfolgern ist Cernunnos nämlich ein Gott der Wildnis, ein Herr der Jagd, ein Gott der wilden Tiere und, in einigen besonders extremen Fällen, ’der älteste Typus der männlichen Göttlichkeit‘. Und dieser Gott ist nach der üblichen Wicca Lehre der Partner einer Göttin die mit dem Mond verbunden wird und, dank Robert Graves Pilzvisionen, eine dreifache Göttin vom Jungfrau-Mutter-Greisin Typ darstellt. Schauen wir uns das mal in Ruhe an. Die Idee mit den wilden Tieren scheint auf einige gehörnte Götter zuzutreffen, und das Abbild auf der Innenseite des Gundestrup Kessels ist hier ein deutlicher Beleg. Die Sache mit der Jagd ist schon spekulativer. Sie geht auf eine mythische Gestalt zurück, einen Geist, Herne der Jäger, welche von Shakespeare erwähnt wird. Angeblich zieht er im Park von Windsor umher. Ob Herne allerdings Hörner hat oder irgend etwas mit den Kelten zu tun hat, bleibt unbekannt. Nun, Herne klingt dem (hypothetischen) Namen Cernunnos nicht unähnlich, und vielleicht ist ja ein Gott der Tiere auch für Jagd zuständig. Oder vielleicht auch nicht. Und dann gib es noch einen gallischen Gott namens Cernenus, der allerdings keine Hörner hat und mit Jupiter identifiziert wird. Was das Leben nicht einfacher macht. Und wie ist das mit der ältesten männlichen Gottheit? Zuerst zum ’ältesten‘. Hier bezogen sich die Begründer des Wicca auf ein berühmtes Felsbild aus der Höhle Trois-Frères, welches ein tier-menschliches Mischwesen zeigt. Dieses tanzt zweibeinig wie ein Mensch, hat aber die Hörner eines Hirsches, die Augen einer Eule und eine Reihe weiterer tierischer Attribute. Die allerdings nicht sonderlich deutlich zu sehen sind. Und die meist veröffentlichte Darstellung dieser Gestalt ist kein Foto, sondern eine Skizze, die wesentlich mehr Detail zeigt, als im Original ersichtlich ist. Ob Breuil das Bild in einem besseren Erhaltungszustand darstellt, oder ob er es kreativ verbesserte, bleibt offen. Wir haben es hier vielleicht mit einer Hirsch-Eule-Mensch Gottheit zu tun. Oder mit einem vermummten, tanzenden Schamanen. Oder einem Schamanen, der eine Gottheit darstellt oder in Besessenheit verkörpert. In diesem Fall ist der Schamane (oder die Gottheit?) männlich. Es gibt noch weitere gehörnte Tänzer in der Höhlenkunst, doch bei denen ist das Geschlecht nicht ersichtlich. Im Wicca wird oft davon ausgegangen, die gehörnten Gott-Schamanen der Höhlenkunst würden die selbe Gottheit darstellen wie die eisenzeitlichen Kelten. Wobei die dazwischen liegenden zehn oder fünfzehntausend Jahre nun wirklich nicht ins Gewicht fallen. Das Problem dieser Interpretation liegt in ihrer extremen Vereinfachung. Zum einen hatten die Steinzeitmenschen ein ganz anderes Verhältnis zur Jagd und den wilden Tieren als die Kelten. Sie waren Jäger und Sammler, wohingegen die Kelten von Rindern, Schafen, Schweinen und dem Ackerbau lebten. Bei ihnen war Jagd eine schöne Sache für die gehobenen Stände, aber keinesfalls für das Überleben notwendig. Und was bedeuten die gehörnten Götter überhaupt? Im vorgeschichtlichen Europa und überhaupt in Eurasien gab es eine ganze Reihe gehörnter Gottheiten. Über die meisten wissen wir gar nichts. Manche waren Götter der Viehzucht oder Gottheiten der Hirten wie ursprünglich Pan. Doch die sind nicht alle männlich. Eine erstaunlich große Anzahl von ihnen ist geschlechtslos. Manche, wie die Darstellungen aus Willowburn bei Gilsland in Cumberland, sind nackt und haben dennoch keine Geschlechtsteile. Waren die Künstler hier schüchtern? Oder war das Geschlecht ohne Bedeutung? Mehr noch, es gibt mehrere britische Darstellungen von gehörnten Göttinnen. Manche haben wunderschöne Hirschgeweihe. Was verblüffend ist, denn Hirschkühe haben keine. Was nun wirklich nicht zum Glaubensbild des modernen Wicca passt. Wir haben also bei den Kelten gehörnte Götter, die aber nicht unbedingt männlich sein müssen. Und wie sieht es mit der Gattin des gehörnten Gottes aus? Als Gerald Gardener in den späten Vierzigern des zwanzigsten Jahrhunderts Wicca entwickelte, verkuppelte er den gehörnten Gott mit einer Mondgöttin. Wie Ronald Hutton so detailliert nachweist (siehe The Triumph of the Moon, a history of modern pagan witchcraft, 1999), war sein Vorbild hier keineswegs eine alte Hexentradition. Es war vielmehr die englische Vorliebe für Pan und Diana. Seit der Renaissance waren dies die in England beliebtesten Gottheiten des Altertums. In zahllosen Gärten, Parks und Anwesen standen Statuen der beiden. Und beide wurden als Paar empfunden, obwohl sie dies in der griechisch-römischen Mythologie nicht sind. Denn Artemis/Diana ist keusch und jungfräulich, während Pan ständig hinter den Nymphen her ist. Aber wie sieht es hier bei den Kelten aus? Im Gegensatz zu vielen anderen keltischen Gottheiten erscheinen die gehörnten Götter fast immer allein. Sollten der Gehörnte eine Geliebte gehabt haben, bleibt dies verborgen. In ihrer aufwendigen Studie zu den gehörnten Göttern (1967 : 172-220) konnte Ann Ross nur auf eine einzige Darstellung hinweisen, in der ein gehörnter Gott eine Partnerin hat.
Und die (möglicherweise männlichen) gehörnten Götter der Kelten sind auch nicht immer mit dem wilden Wald und den Tieren verbunden. Bei den Briten gab es auch gehörnte Götter, die mit Speer und Schild bewaffnet eher zum Kriegswesen gehören. Wie wild ist eigentlich der ’Herr der Tiere‘? Der Gehörnte vom Gundestrup Kessel ist sauber rasiert und trägt eine Art Trainingsanzug, ist also recht präsentabel für einen Waldbewohner. Andererseits finden wir im Mabinogi (Die Herrin der Quelle) eine übermenschliche Gestalt, die als Herr der Tiere bezeichnet wird. Es handelt sich um einen wüsten schwarzen Riesen, der nur ein Auge und ein Bein hat und auf einem Hirsch trommelt, um alle Tiere herbeizurufen. Wobei der Hirsch hier eine Ritualstrommel sein dürfte. Doch dieser Herr der Tiere hat keine Hörner. Und dann gibt es noch etliche zwei und dreihörnige Helden in der irischen Mythologie. Doch die haben wenig mit Waldgottheiten zu tun. Der berühmteste ist Conall Cernach, wobei Cernach ’mit Kanten bzw. Ecken‘ bedeutet. Nach dem Táin Bó Fraích kämpft Conall unter anderem gegen eine riesige Schlange, die aber dann ganz nett wird und dem Helden unter den Gürtel kriecht, worauf die beiden zusammen eine Festung zerstören. Der gehörnte Gott des Gundestrup Kessels hält auch eine Schlange, und dieselbe gehörnte Schlange erscheint auf demselben Kessel bei einer Kriegerprozession. Bei gallo-römischen Götterfiguren hat Mars gelegentlich eine gehörnte Schlange dabei. Doch Conall ist weit entfernt von einem Herrn des Waldes oder der wilden Tiere. Statt dessen ist er der halbgöttliche Ahn des Königshauses von Dál nAraide, ein Kriegsherr, ein Zerstörer von Festungen, ein Grenzkämpfer, und der berühmteste Kopfjäger Irlands. Falls er wirklich mit den gehörnten Göttern verwandt ist, würden diese also hier eher zu einem Krieger und Ahnenkult gehören. Und gerade gallische Götter mit Widderköpfen werden des öfteren mit Mars, dem Kriegsgott identifiziert. Gar nicht zu reden von den gehörnten Kriegerhelmen von Orange, Vaucluse, und ihrer Reliefdarstellung aus La Brague, Alpes-Maritimes in Frankreich, oder den schwer gehörnten Zeremonialhelmen der britischen Kelten. Wobei es sich wahrscheinlich um Ritualsobjekte handelt, denn Hörner machen einen Helm für den Kampf unpraktisch. Ein guter Helm leitet den Schlag nämlich ab. Alles in allem haben wir also einen Haufen unterschiedlicher gehörnter Gottheiten. Eindeutig ist, dass gehörnte Götter bei vielen eisenzeitlichen Kulturen beliebt waren, aber dass es sich dabei um einen einheitlichen Gott gehandelt hat, ist mehr als unwahrscheinlich. Also vergessen wir am besten die Frage, wer Cernunnos wirklich war. Fragen wir lieber, welche Variation der gehörnten Gottheiten Dir am Herzen liegt.
Matronen
Ein weiteres Lieblingsthema sind die Matronen. Hier wird es wirklich verzwickt. So viele Gelehrte des 19. Jahrhunderts haben die Verehrung einer hypothetischen großen Muttergöttin in archaischen Zeiten postuliert… Du weißt schon, die Art von Gottheit, die immer mit Fruchtbarkeitskulten und der Verehrung der Genitalien einhergeht. Unter den wissenschaftlichen Themen des letzten Jahrhunderts war das eines, das den Leuten den Mund wässrig machte, und unter schlecht informierten Neuheiden ist es das noch heute. Die große Göttin, von zahllosen Neuheiden in aller Welt verehrt, hat nur wenig historische Berechtigung. Sie wurde von Wissenschaftlern erfunden, die nach einem Gegenstück zum üblichen männlich-monotheistischen, patriarchalen Gott judäo-christlichen Ursprungs suchten. Diese Wissenschaftler waren der Ansicht, dass Monotheismus der Normalzustand ist (was eine sehr moderne Idee ist), und dass er unweigerlich mit solchen Dingen wie zentralistisch organisierten Staaten, einem einheitlichen Glaubensbekenntnis und so weiter einhergeht. Zu viele moderne Autoren folgen diesem Trend. Sie gehen von einer einzigen keltischen Muttergöttin aus und haben den Nerv, zu behaupten, dass alle anderen weiblichen Gottheiten der Kelten im Grunde Teilaspekte einer großen Mama waren. Wenn man liest, dass sogar blutrünstige, unverheiratete und kinderlose Kriegsgöttinnen Aspekte der großen Muttergöttin sein sollen, fragt man sich, ob der Begriff überhaupt irgendeine Bedeutung hat. Haben Frauen kein Existenzrecht, wenn sie keine Mütter sind? Können Frauen auch noch irgendetwas anderes sein als ein Teil des ewigen Jungfrau-Mutter-Alte-Karussells? Ist Vermehrung das Einzige, was zählt? Wie kommt es eigentlich, dass nicht auch alle männlichen Götter gemeinsam in eine Schublade geworfen werden, auf der „Vatergottheit” steht? Können wir nicht an Götter denken, ohne ihnen gleich ein Geschlecht zuzuordnen? Und was sollen wir mit Göttern anfangen, die das Geschlecht wechseln, tierähnlichen Gottheiten, Gottheiten, die Tiergestalt annahmen, um zu kopulieren, oder asexuellen Göttern? Hätten die alten Kelten tatsächlich geglaubt, dass alle weiblichen Gottheiten Aspekte einer einzigen, alles umfassenden Muttergöttin gewesen wären, warum hätten sie sich dann die Mühe machen sollen, Hunderte von ihnen zu erfinden?
Wie sich herausstellt, wissen wir fast nichts über das Familien- und Sexualleben der meisten keltischen Götter. Wenn wir nach Muttergöttinnen Ausschau halten, finden wir die Matronen, und nicht einmal in Bezug auf sie stimmen die populären Vorurteile. Das Wort Matronen bedeutet Mütter. Die Matronen sind drei Frauen, üblicherweise sitzend dargestellt, die in den letzten Tagen der La Tène-Zeit populär waren und während der römischen Besatzung noch mehr. In Britannien existieren fast 60 Widmungen und Weiheinschriften für sie, davon 49 in römischen Forts oder von Angehörigen der Armeen angefertigt, von denen viele ursprünglich aus dem Rheinland stammten. In den Fussstapfen der Legionen verbreitete sich ihr Kult. Etwa 1.000 Weiheinschriften, Ikonen und Altäre für die Matronen haben überlebt; die meisten stammen aus dem 2. bis 4. Jahrhundert. Wie der Name schon sagt, handelt es sich um Muttergöttinnen. Der Ikonographie nach wäre das nicht ganz so leicht festzustellen, denn keine von ihnen zeigt Anzeichen von Schwangerschaft, und sie werden auch nicht von Kindern begleitet. Manchmal tragen sie einen Korb voller Früchte, aber das tun zahlreiche Gottheiten in der gallo-römischen Bilderwelt. Entgegen der populären Auffassung, die stark von Robert Graves´ Vision einer dreifachen Göttin beeinflusst war, stellen die Matronen nicht Jungfrau, Mutter und altes Weib dar. In den meisten Fällen sehen alle drei Frauen ziemlich gleich aus, sie haben das gleiche Alter, den gleichen Stand und das gleiche Aussehen. Es gibt viele unterschiedliche Darstellungsformen – manchmal tragen sie Roben, manchmal sind sie nackt, sie tragen Hüte, Kapuzen, unbedecktes Haar, und so weiter, aber für gewöhnlich gibt es innerhalb der Dreiergruppe keine individuellen Unterschiede. Dass sie drei Aspekte einer einzelnen Göttin sein sollen, wie Graves und seine Anhänger behaupten, wird nirgends ersichtlich. Stattdessen sollten wir uns bei den römischen Armeen bedanken, dass sie so viele Matronen erfunden haben. Es gab Matronen „aller Nationen”, „von Übersee”, „von Italien, Germanien, Gallien und Britannien”, von kleinen Provinzen wie beispielsweise die Matronen der Sueben, der Friesen, „des Haushalts” und sogar Matronen „des Exerzierplatzes”. Das klingt nicht nach einem einzigen Trio, es hört sich eher wie ein populäres Konzept an, dass an individuelle Bedürfnisse angepasst wurde.
Eine Spur von ihnen hat vielleicht in den mittelalterlichen britischen Mythen überlebt, wo man eine Madron (Mutter) findet, deren einzige Eigenschaft darin besteht, dass sie einen Sohn namens Mabon (Junge) hatte, der ihr mysteriöserweise direkt nach der Geburt geraubt und auf einer einsamen Insel gefangen gehalten wurde, als einer der drei berühmten Gefangenen Britanniens. Mabon geht vielleicht auf einen gallischen Gott namens Maponus (göttlicher Jüngling) zurück, den die Römer mit Apollon identifizierten, dem Patron der Künste und der Heilkunst. Es existiert eine Statue von ihm, die eine Leier trägt; vielleicht erinnerst Du Dich auch von der Bleitafel von Chamalières her an seinen Namen. Ein in Hexham gefundener Altar bezeichnet ihn als Apollo Cithareodus, d. i. „der Harfner”; eine Weiheinschrift aus Ribchester bringt ihn mit der Jagd in Verbindung und zeigt ein Abbild einer Jagdgöttin. In der Geschichte von Culhwch (Mabinogi) taucht er kurz als Experte auf dem Gebiet der Jagd auf, der von König Arthur gebeten wird, einen monströsen, wilden Eber zu jagen. Ein anderer Mabon, mit Beinamern Vab Mellt, ist in der bardischen Poesie der Sohn des Blitzes. Wieviel er und seine alte Mutter mit ihren heidnischen Prototypen gemein haben, ist eine andere Frage.






