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»Wir sind hier, weil wir uns vor deiner Mutter verstecken, die unsere Beziehung nicht gutheißt.« Hunters eindringliche Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Der Brand in der Wohnung unserer Freundin Angela wurde von einem Unfall am Gasherd verursacht, nicht von einer Bombe.« Hunter setzt sich neben mich und lässt die Schultern sinken. »Wir müssen verdammt vorsichtig sein, Skye. Um ein Haar hätte Rekas Mutter dich ins staatliche Krankenhaus einliefern lassen.«
Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um. Innerhalb von Stunden wäre ein schwarzer Transporter gekommen, um mich aus der Klinik zu entführen …
»Aber sie vermuten nichts?«
Hunter schüttelt den Kopf. »Nein. Reka hat dich gerade noch rechtzeitig zurück ins Reich der Lebenden geholt. Ein paar Minuten später und ihre Mutter hätte den Notruf gewählt.«
Ich atme aus. Hunter hat recht. Wir sind die Einzigen, die das größte Geheimnis unserer Zeit kennen. Niemand darf vermuten, dass wir mehr sind als zwei Verliebte auf der Flucht – zumindest, bis wir einen Plan haben, wie wir den Inhalt des Diktiergeräts veröffentlichen können. Einen fehlerlosen Plan dieses Mal.
»Dann müssen wir wohl eine überzeugende Vorstellung liefern«, sage ich leise und küsse Hunter genau in dem Moment, als Reka durch die Fensterscheibe zu uns hereinsieht.

Und da haben wir also Julia.«
Verwirrt schaue ich auf. Ich habe Hunter erwartet, der uns Muffins von dem Café an der Ecke holen wollte. Aber in der Tür steht die junge Frau mit dem Pony, die vorhin mit Hunter gekommen ist.
»Mein Name ist Skye«, stelle ich klar.
Ich betrachte ihr Tattoo, einen Vogelflügel, dessen Federn sich bis auf ihren Hals erstrecken. Das Mädchen, das den harten Gesichtszügen zufolge Rekas Tochter sein muss, verdreht die Augen.
»Glaub mir, ich weiß. Noch nie was von Shakespeare gehört? Romeo, Julia und das ganze Ding mit der vom Schicksal verfolgten Liebe?«
Ich betrachte ihr unsymmetrisches Gesicht. Sie ist keine konventionelle Schönheit, aber etwas an ihr fasziniert. Sie bleibt im Gedächtnis. Fast würde ich behaupten, sie schon einmal gesehen zu haben.
Sie zieht sich einen Stuhl heran und mustert mich. »Ich weiß auch, dass du nicht hier sein solltest, sondern im Zentrum, wo Hunter höchstpersönlich für dein R sorgen müsste«, fährt sie fort. »Was ich nicht weiß, ist, wofür ihr zwei Turteltauben gerade euer Leben aufs Spiel setzt.«
»Wir verstecken uns vor meiner Mutter«, sage ich, überrascht, wie gelassen mir der Satz über die Lippen kommt. Immerhin ist es die Wahrheit – oder zumindest ein Teil davon.
»Oh, bitte«, stöhnt die Dunkelhaarige. »Diese Geschichte kannst du meinen Großeltern erzählen. Mit Beth ist nicht zu spaßen, aber wenn sie die Einzige wäre, die hinter euch her ist, hätte Hunter nicht dein Leben riskiert, um unentdeckt zu bleiben. Ich meine, lieber ins Ausland verschleppt als tot, richtig?«
Beth. Nur Hunter nennt meine Mutter so. Mein Blick bleibt an dem narbenhaften E hängen, dessen Linien die gebräunte Haut ihres Handgelenks durchziehen.
»Yana Faray«, erinnere ich mich mit einem Mal. Die Emotionale aus der U-Bahn-Station! »Das Mädchen, das mein Smartphone gefunden hat. Das warst du!«
»Gefunden, nachdem ich es dir geklaut hatte«, grinst Yana. »Irgendwoher brauchte Hunter schließlich deine Daten.«
»Du arbeitest auch für den Ring!«, rufe ich aus. Sie war es also, mit der Hunter in unserer ersten Nacht hier über Mum gesprochen hat.
Yana wirft mir einen bösen Blick zu. »Nur zur Info: Die Wände in diesem Haus sind verdammt dünn.« Sie wischt sich gestresst die Haare aus dem Gesicht. »Niemand hier weiß, dass es den Ring überhaupt gibt. Also halt in Zukunft besser die Klappe. Oder willst du es darauf anlegen, dass deine Mutter auffliegt?«
Meine Mutter.
»Wenn du mich so fragst, hätte ich nichts dagegen«, erwidere ich, obwohl das Ziehen in meiner Brust meine Worte Lügen straft. Meine Mutter ist die Frau, die mir Lesen beigebracht hat und an meinem Bett saß, wenn ich Fieber hatte. Die Frau, die ich bewundert habe. Bis ich herausgefunden habe, wer sie wirklich ist.
»Nicht alles am Ring ist schlecht, weißt du? Wir haben schon einige Leute erfolgreich aus den Gläsernen Nationen gebracht, denen sonst keine allzu rosige Zukunft bevorgestanden hätte.« Yana hebt das Kinn. »Beth gibt ihr Bestes. Sie verdient deine Verachtung nicht.«
»Hunter hat mir eine andere Geschichte erzählt.«
»Hunter sollte endlich lernen, stolz auf das zu sein, was er leistet.«
»Aber eure Fluchtrouten sind nicht sicher!«, platzt es aus mir heraus. »Wie viele R-Traitmarks wurden an der Grenze schon als Fälschung entlarvt, hm? Ohne Transmitter in der Tinte halten sie keinem Scan stand, das habt ihr selbst gesagt!«
»Das ist das Risiko, das man eingehen muss«, zischt Yana. »Zumindest jetzt noch.«
Ich schüttle den Kopf. »Es ist zu hoch. Hunter redet nicht darüber, aber ich weiß, dass er unter jedem einzelnen Flüchtling leidet, der unter seiner Aufsicht erwischt worden ist. Jeder mit einem Herz würde das.«
Leidet Mum? Die Frage schleicht sich ohne Erlaubnis in meinen Kopf. Ich will glauben, dass sie es tut. Alles andere wäre unerträglich.
»Jeder mit einem Herz würde das.« Yana äfft meinen Tonfall nach. »Du glaubst, du kennst Hunter. Du glaubst zu wissen, was leiden bedeutet, aber du hast nicht die geringste Ahnung! Und trotzdem liegst du hier in meinem Bett und sagst … was eigentlich genau? Dass ich ein schlechter Mensch bin, nur weil ich zu meiner Arbeit stehe, ohne Nervenzusammenbrüche zu bekommen?«
»Ich …«
»Pass mal auf. Du bist aus dem Zentrum abgehauen, okay. Ich weiß nicht, warum es dir da plötzlich nicht mehr gefiel. Aber bis dahin hast du in deiner rosa Blümchenwelt gelebt, in der es nur darum ging, wer es an die Cremonte-Uni schafft und wer wen küsst. Ich sehe seit Jahren, was in den Nationen vor sich geht. Und ich habe mich entschieden, etwas dagegen zu tun.«
»Indem du den Kristallisierungsgegnern eine Chance von wie viel Prozent gibst? Zwanzig? Dreißig?«
»Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst!« Yana funkelt mich an. Dann beugt sie sich nach vorn. »Ich glaube Hunter kein Wort von seiner Geschichte mit den Gardinen, die aus Versehen Feuer gefangen haben. Aus irgendeinem Grund wollen die Kristallisierer dich umbringen – und wenn sie entdecken, wie viel er dir bedeutet, landet er gleich mit auf der Liste.«
Ein kurzes, unvernünftiges Triumphgefühl durchfährt mich. Hunter hat Yana nichts von ReNatura erzählt. Nichts davon, dass der Kristall hinter uns beiden her ist. Also vertraut er ihr nicht vollständig. Ganz egal, was für eine Vergangenheit die beiden zusammenschweißt.
»Du weißt, dass dieser Idiot sein Leben für dich riskieren wird, sobald ihm jemand die Gelegenheit dazu gibt«, raunt Yana mir zu. »Denk darüber nach, ob du die Verantwortung dafür tragen kannst.« Sie steht auf. »Denn wenn nicht, gibt es in New York jemanden, der auf dich wartet.«
Bevor ich etwas erwidern kann, geht Yana ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer und lässt mich mit ihrer Drohung zurück.

Etwas Feuchtes berührt meine Wange.
»Chief, aus!«
Blinzelnd öffne ich die Augen. Jemand zerrt einen schwanzwedelnden Mischlingshund vom Kopfende meines Bettes fort, doch es ist weder Hunter noch Yana. Ein Junge in einem schwarzen Kapuzenpullover nimmt sich die Kopfhörer aus den Ohren, wickelt das dünne Kabel auf und legt einen altmodischen MP3-Player auf den Nachttisch.
»Entschuldige, eigentlich ist Yanas Hund eher scheu.«
Ich wische mir über die Wange. Vor dem Fenster über meinem Bett gehen schon die Straßenlaternen an.
»Yana musste weg, deshalb hat sie mich geholt. Tante Reka ist noch auf der Arbeit, aber sie hat vor ein paar Minuten angerufen und gesagt, dass ich dir Schmerztabletten geben soll, wenn du welche willst.«
»Nein, danke.« Ich setze mich auf und bemühe mich, nicht zu stöhnen, als der Stoff meines Schlafanzugs über meine Verbrennungen scheuert. »Du musst nicht weiter den Babysitter spielen«, sage ich und greife nach der Salbe, die neben dem Verbandszeug auf dem Nachttisch steht. »Mir geht es gut.«
Mein neuer Hang dazu, die Dame in Nöten zu geben, gefällt mir überhaupt nicht. Aber der Junge mit dem schmalen Gesicht und einer blond gefärbten Strähne in seinem ansonsten pechschwarzen Haar lächelt bloß freundlich.
»Es macht mir nichts aus. Dank dir konnte ich hier ungestört zeichnen, ohne wie daheim alle fünf Minuten zu irgendeiner Hausarbeit verdonnert zu werden. Außerdem würde meine liebe Cousine mich umbringen, wenn ich nicht tue, was sie mir sagt.« Er klappt das Skizzenbuch auf seinem Schoß zu. »Mein Name ist übrigens Ocean.«
»Ocean, hm?«, lächle ich und betrachte seine Augen, die zweifellos zu diesem Namen geführt haben. Sie sind weder blau noch grau, sondern irgendetwas dazwischen – der Farbton von Wellen im Sturm.
»Sollte eine Skye wirklich die Nase über außergewöhnliche Namen rümpfen?«
Ich grinse. »Wahrscheinlich nicht.« Hunters Warnung vor dem Auslieferungpakt klingelt in meinen Ohren. Ich sollte vorsichtig sein. Doch mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich Ocean vertrauen kann. »Hast du eine Ahnung, wo Hunter ist?«
»Er war hier. Aber dann hat Grandpa ihn abgeholt. Hunter hat in der letzten Woche jede Nacht hier neben dir verbracht, und Reka meinte, so geht es nicht weiter. Er bräuchte seinen Schlaf und auf der Couch im Wohnzimmer übernachtet schon Yana, also schläft Hunter ab jetzt im Cottage.« Ocean greift hinter sich und nimmt eine Papiertüte mit dem bunten Logo eines Cafés vom Schreibtisch. »Aber die hier hat er dir dagelassen.«
Ich nehme die Tüte entgegen und muss lachen, als ich eineinhalb Doughnuts mit Schokoglasur sehe. Das ist nicht bloß Gebäck, das ist eine Botschaft! Ein warmes Gefühl durchfährt mich, als ich verstehe, was Hunter mir mitteilen will. Bald sind wir nur noch wir. Das habe ich auf der Promenade der Seaview Hills zu ihm gesagt, nachdem wir uns seinen Doughnut geteilt haben. Also hat er einen Plan, wie wir ReNatura an die Öffentlichkeit bringen können! Einen Plan, der es uns erlauben wird, bald nur noch Skye und Hunter zu sein, nicht mehr die Untreuen auf der Flucht. Ich spüre, wie eine Last von mir abfällt.
»Möchtest du etwas?«
Ocean schüttelt den Kopf und deutet auf die leere Chipstüte zu seinen Füßen. »Zeichnen macht mich immer hungrig. Was nicht besonders vorteilhaft ist – auf der Hälfte meiner Bilder ist mindestens ein fettiger Fingerabdruck.«
Ich zwinkere ihm zu. »Wenn du irgendwann berühmt bist, könnte das eine sehr exzentrische Art der Künstlersignatur werden.«
»Ich glaube kaum, dass jemand anders als meine Mutter meine Bilder jemals aufhängen wird«, erwidert Ocean.
Ich lege meinen angebissenen Doughnut zur Seite und wische mir sorgfältig die Finger an der Serviette ab. »Kann ich mal sehen?«
Ocean reicht mir sein Skizzenbuch. »Warte!«, sagt er, als ich es aufschlagen will. Er nimmt den MP3-Player vom Nachttisch und reicht ihn mir. »Du musst sie mit der Musik anschauen, zu der ich sie gezeichnet habe.«
Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und brauche einen Moment, bis ich mich daran gewöhnt habe, ein Gerät ohne Touchscreen zu bedienen. »Ist der aus einem Vintageshop?«, frage ich belustigt.
»Nee«, antwortet Ocean verlegen. »Ich hab mir zum letzten Geburtstag eins der neuesten Smartphones gewünscht. War jeden Tag im TechMania-Laden in Greenhill, um es mir anzusehen.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber ich hab’s nicht bekommen, meine Mutter sagt, dafür haben wir kein Geld. Also hat Yana mich mit in den Keller des Bungalows genommen. Ich durfte mir was von ihren alten Sachen aussuchen, Tischtennisschläger, DVDs – alles, was ich wollte. In einer Kiste habe ich dann das Ding hier gefunden.« Er wirft seinem MP3-Player einen liebevollen Blick zu. »Selbst Yana hatte keine Ahnung, wo der herkommt. Aber jetzt gehört er mir.«
»Ich finde ihn cool«, sage ich und halte Ocean einen der Ohrstöpsel hin, bevor ich auf Play drücke.
Ocean lächelt mir zu. Dann rutscht er näher zu mir heran und öffnet das Skizzenbuch. »Daran arbeite ich im Moment«, sagt er und deutet auf eine Zeichnung. »Es ist noch nicht perfekt, aber –«
»Es ist wunderschön!«, entfährt es mir.
Ocean hat das Gesicht des Mädchens zwar nur mit Bleistift skizziert, aber keine Farbe hätte ihre Züge lebendiger wirken lassen können. Die sanfte Akustikmusik des MP3-Players lässt mich entspannen. Ich blättere durch die Seiten. Neben wenigen Landschaftsbildern hat Ocean immer wieder dasselbe Mädchen gezeichnet, mal mit wehenden Haaren auf einer Vespa, mal mit fröhlichem Lächeln in einer Schulcafeteria.
»Sie heißt Reilly.«
»Deine Freundin?«, frage ich.
Ocean nimmt seinen Kopfhörer heraus und schüttelt den Kopf. Auf einmal wirkt er niedergeschlagen, und ich wünschte, ich könnte meine neugierige Frage zurücknehmen.
»Zeig ihr irgendwann mal dieses Buch«, rate ich ihm, nachdem ich den MP3-Player wieder auf den Nachttisch gelegt habe. Welches Mädchen würde bei so viel Hingabe nicht gerührt sein? Aber ich spüre, dass Ocean über dieses Thema nicht weiter sprechen will. »Sag mal, funktioniert der?«, lenke ich ab und deute auf einen alten Fernseher in der Ecke gegenüber von meinem Bett.
Ocean nickt und steht auf, um die Fernbedienung zu holen. »Die Qualität ist nicht mehr die beste«, bemerkt er.
Auf dem eingeschalteten Programm läuft eine Serie, bei der ein künstliches Publikum im Hintergrund lacht. Der nächste Sender zeigt eine Spielshow. Ich atme tief durch. Das Nachrichtenbanner am unteren Bildschirmrand berichtet über Aktienkurse und einen Unfall auf einer Bohrinsel. Keine Fahndung nach einem falschen Testleiter und einer Verräterin. Natürlich nicht, denke ich mit einem Anflug von Häme. Schließlich kann die Regierung ihre Suche nach uns nicht begründen, ohne sich selbst zu verraten. Ocean schaltet weiter.
»Lass das mal dran.«
Mein Blick bleibt an dem vertrauten CCN-Logo hängen. Ich erkenne das Audimax der Cremonte-Universität, aber die Sitzreihen sind nicht mit Studierenden besetzt. Unter den schweigenden Menschen entdecke ich Mitglieder des Rats, Vertreter des Parlaments und Gründungsmitglieder der Kristallisierungspartei. Ihre Gesichter sind ernst. Über dem Rednerpult hängt ein Banner mit den Worten In Memoriam.
»Das ist bloß eine Wiederholung«, sagt Ocean, doch ich bedeute ihm mit einem Kopfschütteln, dass ich sie gern sehen möchte.
»Was haben wir heute für einen Tag?«, frage ich.
»Dienstag«, erwidert Ocean. »Dienstag, den 20. Juni.«
Also habe ich über eine Woche verpasst. Und damit auch den Jahrestag des großen Skandals.
Eine Gänsehaut zieht sich über meine Arme, als eine schlanke Frau Ende zwanzig ans Rednerpult tritt, deren beinahe farbloses Haar akkurat auf Höhe ihres Kinns endet. Chloe Cremonte. Der Kristall. In ihrem weißen Hosenanzug sticht die Vorsitzende der Kristallisierungspartei aus der schwarzen Masse von Krawattenträgern heraus wie eine Lichtgestalt.
»Wie Sie wissen, habe ich am 14. Juni vor fünf Jahren in diesem Hörsaal meine kleine Schwester verloren«, beginnt sie mit gesenktem Kopf. »Emma hätte in diesem Sommer ihren Abschluss gemacht. Sie wäre jetzt 22 Jahre alt.«
Auf der Wand hinter dem Kristall erscheinen die Aufnahmen der Überwachungskameras, die ich schon so oft gesehen habe. Agenten des United States Secret Service stürmen während der Begrüßung der Erstsemester das Audimax. Sie rufen den Studierenden zu, mit erhobenen Händen den Hörsaal zu verlassen, während die Universität durchsucht werde. Die Worte »Chloe Cremonte« und »Entführung« sind zu hören. Die Jugendlichen lachen, halten die ganze Aktion für einen Scherz der älteren Semester. Niemand befolgt die Anweisungen. Dann fallen Schüsse. Hier stoppt die Aufnahme normalerweise. Ich runzle die Stirn, als das Video nun jedoch weiterläuft und wir sehen, wie die Jugendlichen verzweifelt zu den Ausgängen rennen. Dad und ich haben uns die Übertragung der Gedenkfeier jedes Jahr angesehen. Aber noch nie zuvor wurden diese Aufnahmen eingespielt! Ich zucke zusammen, als ein Mädchen von Kugeln durchlöchert zu Boden fällt. Dürfen solche Bilder überhaupt öffentlich gezeigt werden? Ich wende den Blick ab und sehe erst wieder zum Fernseher, als die Schreie und Schüsse verstummt sind – nur, um geradewegs auf das Resultat des Massakers zu schauen. 49 weiße Leichensäcke, genau dort aufgereiht, wo Chloe Cremonte jetzt steht, fünf Jahre danach, und das Standbild auf der Wand hinter dem Rednerpult mit unlesbarem Gesichtsausdruck betrachtet. Nach ein paar Sekunden respektvoller Stille winkt sie einen Mann in Uniform nach vorn. Das Licht der Deckenlampen spiegelt sich auf seiner Glatze, als er den Angehörigen der Opfer sein Beileid ausspricht und die Überlebenden der Schießerei um Verzeihung bittet.
»Ministerin Jessica Cremonte gab uns persönlich die Anweisung, ihre Tochter Chloe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Händen eines Entführers zu befreien. Erst später erfuhren wir, dass es sich bei dieser Entführung um eine grausame Täuschung handelte, mit der ein Journalist der New York Times versuchte, politische Daten zu erpressen. Natürlich entschuldigt nichts den Tod Ihrer Kinder und Kommilitonen –« Die Stimme des Agenten versagt, doch der Kristall scheint damit gerechnet zu haben.
»Es gibt nur einen Schuldigen«, übernimmt Chloe Cremonte mit kraftvoller Stimme. »Aber das sind nicht Agent Roy und sein Team, die einen Befehl umsetzen mussten. Es ist auch nicht meine Mutter, die geblendet von Angst um ihr Kind diesen Befehl gab. Schuld ist ein System, das versagt hat, seine Bürger zu schützen!« Applaus brandet auf. Ich höre kaum zu, als Chloe Cremonte fortfährt: »Der große Skandal brachte mir die Idee zur Kristallisierung unseres Landes. Am 14. Juni vor fünf Jahren haben wir alle deutlicher denn je gesehen, was passiert, wenn die Führung einer Nation in den Händen emotionaler Menschen liegt. Wir haben aus dem Geschehenen gelernt und uns unter dem Wahlspruch Klarheit durch Traits eine Zukunft geschaffen. Wir sind eins geworden, eine Symbiose aus Rationalen und Emotionalen, Führern und Geführten, Denkern und Machern. Und obwohl Emma und die 48 anderen jungen Opfer des Skandals uns für immer genommen wurden, können und müssen wir uns damit trösten, dass sie nicht umsonst gestorben sind.«
Die Dokumentation des Grauens endet damit, dass der Kristall weiße Rosen an die Hinterbliebenen der Opfer verteilt. Ein schaler Geschmack breitet sich in meinem Mund aus, als mir klar wird, welchem Zweck die bisher zurückgehaltenen Aufnahmen dienen. Das sterbende Mädchen und die Leichensäcke sollen uns zeigen, wie wichtig die Traits sind. Die brutalen Bilder sollen jeden Zweifel an der Kristallisierung ausrotten.

Dieses Mal ist es stockdunkel, als ich aufwache. Der Stuhl neben meinem Kopfende ist leer. Ocean muss nach Hause gegangen sein, als Reka von der Arbeit zurückgekehrt ist. Wann bin ich eingeschlafen? Ich knipse die Nachttischlampe an. Dort liegt noch der MP3-Player, Ocean hat ihn wohl vergessen. Mit den Kopfhörern und sanfter Akustikmusik im Ohr tappe ich in die dunkle Küche. Im Regal über der Spüle finde ich Gläser, fülle eins davon mit Wasser und trinke es in großen Schlucken leer. Auf der Anrichte steht ein abgedeckter Teller mit meinem Namen auf einem Klebestreifen. Die Überreste eines Abendessens, das ich verschlafen haben muss. Wenigstens bin ich so gefährlichen Fragen entkommen, denke ich und setze mich an den Tisch. Oceans Erzählungen zufolge haben Hunter und seine Eltern zusammen mit Yanas Familie jeden Sommer hier verbracht, bevor die Farays im Jahr nach dem großen Skandal ganz zurück nach Las Almas zogen. Hunter ist für Manuel und Amanda wie ein zweiter Enkel. Würden sie ihn wirklich der Administration melden? Ich drehe kalte Spaghetti auf eine Gabel, als mich eine streichende Bewegung an meinem Bein zusammenfahren lässt.
»Du bist es«, flüstere ich erleichtert. Chief wedelt mit dem Schwanz und setzt sich erwartungsvoll vor meine Füße. Ich habe keine Ahnung, was Ocean mit scheu gemeint hat. »Dein Frauchen würde das jetzt sicher nicht gut finden«, murmele ich, nehme die Kopfhörer heraus und gehe zum Kühlschrank. Chief verschlingt die Wurstscheibe, die ich ihm hinhalte, und legt grummelnd den Kopf schief, als wollte er mir sagen, dass das gerade einmal eine Vorspeise war.
»Aiyana! Wo ist der Autoschlüssel?«
Ich lasse vor Schreck die Packung fallen, auf die Chief sich in Sekundenschnelle stürzt. Mit klopfendem Herzen schiebe ich mich an dem Hund vorbei zur Küchentür.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich.
Reka, die gerade eine Jacke über ihren Schlafanzug zieht, greift sich an die Brust. »Mein Gott, Skye! Du hast mich erschreckt.« Sie drückt mir ihr Handy in die Hand, während sie ihre Schuhe zubindet. »Auf Lautsprecher«, befiehlt sie knapp.
»Ein Notfall, sechzehn Jahre und Überdosis. Wir brauchen Sie sofort auf der Intensivstation, Dr. Faray«, plärrt eine Stimme aus dem Handy.
»Zustand?«, ruft Reka.
»Das Mädchen kam in einem Regierungstransporter aus dem Landesinneren. Greenhill war das nächste Krankenhaus, aber sie ist zwei Stunden unversorgt geblieben. Kommen Sie schnell.«
Die Verbindung endet mit einem Klick, während mir auf einmal eiskalt wird. Es gibt nur einen Ort, von dem dieser Transporter kommen konnte.
Yana stürzt mit verwuschelten Haaren aus dem Wohnzimmer. Sie fischt einen Autoschlüssel aus der Tasche ihrer Jeansjacke, die an der Garderobe hängt, und hält ihn mit einem schuldbewussten Blick ihrer Mutter hin. Reka verschwindet, ohne sich zu verabschieden, während ich an Luces Festnahme und die Worte des Konsiliars denke. »Sie wird uns schon die Wahrheit erzählen. Dafür haben wir Mittel und Wege.«
Sechzehn Jahre, Überdosis. Was haben sie nur mit dir gemacht? Kraftlos sinke ich gegen die Wand und frage mich, ob ich die Antwort überhaupt wissen will. Denn wie auch immer sie lautet: Es ist meine Schuld.

Die kühle Nachtluft zieht durch die Ritzen ins Innere der Garage. Ein lang gezogenes Quietschen des Wellblechtors kündigt an, dass ich nicht länger allein bin. Yana duckt sich durch den schmalen Spalt, den sie das Tor geöffnet hat, und schließt es hinter sich.
»Du warst schnell«, stellt sie fest.
Ich lege mein Handy mit Yanas Nachricht zur Seite, auf die ich bis gerade gestarrt habe, und mache eine Bewegung mit dem Kopf in Richtung des Tors. »Das Haus hat also noch immer keinen neuen Besitzer?«
»Würde es hier sonst noch so aussehen wie früher?«, fragt Yana und deutet auf das alte Sofa, die Kaffeemaschine und den Kühlschrank, die wir vor Jahren mit vereinten Kräften in unser Geheimversteck geschleppt haben.
»Ich schätze nicht«, gebe ich zu. »Wie geht es Skye?«
»Sie war ziemlich aufgewühlt. Wie es scheint, kennt sie das Mädchen. Aber ich hoffe, dass sie trotzdem zurück ins Bett gegangen ist.«
Das hoffe ich auch. Ich weiß ganz genau, was jetzt in ihr vorgeht. Es ist nicht deine Schuld! Es ist die Schuld dieser kranken Regierung, die Sechzehnjährige foltert … Ich sehe zu Yana hinüber. Ich muss so schnell wie möglich an einen neuen Beweis für ReNatura kommen. Nur so kann ich etwas für Luce tun. Denn dass es Luce war, die so grausam verhört worden ist, daran besteht kein Zweifel.
Yana lässt sich auf das durchgesessene Plüschsofa fallen, das zwischen alten Motorradteilen und lange vergessenen Kartons fehl am Platz wirkt. Der Geruch nach Tabak und Tiefkühlpizza hat sich in den Polstern festgesetzt, als würden die verregneten Sommerabende meiner Vergangenheit darauf bestehen, nicht in Vergessenheit zu geraten.