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Bild 22
Lakṣmī-Statue
Stein, wahrscheinlich Kajuraho.
Um die drei Zustände zu verstehen, ist es nützlich, ein paar Tage lang Deine Aktivitäten zu beobachten. Wann immer Du Dich gerade an diese Übung erinnerst, überlege, was Du gerade tust. Bist Du jetzt wach? Oder träumst Du? Oder bist Du irgendwo dazwischen? Hier kann es nützlich sein, die Zustände als ‘Welten’ zu betrachten. Die Welt des Wachbewusstseins ist das, was Du mit Deinen Sinnesorganen wahrnehmen kannst (oder eben erschaffst). Es ist, wie andere behaupten, die materielle Welt. Man kann sie sehen, berühren, hören, riechen und schmecken. Sie kann gemessen werden, und sie kann (in einem gewissen Ausmaß) mit anderen geteilt werden. Manche, üblicherweise Leute, die die letzten paar Jahrzehnte in einem Erdloch gelebt haben, halten diese für die objektive Welt und betrachten sie als ‘real’. Andere, die sich die Mühe gemacht haben, ihren Geist mit Quantenphysik, Philosophie und Hirnforschung zu verknoten, erklären, dass sie vielleicht für uns ein wenig objektiv sein könnte; nicht dass wir uns dessen sicher wären, aber vorläufig könnte das reichen. Die materielle Welt ist real für die Instrumente, die sie wahrnehmen und messen können. Oder, im klassisch indischen Denken, wird die materielle Welt durch die Sinnesorgane real gemacht. Die Traumwelt ist anders, da sie viel subjektiver und an Dein Körper/Geist-System angepasst ist. Sofern sie nicht einen materiellen Träger hat, wie ein Gemälde, eine Statue, ein Gedicht, Buch oder einen Film, ist sie sehr schwer zu vermitteln oder mit anderen zu teilen. Ich würde vorschlagen, hier zwei Welten zu unterscheiden, die Welt der Schlafträume und die der Wachträume. Die Traumwelten sind auf ihre eigene Weise real, indem sie Ideen, Emotionen und Inspirationen liefern, die die materielle Welt gestalten. Jeder Gegenstand in Deiner Umgebung, der nicht natürlich entstanden ist, ist eine Manifestation der Traumwelt. Häuser, Straßen, Autos, Bücher waren alle Ideen und Träume, bevor sie in materieller Gestalt manifest wurden. Viele Leute bringen die Realität dieser zwei Welten durcheinander. Tatsächlich überschneiden sie sich. Du kannst einen Baum sehen, fühlen, schmecken, riechen und manchmal hören; dies macht ihn zum Teil der materiellen Welt und des Wachbewusstseins. Du kannst Dir einen Baum vorstellen und ihn mit Deiner Imagination wahrnehmen. Wenn Du das gut machst, wird der Baum Dich beeindrucken, Dich bewegen, eine emotionale Reaktion verursachen; ein Test der Realität einer Imagination besteht darin, dass sie Dich bewegt und Gefühle hervorbringt. Beide Erfahrungen werden zur Erinnerung, der Erinnerung an einen Baum, den Du mit Deinen äußeren und inneren Sinnen erlebt hast. Beide Bäume sind in ihrer eigenen Welt real, beide Bäume sind Repräsentationen. Was bleibt, ist eine Erinnerung an eine Repräsentation Deiner äußeren und inneren Sinne.
Beide Bäume sind real, aber jeder ist nur in seiner eigenen Welt real. Ein Monster, das sich unter Deinem Bett versteckt, ist nicht real oder messbar mit den äußeren Sinnen (Wachbewusstsein), es ist Teil der Traumwelt. Es ist nicht real in der materiellen Welt, aber es ist sicher real in der Imagination. Versteckte Monster haben schon viele Kinder mitten in der Nacht verängstigt, und jede Idee, die das kann, ist ziemlich real. Das selbe gilt für die Trancen, in die Menschen geraten, wenn sie verliebt sind, Angst haben, paranoid, gierig, verärgert, ambitioniert, traurig, inspiriert usw. sind. Du kannst Liebe nicht in der Wachwelt messen, aber sie ist sicherlich stark genug, um Menschen zu beeinflussen. Du kannst Furcht nicht messen, und doch ist Furcht so stark, dass sie Kriege, gesellschaftliche Verpflichtungen, Hierarchien, Traditionen und geregelte Arbeitszeiten verursacht. Jeder der Zustände enthält eine Menge Realität in sich. Die Realität des Wachbewusstseins ist abwesend, wenn Du schläfst und träumst, sie ist bedeutungslos, wenn Dein Geist Tagträume hat und wenn Du starke innere Gefühle wie Sehnsucht, Liebeskummer oder Überlebensängste erlebst. Die Schlaftraumerfahrung ist äußerst real, wenn Du im Traumland bist; sie verblasst zur Erinnerung, wenn Du am Morgen aufwachst. In Magie, Ritual und Religion neigen die Welten zur Überschneidung. Ein materielles Objekt kann eine starke imaginäre Realität haben, ein Traum kann in die Welt des wachen Erlebens projiziert werden. Wenn sich die Welten überschneiden, erleben wir Transformation. Es ist nur von zwischendrin und außerhalb, d.h. Turīya, möglich, dass die anderen Zustände willentlich veränderbar sind. Wir brauchen manchmal einfach Leerlauf, um von einem in den anderen Gang zu kommen.
Schädel und Leichen
Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat ein Haufen von schlecht informierten Möchtegern-Gurus die Idee populär gemacht, dass Tantra einfach spirituelle Erotik sei. Zahllose New-Age-Propheten verkaufen kostspielige ‘Tantra Workshops’, in denen die Leute ein bisschen von der nötigsten sexuellen Grundausbildung bekommen. Was auf diesem Markt als ‘Tantra’ verkauft wird, hat mit dem Original sehr wenig zu tun. Schaumbäder, Kostüme, Make-up, Massage, orientalische Dekoration, ätherische Öle, Kerzen und Räucherstäbchen, Erzeugung einer erotischen Atmosphäre, gemeinsames Atmen, lange Umarmungen, Überwinden von Schüchternheit, Sinnlichkeit, anspruchsvolle Stellungen, Verzögerung der Ejakulation, Reichianische Körpertherapie, bioenergetische Übungen usw. sind gut, wichtig und schön, aber gewiss nicht das, was die Tāntrikas im Sinne hatten. Wenn Du die New-Age-Vision des Tantra als die wirkliche Sache akzeptiert, dann kannst Du in einem Denkmuster landen, das Hedonismus, Sinnlichkeit und Körperkult zum Selbstzweck macht. Ich nehme an, dass jene tantrischen Gurus, die tatsächlich Sex in ihrem Programm hatten, wussten, was passiert, wenn Menschen Erotik als den einzigen Weg zur Glückseligkeit und Befreiung ansehen. Wenn Du den Körper zu sehr verehrst, wirst Du in einer totalen Bindung daran enden. Wenn Du nur das Schöne, das Verführerische, das Wünschenswerte kultivierst, was wirst Du machen, wenn Du und Dein Partner alt werden? Und was wird aus der erotischen Spiritualität, wenn Deine Gelenke nicht mehr wollen, Dein Rücken Probleme macht und die Drüsen einfach nicht mehr so viele Hormone produzieren? Ist Tantra nur für junge, fitte, schöne Menschen gedacht? Nein, das ist eben nicht der Fall. In allen authentischen tantrischen Systemen war erotische Praxis bestenfalls ein Teil des Programms, und bei weitem nicht der wichtigste. Wer in Schönheit schwelgt, muss auch das Gegenteil integrieren.
Kommen wir zu dem im Westen so stark vernachlässigten Gegengewicht zu Erotik und dem Kult der ewigen Jugend: Willkommen auf dem Leichenverbrennungsplatz! Buddha hatte seine eigenen radikalen Ideen bezüglich Schönheit und Begierde. Um seinen Anhängern bei der Überwindung der Versuchungen des Fleisches zu helfen, empfahl er die Beobachtung von Alter, Tod und Verfall. Spätere Generationen machten ein ganzes System von unterschiedlichen Meditationen daraus. Dieselbe Idee taucht in zahlreichen Tantras auf, insbesondere in der nördlichen Tradition. Bitte beachte, dass die folgenden Praktiken nicht für alle tantrischen Systeme typisch oder verbindlich sind, und dass es dabei große Unterschiede gab und gibt. Manche Adepten praktizierten Dinge, die von anderen meditativ oder im Ritual symbolisch erlebt wurden. Die Grundidee ist aber weit verbreitet und ausgesprochen relevant: wenn wir das Schöne, Liebliche und Erotische genießen wollen, sollten wir auch dem Schrecklichen, Morbiden und Abstoßenden ohne Hemmungen begegnen können. Tatsächlich liegt, wie schon Baudelaire erkannte, eine ganz eigene Schönheit in Verwesung und Zerfall. Wer diese zu schätzen weiß, hat auch vom eigenen Vergreisen und Tod nicht viel zu fürchten. So entstand eine ganze Reihe von Ritualen und Praktiken, welche die heldenhaften Tantriker von ihrer Todesangst befreien sollten. Manche sind ganz simpel. Am beliebtesten waren Meditationen auf den Verbrennungsplätzen. Hier begegnen wir hinduistischen und buddhistischen Tāntrikas, die es attraktiv fanden, Stätten der Gefahr, des Schreckens, der Furcht, des Ekels und Schmutzes aufzusuchen. Dazu zählen ehemalige Schlachtfelder, Sümpfe, Wegkreuzungen, Wälder und verlassene Gebäude, in denen man mit Geistern rechnen konnte. Wann immer ein Ort einen üblen Ruf hatte, wurde er für heldenhafte Tantriker sofort attraktiv. Im orthodoxen Hinduismus sind Leichen die verunreinigendsten Objekte, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ein strenggläubiger Hindu darf keine Leichen berühren, ein Tod in der Familie muss mit zahlreichen Reinigungsriten gut gemacht werden, und Besuche von Verbrennungsstätten erfordern beachtliche Vorreinigungen. Doch Verbrennungsstätten sind nicht nur Orte, an denen Leichen verbrannt werden. Theoretisch mag es ja stilvoll sein, wenn ein Leichnam auf einem Stapel edler Hölzer eingeäschert wird, während die engsten Verwandten dabei Wache halten. Später konnte die Asche dann in den heiligen Ganges geschüttet werden, um mit dem Fluss des Universums eine gute Wiedergeburt oder vielleicht sogar Erlösung zu finden. Doch Indien hat über die Jahrhunderte rapide seinen Wald verloren, weite Gebiete sind heute praktisch Wüste, und Holz ist für viele unerschwinglich. Arme Leute erhielten nicht viel Beistand auf dem Weg ins Jenseits, die Leichen wurden nicht völlig verbrannt, wenn Holz zu teuer war, und an manchen berühmten Verbrennungsstätten sind auch Beerdigungen üblich. Kinsley (1998 : 153) nennt das berühmte Tārāpīṭh in Bengalen, wo über 60 Prozent der Leichen beerdigt werden. Durch das regelmäßige Hinzukommen neuer Leichen werden die älteren umgeschichtet, wodurch es ein Leichtes ist, zu Schädeln und Knochen zu kommen. Verschiedene dort heimische Asketen sammeln Schädel, die sie als Bettelschalen, zur rituellen Dekoration oder für die Errichtung der klassischen Schädelsitze verwenden. Solch ein Sitz kann frisch arrangiert werden, er kann aber auch durch Vergraben von Schädeln im Erdboden einer Hütte oder eines Ritualplatzes hergestellt werden. Traditionell sollen unter dem Sitz der Schädel eines Śūdra, eines Schakals, eines Tigers, einer Schlange und einer Kumārī (junges Mädchen) sein. Diese fünf Schädel formen den Sitz des Adepten, sie bilden einen Brennpunkt der Macht und eine Verbindung zur Anderswelt.
Ein Schädel wird auch im klassischen Kula-Ritual, wie Abhinavagupta es beschrieb, gebraucht. Dabei sind die drei essentiellen Elemente das ‚Gefäß‘, der ‚heilige Ort‘ und die ‚Lampe‘. Alle drei können auf vielen Ebenen verstanden werden. Manche nutzen hier einen Schädel, eine Schädelschale, oder eine Kokosnussschale, die auf einem roten Tuch aufgestellt wurde. Jayaratha, Kommentar zu TĀ 29, 14-16 bemerkt, der Schädel wäre einfach der Kopf, der eigene oder der von jemand anderes. Daher wird gesagt: der Kopf ist bekannt als das Fundament aller Göttinnen. Den eigenen Kopf als heiligen Schädel zu erleben, ist übrigens eine schöne Meditation. Im Arrangement ‚erhebt‘ sich das Tuch vom Boden und der Kopf vom Tuch: das Ergebnis nennt sich der ‚heilige Ort‘. ‚Erheben‘ bedeutet in diesem Kontext auch Erregung in der äusseren Wahrnehmung. In der Umgebung werden Kulalampen aufgestellt, die aus essbarer Paste, Ghī (Butterfett) oder Sesamöl mit roten Dochten gefertigt wurden. Ghī wurde bevorzugt: Die Kühe, die auf Erden wandeln, werden als Göttinnen bezeichnet. Die Lampen symbolisieren menschliches Fleisch und sind das zweite Element der Kulazeremonie. Sie können nach dem Ritual verzehrt werden. Das dritte und wichtigste nennt sich ‚Gefäß‘, symbolisiert die Śakti und enthält das Sakrament, also die sexuellen Flüssigkeiten. Zu diesen drei gehört noch Wein, und zwar reichlich, denn Alkohol ist die äußere Essenz von Śiva, aber dieses Thema besprechen wir später noch. Mehr Details in Dupuche, 2006 : 185-193.
Zurück zu den Knochen! Dann gibt es noch den Brauch des Leichensitzens, ein weiteres Thema, von dem Du in ‘Tantra Workshops’ niemals hören wirst. Es kommt vor allem in manchen Riten für Kālī, Tārā und Bhairavī und den Mahāvidyās vor. Normalerweise war Leichensitzen Teil einer Grundinitiation, manchmal wurde es in speziellen Zauberritualen praktiziert, um besondere Kräfte zu bekommen oder Befreiung zu erlangen. Manche (bei weitem nicht alle) Tantriker wurden bei Nacht auf einer Leiche initiiert. Traditionell verwendeten tantrische Adepten frische Leichen. Üblicherweise welche von Männern oder Frauen niederer Klassen, die plötzlich verstorben waren, sei es durch Selbstmord, Gift, Schlangenbiss, Unfall, Ertrinken, Mord oder auf dem Schlachtfeld. Von Leichen unmoralischer, berühmter, verhungerter oder kranker Menschen wurde abgeraten. Auch von solchen der oberen Klassen, allein schon deshalb, weil ihre Verwandten sie bei Nacht bewachen ließen. Im Allgemeinen wurde die Leiche auf eine spezielle Art hingelegt, dekoriert, mit einer Gottheit identifiziert und verehrt. Als Dank für die Nutzung des Körpers gewann die Seele des Verstorbenen Segen. An einem bestimmten Punkt des Rituals wurde die Leiche auf den Bauch gedreht. Ein Yantra-Diagramm wurde auf den Rücken gezeichnet, eine Matte darauf gelegt, und der Initiant setzte sich rittlings auf die Leiche. Die Nacht über betet der Initiant die Leiche und die Gottheit (oft Śiva) in ihr an, rezitiert Mantras, übt den Prāṇāyāma und bietet Opfer dar. Und irgendwann bewegt sich die Leiche, gibt seltsame Töne von sich, lässt Gase austreten oder beginnt sogar zu sprechen. Man muss ziemlich abgedreht sein, um diesen Effekt zu erleben. Andere legen ein Brett auf die Leiche und setzen sich darauf. Dann gibt es jene, die die Leiche eines Kindes, Babys oder Fötus vergruben, um sich daraufzusetzen. Solche Rituale, so abscheulich sie erscheinen mögen, waren keine seltenen Perversionen einer spirituellen Tradition. Sie kommen in der frühesten tantrischen Literatur vor und soweit ich weiß, werden sie insgeheim gelegentlich noch immer praktiziert. Denk tief über die Symbolik nach. Die Leiche, ein durch und durch verschmutzendes Objekt, wird zu einem Vehikel, das seinen Reiter aus der akzeptablen gesellschaftlichen Realität und Konditionierung hinaus trägt. Das zerstört alle Klassenbindungen. Ein Hindu, der eine Leiche berührt, verliert seine Klasse und fällt buchstäblich aus der sozialen und göttlichen Ordnung heraus. Außerdem beruht die Freiheit, derer sich der frisch initiierte Adept erfreut, auf der Akzeptanz und Integration des Todes. Während der Ritus der Seele des Verstorbenen karmische Vorteile bringen kann, erinnert er den Initianten sicherlich an seine oder ihre Sterblichkeit. In einem gewissen Sinne ist die Leiche nicht einfach eine Leiche. Es ist Deine eigene Leiche. Wenn Du auf Deinem eigenen toten Körper sitzen kannst, verstehst Du, worum es bei Befreiung überhaupt geht.
Indem sie solche nekrophilen Riten praktizieren, beziehen zahlreiche Adepten den Tod in ihre Verehrungspraxis ein. Etliche Schulen des tantrischen Buddhismus verwenden Trompeten aus Oberschenkelknochen und Knochenornamente im Ritual. Yogīnīs, hinduistische wie auch buddhistische, trugen häufig Knochenschmuck bei ihren tantrischen Versammlungen, wenn sie die Nacht hindurch gemeinsam Ritual praktizierten, tranken, lachten, sangen und Erleuchtungslieder improvisierten. Knochenschürzen waren begehrte Kraftobjekte, und sehen außerdem recht kleidsam aus (Shaw, 1994 : 81-84, 87-97).
Schädel kommen vorwiegend in einigen tantrischen Systemen Bengalens vor. Sie wurden oft auf Altären platziert oder daneben begraben, so wie sie auch unter Gebäuden und Schreinen begraben wurden. Das könnte Dich an die Schädelverehrung in den keltischen und germanischen Religionen erinnern. Schädel können Gottheiten oder auch verstorbene Tantriker repräsentieren. Manche Adepten sammelten Schädel, in hellem Rot angemalt, um Kraft zu repräsentieren, in ihren Schreinen als Energiequelle. Andere nahmen Schädel, bzw. die Seelen deren Eigentümer, als Schüler an und lehrten, diese Befreiung zu erlangen. Ein Guru erhält Kraft und Verdienst durch die Befreiung anderer, egal, ob sie lebendig oder tot sind. Für einen lebendigen Bericht über die Verwendung von Schädeln in der Kālī-Verehrung siehe June McDaniel in White, (2000 : 77) und ihre Gesamtpräsentation des Themas Offering Flowers, Feeding Skulls (2004). Das alles könnte nahelegen, dass kompetente Tantriker gute Verbindungen zu den Unberührbaren brauchten, die die Toten sammeln und verbrennen. Leichen zu finden, war nicht besonders schwierig in einem Land, in dem jede neue Seuche für Tote am Straßenrand sorgte. Das Problem bestand darin, sie einzusammeln. Im alten Indien hatten diejenigen, die mit den Toten und Sterbenden umgingen, einen extrem unpopulären Platz in der Gesellschaft. Diejenigen, die in ihrer Verehrungspraxis Leichen berührten, taten das so geheim wie möglich.
Die beliebte Alternative zur Verwendung echter Leichen ist die Meditation. Zahlreiche tantrische Adepten imaginierten in Trancezuständen immer wieder ihren eigenen Tod. Sie visualisierten ihre Todeskrämpfe, die letzten Zuckungen, die Entladung von Exkrement und Urin, das Abkühlen des Fleisches. Viele imaginierten, wie Aasfresser sie verzehrten, Tiere wie Schakale, Hyänen, Geier und Krähen, die allesamt Manifestationen der Göttin sind. Sie erlebten Verfall, Fäulnis und die langsame Auflösung des ganzen Körpers. Wenn der Körper verschwunden war, bleib reines, formloses Bewusstsein zurück. Das ist eine große Erleichterung. Doch irgendwann muss man in die menschliche Welt zurück kehren. Dann bauten sie ihr Körper-Vehikel aus Mantras, Gefühlen, Energien, farbigen Lichtern und den Bewusstseins-Essenzen ihrer Götter wieder auf und kehrten voller Enthusiasmus und Lebensfreude in den Alltag zurück.
Tieropfer
Tiere zu religiösen Zwecken zu töten, ist eine der ältesten Ausdrucksformen der menschlichen Verehrungspraxis. Wann immer wir Menschen bei der Opferung beobachten, stellen wir fest, dass das Opfer etwas Wertvolles ist. Das Opfer ist ein Mittel, um ‘Danke!’ zu sagen, für eine Gunst, die man bekommen hat oder eine Bitte um eine Gunst, die man bekommen möchte. Menschen sind Tiere, die Geschenke machen. Wir geben einander, und wenn wir uns der spirituellen Welt nähern, dann geht das Geben und Nehmen weiter. Zu jeder Zeit war ein Tier ein höchst wertvolles Geschenk. Denk an die Ārya, die Indien um vielleicht 1500 v.u.Z. eroberten. Diese Migranten waren Züchter von Rindern, Schafen und Pferden, und für sie war die Opferung eines Pferdes das größte Geschenk, das man überhaupt machen konnte. Das Pferdeopfer, oft durchgeführt und manchmal als Anlass benutzt, um Krieg gegen andere Länder zu führen, wurde in der upaniṣadischen Epoche zu einer eher philosophischen Angelegenheit. Diese Innovation erscheint gegen Ende der vedischen Periode, ganz am Anfang der BāUp. Hier ist die ganze Welt das heilige Ross: der Morgen sein Haupt, die Sonne sein Auge, der Wind sein Atem, der Mund das heilige Feuer, das Jahr der Körper, der Himmel der Rücken, der Luftraum der Leib, die Hufe die Erde, die Jahreszeiten die Beine, Tag und Nacht die Füße, die Knochen die Sterne, das Fleisch die Wolken, Leber und Lunge die Berge und so weiter. Wenn dieses Pferd sich schüttelt, donnert es, wenn es uriniert, fällt Regen, und jede Stimme ist sein Ruf. Aus dem Pferd, das ursprünglich vor allem die Sonne darstellte, war eine Manifestation des kosmischen Allselbst geworden. Und nachdem das vedische Pferdeopfer zu einer Meditation und Erfahrung der universalen Kontinuität gediehen war, leitet die BāUp ganz zwanglos eine Schöpfungsgeschichte ein. Solche Transformationen tauchen mit großer Regelmäßigkeit in der indischen Religion auf; ein materielles Geschenk wird zu einem spirituellen umgedeutet. Dieser Trend geht vom Groben zum Feineren. In der brahmanischen Gesellschaft kam das Töten von Tieren schließlich aus der Mode, und bis zum heutigen Tag zieht es die Mehrheit der Brahmanen vor, ein streng vegetarisches Leben zu führen und keinen Alkohol zu trinken. Weil Menschen sind, wie sie sind, wurden diese rigiden religiösen Vorschriften niemals von allen befolgt. Obwohl die religiösen Gesetze in diesen Angelegenheiten streng sind, ziehen es manche Brahmanen vor, sie zu ignorieren, und da ihre Gesellschaftsklasse (theoretisch) die höchste ist, konnten sie sich am leichtesten solchen Luxus wie Fleisch und Alkohol leisten und diejenigen verhöhnen, die es wagten, sie zu kritisieren. Andererseits gab es immer eine große Anzahl von Leuten niederer Klasse, die es vorzogen, Vegetarier zu werden, obwohl die religiösen Gesetze ihnen erlaubten, sich von jeder unreinen Substanz zu ernähren, die ihnen in den Weg kam, da dies sicher ihr Karman verbessern würde.
In Indien sind die meisten Fleisch essenden und Blut trinkenden Gottheiten weiblich. Diese Gottheiten sind oft gefährlich. Wo die Religion von den Brahmanen kontrolliert wird, also in den zivilisierten Teilen des Landes, in der Nähe von Städten und Regierungsinstitutionen, wurden diese blutdurstigen Gottheiten oft auf eine höchst symbolische vegetarische Diät gesetzt. Ich habe gesehen, wie Durgā riesige Kürbisse statt des traditionellen Stiers geopfert wurden. In den Randbereichen der brahmanischen Welt, unter Stammesvolk und Außenseitern, wurden solche Ersatzopfer nicht immer akzeptiert. Viele blutdurstige Göttinnen wurden mit einer kleinen Schwester ausgestattet. Während die akzeptable Göttin in ihrem Schrein vom örtlichen Brahmanen ein großzügiges Opfer von Gemüse und Blumen bekam, erhielt die kleine Schwester in ihrem abgelegenen Schrein ihr Blutopfer von einem inoffiziellen Priester aus einer niederen Klasse.
An diesem Punkt muss ich hinzufügen, dass ein Blutopfer in Indien nicht so brutal ist, wie die meisten Westler glauben. Sofern die Dinge nicht völlig entartet sind oder ein Tempel einen Massenvernichtungsrekord aufstellen will, werden Tiere nicht im Großaufgebot geschlachtet. Normalerweise werden nur Ziegenböcke geopfert. Sie werden mit Vorsicht und Bedacht zum Altar gebracht, sie werden mit Freundlichkeit behandelt und mit Mantren und Gebeten beruhigt. Ein unwilliges Tier zu opfern, ist ein Verbrechen. Der Ziegenbock wird genau beobachtet; wenn er Zeichen von Furcht oder Widerwillen zeigt, ist er als Opfer ungeeignet. Dahinter steht der Glaube, dass ein Tier eine bessere Stufe im nächsten Leben erlangen kann, wenn es selbst erlaubt, einer Gottheit geopfert zu werden. In diesem Weltbild ist das Töten ist ein freundlicher Akt, der die Seele des Tieres befreit und verbessert und ihr ermöglicht, als menschliches Wesen wiedergeboren zu werden. Wenn das gekrümmte Messer fällt, dann fällt es schnell und das Tier stirbt rasch. Der Tod kommt mit einem einzigen sauberen Hieb. Die Opferung hört an dieser Stelle nicht auf. Die Gottheit erhält den Ziegenbock, üblicherweise durch einen Priester. Dabei nimmt die Gottheit die spirituelle Energie des Opfers auf und durchtränkt den Kadaver mit göttlicher Kraft. Der tote Körper des Tieres wird zum Prasāda (Reinheit, Anmut, Gnade, geistige Ruhe). Das meiste davon wird den Anbetern zurückgegeben, die es nun essen können. Der Ziegenbock wird oft auf einem offenen Feuer neben dem Schrein gegrillt, und die Opferung endet mit einer fröhlichen Mahlzeit für die ganze Familie. Da Indien ein armes Land ist, ist dieses Mahl oft wesentlich besser als das, was die Leute ansonsten zum Leben haben. Es ist seltsam, dass sich so viele Menschen im Westen vom Gedanken an solche Opferungen abgestoßen fühlen. Nirgendwo werden Tiere unter solch geisteskranken Bedingungen aufgezogen, gemästet und geschlachtet wie in der fleischhungrigen industriellen Welt. Der indische Ziegenbock hat ein richtiges Leben gelebt und wird sanft von einer Welt in die andere geschickt. Das Schwein, die Kuh oder das Huhn der industriellen Welt hat nie das Tageslicht gesehen und verbringt seine jämmerliche Existenz eingepfercht zwischen Beton und Metall, gefüttert mit Abfällen, Hormonen und Antibiotika, bevor es mit der ganzen Gleichgültigkeit eines Fließbandes geschlachtet wird.

Bild 23
Hyänentraum.
Hier eine kleine Meditation über Tieropfer. Stell Dir einen Ritus vor, in dem eine Ziege geschlachtet wird. Verwende eine Beobachterperspektive, sieh es also wie ein außenstehender Beobachter. Nun geh hinein. Sieh das Ritual durch die Augen der Verehrenden. Sieh es durch die Augen des Schlächters. Sieh es durch die Augen der Ziege. Und schließlich sieh es durch die Augen der Gottheit. Was hast Du gelernt?






