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Schwerpunkte dieses Buches
Als ich den Kessel der Götter fertig hatte, fragte mich eine Freundin, was ich denn läse. ‘Es ist der Kaulajñāna nirṇaya’, antwortete ich, froh auf das kleine rote Buch schauend, mit seinem ramponierten Umschlag und dem die-Göttin-weiß-was-die-statt-Papier-verwenden-Look, der bei indischen Verlagen so beliebt ist … wundervolles Zeug über Meditation und eins der praktischsten Tantras, die mir je untergekommen sind.’
‘Kein Keltenzeug mehr?’
‘Es geht mir auf die Nerven. Es gibt viel zu wenig praktisches Material in den überlieferten Texten. Ich habe genug von Fragezeichen, mittelalterlichen Mythen und müßiger Spekulation. Zumindest hatten die Kaula-Leute ein klares Interesse an Sachen, die funktionieren. Und sie hatten einen Sinn für Humor. Das ist erstaunlich selten in alter Literatur.’
‘Du wirst doch nicht ein Buch über Tantra schreiben, oder?’
‘Oh nein. Tantra ist riesig, unfassbar und überwältigend. Über das Thema kann man hundert Bücher schreiben. Wenn Du die Menge der erhaltenen Literatur nimmst, kannst Du Dein ganzes Leben mit Forschung verbringen und bekommst doch nur einen Bruchteil zusammen. Sorry, ein Buch über Tantra ist unmöglich.’
Und so ist es auch.
Glücklicherweise muss ich nicht über das ganze Tantra schreiben, was auch immer das sein soll. Ich habe mir nur einen kleinen Bereich an erhaltener (und übersetzter) Literatur herausgegriffen, sie mit einer Menge täglicher Übung kombiniert, mir selbst das Versprechen gegeben, dass dieses Buch kein solches Monster wie der Kessel der Götter werden würde, und mich an die Arbeit gemacht. Zum Glück hatte ich mich schon einige Jahrzehnte mit manchen der aufregenderen ‘tantrischen’ Traditionen befasst. Ich beschloss, mich auf diese frühen Traditionen zu konzentrieren, vor allem Kula, Kaula, Krama und etwas Trika hinzuzufügen, was auch immer funktionieren würde, etwas Geschichte am Anfang, und die große Mehrheit der tantrischen Bewegungen zu ignorieren, die zum Buddhismus oder dem rechtshändigen Pfad des hinduistischen Stell-dich-in-die-Reihe-und-tu-was-dir-gesagt-wird-Tantra gehören. Bedauerlicherweise musste ich einige faszinierende Traditionen auslassen, und zum Glück noch viele mehr, die so stumpf und langweilig sind, dass ich Dich nicht damit belästigen will. Daher ist das Buch, das Du liest, keineswegs repräsentativ für das, was moderne Inder oder Westler als ‘tantrisch’ zu betrachten pflegen, aus dem einfach Grund, dass hier nur einige frühe, kleinere Bewegungen untersucht wurden, und auch diese nur bezüglich ihrer praktischen Anwendung. Und selbst von diesen Entwicklungslinien blieb eine riesige Materialmenge unberücksichtigt.
Nimm zum Beispiel die Initiation. Bei den frühen Kulas und Kaulas bezeichnete Initiation einen Komplex von höchst raffinierten Ritualen, die einen guten Teil Hypnose beinhalteten. Hier war Initiation keine Formalität, sondern eine Erfahrung, die den Initianten von seinem Dasein als ‘gebundenes Tier’ befreit. Nun waren die Kaulas praktische Leute. Sie legten nicht viel Wert auf Vertrauen und blinden Glauben. Stattdessen testeten sie ihre Ergebnisse. So solltest Du es auch halten. Ein Schüler, der die fünf Anzeichen von der Śaktipāta, dem ‘Herabkommen der Energie’, zeigte, wurde ermutigt, weiterzumachen. Für diejenigen unter Euch, die wissen wollen, welche Zeichen das sind, listet sie Abhinavagupta auf (Tantrāloka, 29, 208): Glücksgefühl, Leichtigkeit des Körpers, Zittern des Körpers, Schlaf der äußeren Sinnesorgane und ein gewisses Taumeln oder Schwanken. Weitere Zeichen können z. B. ekstatisches Lachen oder Weinen sein. Manche Initianten werden spontan poetisch, singen, tanzen oder wollen die ganze Welt umarmen. Diese Symptome zeigen ein Herabkommen der Energie (Śaktipāta) an und sind auch Anzeichen dafür, dass die Rudraśakti die verschiedenen Körper/Seinsebenen eines Initianten (zeitweilig) gereinigt hat. Was keineswegs die einzige Herangehensweise an die Sache ist. Es gibt ein riesiges Spektrum an Initiationsmethoden, manche von ihnen so obskur, dass es einen erstaunlich kompetenten Guru braucht, um sie zum Funktionieren zu bringen. Da dieses Buch sich vor allem mit der Praxis beschäftigt und Du vielleicht Dein Ding ohne einen solchen Guru durchzuziehen hoffst (die meisten von ihnen scheinen mit dem ursprünglichen Kula, Kaula und Krama vor dem 14. Jh. ausgestorben zu sein), wird das Thema Initiation ausgelassen. Nichtsdestoweniger ist es ein essentieller Teil der ursprünglichen Traditionen, und ich bitte um Entschuldigung dafür, diesem Thema nicht mehr Raum gewidmet zu haben.
Weitere Themen dieser Art sind die Wissenschaft von den Phonemen, den Kategorien der Existenz, und der riesige Bereich der philosophischen Erkenntnis, die aus den praktischen Erfahrungen jener wundervoll verrückten Seher erwuchs. Schon die Sāṁkhya-Schule unterteile das gesamte Dasein in 25 Prinzipien. Spätere Systeme wie Krama, Pratyabhijña, Kula und Trika erweiterten das Daseinsspektrum zwischen dem Manifestierten, Menschlichen und dem undefinierbar Göttlichen in 36 oder 37 Kategorien oder passten derartige kosmologischen Modelle an die etwa 50 Phoneme des indischen ‚Alphabets‘ an. Das Ergebnis war ein Modell der Welt, in dem sich alle Wesensbereiche, Elemente und Zustände als Klänge darstellen ließen. Das hatte besonders starken Einfluss auf die stetig diffiziler werdende Wissenschaft der Mantras. Hier begegnet man derartig verfeinerten und komplizierten Kosmologien, dass sich die hebräische Qabala, die mesopotamischen Geheimlehren und die Anderswelten der Ägypter im Vergleich dazu wie Kinderspielzeug ausnehmen. Manche spirituellen Systeme waren weitgehend auf solche Spekulationen gegründet: der Weg zum Heil lag im Bedenken, Erkennen und Erinnern. Andere Systeme konzentrierten sich auf praktische Erfahrungen, und wenn den heranwachsenden Tantrikern welterschütternde Einsichten kamen, wurden diese mit einem Grinsen zur Kenntnis genommen, und niemand machte eine große Szene deshalb. Denn erschütternde Einsichten kommen immer wieder vor. Sie zeigen, dass man noch am Leben ist. Doch sollte man hier nicht einfach zwischen ‚Theoretikern‘ und ‚Praktikern‘ unterscheiden, denn so simpel ist es nicht. Es gibt ‘tantrische’ Systeme, die philosophisch erscheinen, es aber nicht sind, weil sie auf spiritueller Erfahrung statt auf Nachdenken, Logik und Spekulation beruhen. Tatsächlich gibt es eine Menge davon, und sie stimmen nicht miteinander überein, oft noch nicht einmal in den Grundlagen. In diesem Buch ist deshalb die ‘tantrische Theorie’ auf ein sehr kleines Minimum reduziert. Eine Ausnahme machen wir im Kapitel über den Krama, um zumindest ansatzweise vorzustellen, zu was für Höhenflügen die Seher/innen Kaschmirs fähig waren. Diese Tradition, obwohl sie größtenteils verloren und vergessen ist, bietet immer noch genug Material, um zum Denken, Verstehen und Erleben zu verhelfen. Und sie ist, was ein besonderer Bonus darstellt, eng mit einer ganzen Serie von Kālīs verknüpft. Auch hier habe ich die Theorie stark vereinfacht. Das alles soll verdeutlichen, dass es den meisten Tantrikern nicht nur darum ging, zu glauben oder Rituale durchzuführen. Nur weil Du und ich möglicherweise die direkte Erfahrung der Theorie vorziehen, will ich nicht den Eindruck vermitteln, dass alle ‘tantrischen’ Gurus so denken.
Ein weiteres Thema, das ich nur ansatzweise behandelt habe, ist die praktische Magie, Zauberei und Beschwörung. Moderne Autoren neigen dazu, den Eindruck zu vermitteln, ‘Tantra’ und ‘Yoga’ seien Disziplinen, die dafür gedacht sind, Wohlgefühl, Gesundheit, Erleuchtung und Befreiung zu garantieren, und dass ihre Anwendung für Zaubereien eine Perversion des ursprünglich reinen Credos sei. Was gut klingen mag, aber schlicht und einfach falsch ist. Zauberei gab es schon immer, und für die meisten Praktizierenden war sie die Hauptsache. Du findest sie in den ältesten Texten. Rituale zur Erschaffung magischer Schwerter, die Feinde aus der Ferne köpfen; Rituale, um Städte zu erschüttern, Gegner zu lähmen, zu betäuben, zu blenden oder auf andere Art zu vernichten usw. sind ausgesprochen häufig. Yogīs und Tāntrikas waren berühmt und gefürchtet für ihre Fähigkeit, in Tiere oder Menschen einzudringen und die Seelen ihrer Opfer in andere Wesen, Leichen oder geeignete Behältnisse zu verbannen. Besonders beliebt war die magische Macht (Siddhi), den Körper eines Königs zu übernehmen, um dann ein Leben der Lust und des Reichtums zu genießen. Die Seele des Königs hatte das Glück, den Rest ihres Daseins in einem Haustier verbringen zu dürfen. Diese Praxis wird in der älteren Literatur ausgesprochen oft erwähnt. Sie wurde nicht nur von bösartigen Hexern verwendet: als der geachtete religiöse Reformator Śaṅkara (er wirkte etwa von 788 bis 820) erkannte, dass ihm zur spirituellen Reife noch die Erfahrung der Liebeskunst fehlte, übernahm er kurzerhand den Körper eines Königs, um sich auszutoben. Netterweise wählte er allerdings einen, der kurz zuvor verstorben war. Dabei gefiel es ihm so gut, dass ihn seine eigenen Schüler nur mit Mühe zum asketischen Leben zurück gewinnen konnten (White, 2011 : 27). Magische Riten wirkten anziehend auf Zauberer und Scharlatane, die Gewinn mit dem Verkauf von Zaubersprüchen machten; sie waren auch erstaunlich beliebt unter Königen und Politikern, die andere Königreiche beherrschen wollten. Weit davon entfernt, eine Perversion der niederen Klassen zu sein, wurden solche Riten vom gebildeten Volk aus den höchsten Ebenen der Gesellschaft geschätzt. Es mag keine populäre Vorstellung sein, aber es ist so, dass viele der frühesten Yogīs und Tāntrikas sich einen Dreck um Ethik scherten oder um das, was moderne, gebildete, politisch korrekte und gut ernährte Menschen für ‘spirituell’ halten.
Alchemie ist ein weiteres Thema, das ich weitgehend auslassen musste. Es wurde von den meisten Forschern ignoriert, außer von solchen Pionieren wie David Gordon White. Die Kunst der Raffinierung und Einnahme von Quecksilber und Zinnober war essentiell in vielen ‘tantrischen’ Systemen, wie bei den Siddhas, Nāthas und Yogīs, und keineswegs eine Nebensache. Zahlreiche Adepten, die den Haṭhayoga und das moderne Sieben-Cakras-System entwickelten, nahmen fröhlich Gifte ein, ungeachtet der Konsequenzen. Sie wollten vor allem die Welt transzendieren oder Unsterblichkeit erlangen, und ersteres hat meistens ziemlich schnell geklappt. Sie verkauften solche Wunderdrogen auch an wohlhabende Aristokraten und Könige. Solche Heilmittel sind heute noch verbreitet: ich habe mit etlichen Nepalis gesprochen, die der Ansicht waren, dass Quecksilber verjüngt und das Leben verlängert. Da vom praktischen Gesichtspunkt aus nur wenig Nutzen in diesem Thema liegt – es sein denn, Du willst Dich umbringen – habe ich die Sache nur hier und da erwähnt.
Schließlich gibt es noch einen gewaltigen Bereich dessen, was man ungefähr als ‘Volkstantra’ bezeichnen kann, basierend auf Myriaden von ethnischen Traditionen und lokalen Gottheiten, Gebräuchen und Ritualen. Während das Wort ‘Tantra’ vor allem ‘Gewebe, (spiritueller) Text, Lehrbuch, Wissenschaft’ bedeutet und alles, was wir von den früheren Systemen wissen, auf schriftlichen Quellen basiert, gibt es einen enorm komplexen, bunten und verwirrenden Bereich von ungeschriebenen Traditionen, die von Leuten entwickelt wurden, die draußen auf der Straße oder als Haushälter in der Gesellschaft lebten. Diese Themen sind faszinierend und werden in den Büchern von June McDaniel wunderbar präsentiert.
Zuletzt möchte ich noch ein Thema erwähnen, welches hierzulande besonders brachliegt. Es handelt sich um spirituelle Musik. Die klassische indische Musik gehört zum Besten, was auf diesem Planeten je entwickelt wurde. Sie besteht oft aus einer subtilen Kombination von traditionellen Elementen (Tonleitern, Rhythmen, kurzen melodischen Elementen) und einer großen Menge Improvisation. Rāgas (spezielle Musikstücke, Farben, Gefühle) sind keine definierten Lieder oder Kompositionen, wie hierzulande üblich, sondern leben durch die Tatsache, dass sie sich bei jedem Spiel neu entwickeln. Wenn ein guter Musiker einen Rāga spielt, weiß das Publikum nicht, ob das Ereignis zehn Minuten oder zwei Stunden dauern wird. Da diese Musik von der Improvisation lebt, ist sie viel eher als ein spirituelles Ritual als eine mechanische Darbietung zu verstehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele bedeutende Tantriker selber begeisterte Musiker waren (und sind).
Überschwängliche Freude, höchste Glückseligkeit, zunehmendes Wissen, das Spiel der Flöte und der Viṇā-Laute, Poesie, Weinen, Redegewalt, Hinfallen und wieder Aufstehen, Gähnen und Herumwandeln – all diese Handlungen, oh Devī, werden als Yoga-Praktiken betrachtet. In diesem Cakra (=Ritualkreis) verhalten sich die heldenhaften Yogīs und Yoginīs, in ihrem ekstatischen Bewusstsein, entsprechend dem Hochgefühl ihres Geistes. (KNT, Kapitel 8, nach Rai).
Musizieren ist eine wundervolle Methode, das limbische System in Deinem Gehirn zu beeinflussen und die Gefühle zu hervorzurufen, die Dich weiterbringen.
Er geht dann zum Kula Pīṭha, um die Kula-Gottheit zu verehren. In der Tür des Andachtsortes zeigt er sich freudig mit Gesang, Tanz und Musikinstrumenten, und nachdem er so den Kula Dämon vertrieben hat, sollte (der Sādhaka) den Kula-Treffpunkt verehren. (KCT, 2, 13-14, nach Finn).
Musik ist viel mehr als Unterhaltung. Sie ist auch eine Form der Bewusstseinsveränderung, eine einfache und praktische Methode, Trancezustände zu generieren. Wir können die Götter mit Gebet und Geste erreichen, aber wir können auch einfach eine passende Tonleiter nutzen, um mit ihnen zusammenzukommen. Da das Thema sehr umfangreich ist, habe ich mich entschlossen, den ursprünglich vorgesehenen etwa dreißig Seiten langen Anhang auf ein winziges Minimum zu reduzieren, und ein paar grundlegende Rāgatonleitern, die bestimmte Götter manifestieren, am Ende des Buchs aufgeführt. Du wirst mit ihnen zwar noch lange keine klassische indische Musik machen, aber sie können Dir helfen, die Götter in einer Klangmeditation zu erleben. Dafür brauchst Du keine indischen Instrumente. Ein paar Flöten in verschiedenen Stimmungen, eine Gitarre, Mandoline oder Geige tun’s auch. Wichtiger als die Instrumente ist das Bewusstsein vom Klang. Klang ist im indischen Denken essentiell: alles manifestiert sich zuerst als Idee, als Vibration, Klang, Energie und zuletzt als mehr oder weniger feste Form. Klang ist dabei viel näher am reinen Bewusstsein als eine vermenschlichte Form. Den Klang zu erzeugen, ist ein Teil der Schöpfung, und genauso wichtig ist es, genau hin zu hören.
‚Daher hört die höchste Göttin alles. Da sie in der Form der Kraft des Hörens weilt, hat sie die souveräne Macht, die darin besteht, stimmige und angemessene Verbindungen zu schaffen, indem sie allen Klang zu einer bedeutungsvolle Ganzheit verbindet …‘ (Abhinavagupta, PTV, Seite 68, nach Singh). Wenn Du wirklich intensiv ins Tantra eintauchen willst, gehört freies Musizieren unbedingt dazu.
Um all diese Auslassungen auszugleichen, kann ich Dir nur empfehlen, soviel wissenschaftliche Literatur über ‘Tantra’ zu lesen, wie Du nur in die Finger bekommen kannst, um zu entdecken, was für Dich funktioniert, und es weiterzuentwickeln. ‘Tantra’ ist kein Fossil aus dem Museum der vertrockneten Spiritualität; es ist vor allem eine Einstellung, die Dein Leben auf vielerlei Weise verändern wird. Manches im ‚klassischen Tantra‘ ist unzeitgemäß, unnütz, unpassend für unsere Gesellschaft, strafbar oder schlichtweg ungesund. Anderes verdient es, wiederbelebt und neu entdeckt zu werden. Wieder andere Methoden lassen sich mit großem Nutzen in andere spirituelle Disziplinen einbringen; hier denke ich vor allem an die modernen heidnischen Wege und die westliche magische Tradition, deren Repertoire an authentischen spirituellen Praktiken dank der traurigen Quellenlage leider eher gering ist. Tantra ist kein Ding an sich, sondern eine Lebenseinstellung. Wenn Du denjenigen danken willst, die Dir voraus gingen, dann lerne alles, was Du kannst, verbessere eine Menge und bring es in neue Dimensionen.
Abkürzungen der wichtigsten Primärquellen mit Kommentaren
AV Atharvaveda Der jüngste der vier Veden; der AV bietet eine große Auswahl an Hymnen, Sprüchen, Flüchen und Zaubereien, rituellen Anweisungen, Formeln und ungewöhnlichem Material, das keinen Platz in den älteren Veden fand. Der Atharvaveda ist bemerkenswert wegen seiner praktischen Nutzbarkeit und seiner poetischen Anmut. Er steht zwischen dem klassischen vedischen Denken und der subtileren Philosophie der Upaniṣaden. Da Zauberei von vielen orthodoxen Hindus abgelehnt wird, wird auch der AV nicht allgemein akzeptiert.
BāUp Bṛhad-āraṇyaka Upaniṣad Vermutlich die älteste Upaniṣad und ein, verglichen mit den Vedas, revolutionäres neues Werk, welches statt äußerlichen Opferriten einen inneren Weg zur Befreiung vorschlägt. Der Text wurde, wie der Titel andeutet, vor allem für waldbewohnende Asketen geschrieben.
DM Devī Māhātmya (auch bekannt als Śrī Durgā Saptaśati oder als Caṇḍī). Ein Text aus dem 6.-7. Jh., der erhalten blieb, da er im Mārkāṇḍeya Purāṇa integriert wurde. Eine der frühesten Manifestationen jener religiösen Richtung, die sich etwa ab dem 10. Jh. als Śākta-Bewegung bezeichnete. Ein kurzes und poetisches Werk in siebenhundert Mantras, welches drei Kämpfe der Devī gegen die Dämonen beschreibt. Darin finden sich auch einige der ersten Beschreibungen von Kālī und den Mātṛkā Devī, denn ohne diese hätten es die Devī wesentlich schwerer gehabt. Der Text enthält wichtige Hymnen und etliche Widersprüche: diese lassen erkennen, dass dieses frühe und wichtige Werk mehrere ältere Traditionen miteinander verbindet.
DBh Devī Bhāgavatam Purāṇa. Ein massives Werk in (angeblich) 100.000 Versen über die Mythologie der Göttin und die typischen Purāṇa-Themen wie Kosmologie, Genealogie, Mythen, Pseudogeschichte, Geografie, tägliches Ritual, Meditation, Anbetung, eintausend Namen der Gottheit usw. Das meiste davon wurde im 13. Jh. vollendet, aber einige Abschnitte scheinen bis ins 17. Jhd. hinzugefügt worden zu sein. Von der Grundstruktur her ist dieses Buch ein Versuch, ein Gegenstück zu den berühmten Viṣṇu- und Śiva-Purāṇas zu schaffen. Ein wichtiger Teilabschnitt wird als Devī Gītā, also Gesang der Devī, bezeichnet und hat als eigenständiges Werk einen hohen Status. Das DBh ist, obwohl ein erklärtes Śākta-Werk, stark von der Vaiṣṇava-Philosophie und der orthodoxen Hindu-Ethik geprägt. Viṣṇu wird in vielerlei Formen gepriesen, Śiva dagegen taucht erstaunlich selten auf. Tantra ist tief darin verwurzelt, wird aber trotzdem meist mit Argwohn betrachtet, Klassentrennung bleibt ein Muss, und trotz aller Göttinnenverehrung sind Frauen nicht berechtigt, das Werk selbst zu lesen. Trotz dieser Mängel bleibt das DBh eine wichtige und umfangreiche Quelle.
DG Devī Gītā (Der Gesang der Göttin). Das wichtigste und beliebteste Teilstück des Devī Bhāgavatam Purāṇa, als Gegenstück zur Bhagavad Gītā verfasst. Der Text wurde um das 15. Jhd. zusammengestellt, enthält aber auch älteres Material der Śākta Tradition und lange Passagen, die wörtlich aus den älteren Upaniṣaden übernommen worden. Das Werk ist erstaunlich umfassend: es enthält eine detaillierte Kosmologie, die stark vom Vedānta geprägt ist, Hymnen, eine mythische Rahmenhandlung und praktische Kapitel, die sich mit Yoga, Meditation, Bhakti, heiligen Orten und sogar tantrischen Praktiken (wie der Kuṇḍalinī) beschäftigen. Dabei wird versucht, Vedānta, orthodoxes Ritual und einen Teil der tantrischen Praxis zu verschmelzen, wobei, wie zu erwarten war, Elemente des Pfades der Linken Hand streng abgelehnt werden. Eines der schönsten Werke der indischen Literatur.
GS Gheraṇḍa Saṁhita Die Lehren des heiligen Gheraṇḍa über Yoga. Vermutlich das einflussreichste systematische Werk in der Entwicklung dessen, was heute weltweit als Yoga gelehrt wird. Viel Material zum Thema Spülungen, Körperhaltungen, Atempraxis usw., sowie ein wenig Meditation und tantrische Praktiken. Dieses Buch hatte einen immensen Einfluss auf die Theosophen, indischen Religionsreformer und natürlich auf Vivekānanda, durch deren Bemühung um 1930 herum der von ‚Aberglauben‘ und ‚Mystizismus‘ bereinigte moderne Yoga entstand. Auf Deutsch erhältlich (Sacharow, 1954).
KP Kālikāpurāṇa ca. 9.-16. Jh.; ältestes erhaltenes Manuskript 1726. Enthält unter anderem wichtige Informationen zu den Mahāvidyās und zu deren Verehrung in Kāmarūpa.
KS Karpūrādi-Stotra ‘Hymne an Kampfer’ (= Kālī). Möglicherweise die kürzeste Zusammenfassung des linkshändigen Pfades in der tantrischen Literatur. Das Buch, welches Du gerade liest, entstand bei dem Versuch, einen einfachen Kommentar zum KS zu verfassen.
KN Kaulajñāna nirṇaya Ein Tantra, das Matsyendranātha (ca. 11. Jhd.) zugeschrieben wird und Lehren der Yogīnī- und Nātha-Schulen enthält. Der KN ist bemerkenswert wegen seines erfrischenden Stils, seiner detaillierten Anweisungen zur Meditation und Visualisierung und für seine unorthodoxe, praktische Herangehensweise. Der Text ist ganz auf Praxis ausgerichtet, philosophische Spekulationen kommen nur am Rande vor.
KCT Kulacūḍāmaṇi Tantra ‘Das Kronjuwel des Kula’ (d.h. Menstruationsblut, das freiwillig für den Zweck des Sādhana gegeben wird), ein frühes Werk (9.-10. Jh.). Ein wildes Nigama-Tantra voller mehrdeutiger Anweisungen für die rituelle und/oder innere Verehrung. Einzigartiges Material über Kālī, Mahiṣamardinī und die Mātṛkā Devīs. Der Text scheint meist eindeutig und verständlich, doch dieser Eindruck kann irreführend sein: es werden sehr viele mehrdeutige Ausdrücke verwendet. Da die praktischen Anweisungen oft sehr kurz gehalten sind, muss vieles aus anderen Quellen hinzugefügt (oder erfunden) werden. Sehr empfehlenswert für Fortgeschrittene.
KT Kulārṇava Tantra Ein einflussreiches Tantra, das im 10. Jh. verfasst, in den folgenden Jahrhunderten jedoch wiederholt erweitert und modifiziert wurde. Der Text ist klar und unpoetisch; er enthält zahlreiche Widersprüche wegen der vielen mitwirkenden Autoren. Nützliche Details über Kula- und Kaula-Traditionen der wilderen Art wie die fünf Ms, ekstatische Verehrung, Besessenheit, Yoga usw. Gelegentlich etwas engstirnig; manche der Autoren liebten lange Verbots-Kataloge. Die Übersetzung von Pandit/Woodroffe ist stark verkürzt, die von Rai ist eher wissenschaftlich, aber (bis auf die Mantras) komplett.
LT Lakṣmī Tantra Ein Vaiṣṇava-Tantra der Pāñcarātra-Tradition in der Form von einem Nigama, ca. 9.-12. Jh. Eine brillante Mischung aus subtiler Philosophie, Kosmologie und praktischem Ritual, mit Klarheit und unter Berücksichtigung vieler Details verfasst. Der anspruchsvolle Text ist erstaunlich freizügig für ein Werk, welches vor allem für Vaiṣṇavas geschrieben wurde, und deutet sogar Praktiken des Pfades der Linken Hand an.
MBH Mahābhārata (Das Große Bhārata). Ein antikes Epos in ca. 100.000 Versen. Die Kerngeschichte könnte um 1.000 v.u.Z. entstanden sein, die Geschichte wurde bis zum 4. Jh. v.u.Z. massiv erweitert, die Textform erreichte ihre Vollendung im 3. oder 4. Jh. Das monumentale Werk beschreibt detailliert den legendären Konflikt zwischen zwei Fürstengeschlechtern, den Pāṇḍavas und den Kauravas. Mit involviert sind jede Menge inkarnierte Gottheiten, Geister, Unholde, Götter, Helden usw. Das MBH hat enzyklopädischen Charakter. Es zielt darauf ab, jede Einzelheit der indischen Lehren aufzuzeichnen und ist dabei bemerkenswert erfolgreich. Die bekannteste Passage des MBH ist die Bhagvad Gītā, der Gesang des Erhabenen. Dieses außerordentliche Werk wurde um das dritte oder vierte Jahrhundert unserer Zeit eingefügt und hatte einen enormen Einfluss auf den modernen Hinduismus, da es die Grundlagen der Bhakti und (spirituellen) Yoga Bewegung festlegte.
MNT Mahānirvāṇa Tantra (Das Tantra der Großen Befreiung). Ein spät abgeschlossenes (19. Jh.?), aber sehr einflussreiches Tantra, das einiges exzellentes (älteres) Material über Kālī und mehrere öde Kapitel über Gesetz, Erbrecht und soziale Gebote enthält, die meisten davon bieder und konservativ. Einer der Höhepunkte ist eine detaillierte Anweisung zum Ritual der Fünf Ms, wobei das fünfte M (Geschlechtsverkehr) gerade mal am Rande erwähnt wird. Das MNT ist ein recht populäres Tantra, denn obwohl es angeblich zur Kaula-Tradition gehört, ist es im Vergleich zur ursprünglichen Kaula-Literatur ausgesprochen abgemildert und verharmlost. Das MNT war das erste Tantra, welches in eine europäische Sprache übersetzt wurde (Woodroffe/ Avalon 1913). Obwohl es, gemessen an anderen Tantras, reichlich angepasst und spießig daherkommt, traf es sofort auf Ablehnung. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die Indologen an die Idee gewöhnten, dass tantrische Literatur Beachtung finden sollte.





