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»Die Testung soll hart sein, jeder kennt die Gerüchte. Aber Drogen, Hunter?« Yana sieht mich an. »So weit kann das Konsilium doch nicht gehen!«
»Das war kein Teil einer Aufgabe«, sage ich düster. »Das war ein Verhör.«
Für ein paar Atemzüge ist nur das Surren des alten Kühlschranks zu hören, den ich vor wenigen Minuten eingeschaltet habe, ohne damit zu rechnen, dass er noch immer funktioniert.
»Wenn du meine Hilfe willst, wirst du mir verraten müssen, weshalb ihr wirklich aus dem Zentrum geflohen seid.«
Mein Blick bleibt an Yanas Vogeltattoo hängen. Wandert zu ihrem entschlossenen Gesichtsausdruck. Es gibt niemanden, der besser dafür geeignet wäre, einen Beweis für das größte Staatsgeheimnis der Nationen zu stehlen. Ich hole tief Luft.
»Also gut.«

Ich lausche in die Dunkelheit, als würde Reka so schneller zurückkommen, um mir zu sagen, dass es nicht Luce war, die sich in diesem Transporter befand. Oder wenigstens, dass ihr Opfer sie nicht das Leben gekostet hat. Dass Elias’ Verrat ihn nicht zu einem Mörder gemacht hat. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt vier Uhr morgens. Es ist totenstill im Bungalow – Yana muss wieder eingeschlafen sein auf der Couch im Wohnzimmer. Ich hingegen bin hellwach.
Vielleicht ist es jemand anders. Im Zentrum sind immerhin noch über 70 weitere Mädchen. Aber nur einer von ihnen gehört das Diktiergerät, mit dem ich mich in die geheimen Labore geschlichen habe. Nur eine hat sich Elias und dem Konsiliar gestellt, damit ich es schaffe, die Beweise für ReNatura aus dem Zentrum zu bringen. Ich richte mich auf und schiebe die Decke zur Seite, bevor ich noch wahnsinnig werde. So geräuschlos wie möglich drücke ich die Klinke der Schlafzimmertür hinunter und schleiche den schmalen Flur entlang. Rekas Arbeitszimmer ist klein und hat kein Fenster. Ich setze mich auf den Drehstuhl und schalte den Computer ein. Die Anmeldeseite baut sich auf und bietet mir die Wahl zwischen Rekas privatem Account und dem des Greenhill Hospital. Meine Finger trommeln auf die Tischplatte, während ich fieberhaft überlege, woraus Rekas dienstliches Passwort bestehen könnte. Mir läuft die Zeit davon. Wenn es wirklich Luce ist, werden die Konsiliare sie zurück ins Zentrum bringen, sobald sie wieder einigermaßen stabil ist, um mit ihrem Verhör fortzufahren. Aber das kann ich nicht zulassen.
Ich durchblättere Rekas Adressbuch, schiebe Papierberge zur Seite, taste den Rand der Tischplatte ab – und bleibe an einem Klebestreifen hängen. Ich reiße ihn ab und tippe triumphierend die Zahlenfolge in das Passwortfeld.
Greenhill Hospital, Zugriff Dr. Reka Faray.
Ungeduldig fahre ich mit der Maus über die verschiedenen Ordner mit Zahlencodes, die mir nichts sagen, bis meine Augen an einem gelben Symbol hängen bleiben. Notfalldokumentation. Ich lasse den Cursor über Daten und Uhrzeiten fliegen. 03:33 Notfallcode 011, Ärztin in Bereitschaft: Dr. Faray.
Mein Zeigefinger schwebt zitternd über der Maus.
»Yana?«
Ertappt springe ich auf und stoße mit dem Knie gegen den Schreibtisch. Ocean streichelt einem aufgeregt wedelnden Chief beruhigend den Rücken.
»Du bist es«, sagt er überrascht. »Was ist passiert? Chief stand bellend vor unserer Haustür. Es ist mitten in der Nacht!«
Chief kommt auf mich zu und hinterlässt einen Sabberfleck auf meiner Schlafanzughose.
»Er muss in all der Aufregung aus der Tür gelaufen sein. Danke, dass du ihn zurückgebracht hast.«
Ocean bewegt sich nicht von der Stelle. »Danke, dass du ihn zurückgebracht hast?«, wiederholt er entgeistert. »Warum konnte er überhaupt abhauen? Was war hier los? Wo ist meine Tante und –« Er wirft einen Blick auf den Computer. »… und was tust du hier?«
»Schht!« Ich ziehe Ocean ins Arbeitszimmer und schließe leise die Tür. »Yana schläft auf der Couch.«
»Im Wohnzimmer ist niemand«, erwidert Ocean. »Da habe ich als Erstes nachgesehen. Wir sind allein.«
Ich lasse mich wieder auf Rekas Schreibtischstuhl sinken. Wohin ist Yana verschwunden? Aber diese Frage ist zweitrangig. Je weiter sie vom Bungalow entfernt ist, desto besser. Yana würde mich, ohne mit der Wimper zu zucken, an Reka verraten, wenn sie wüsste, was ich hier tue. Und Reka würde nicht lange brauchen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen und die Romeo-und-Julia-Geschichte als das zu enttarnen, was sie ist: eine Lüge.
Ich mustere Ocean, wie er da steht in seinem schwarzen Kapuzenpullover und den Jeans, die seine Beine viel zu dünn aussehen lassen. Heute Nachmittag hat mir mein Gefühl gesagt, dass ich ihm vertrauen kann. Jetzt werde ich sehen, ob meine Intuition mich getäuscht hat. Ich beiße mir auf die Lippe.
»Hör zu, Ocean. Ich verspreche dir, dass ich meine Gründe habe. Sehr, sehr wichtige Gründe. Bitte geh einfach wieder nach Hause. Und bitte verrate mich nicht!«
Ocean verschränkt die Arme. »Ich gehe, wenn ich diese Gründe kenne.«
»Ocean –«
»Du kannst nicht von mir verlangen, meine Familie zu belügen, ohne mir zu erklären, weshalb! Also: Was tust du hier?«
»Ich …«, beginne ich, ohne zu wissen, wo ich anfangen soll. Wie kann ich einem Vierzehnjährigen erklären, dass die Testung kein Sommercamp ist, in dem wir unsere wahre Persönlichkeit herausfinden? Wie soll der verträumte Ocean verstehen, dass die Traits als Werkzeuge dienen, um Frauen zurück in eine Rolle zu drängen, die die Kristallisierer für unsere natürliche halten? Ich drehe mich zurück zum Computerbildschirm. Notfallcode 011. Mit klopfendem Herzen scrolle ich nach unten.
Und da steht ihr Name. Luce Vaillant.
»Ich versuche, ihr das Leben zu retten«, sage ich leise. Ich wende den Blick vom Bildschirm ab und sehe in die Augen des Sturms. »Reka wurde zu einem Mädchen nach Greenhill gerufen. Dieses Mädchen, Luce, muss noch heute Nacht aus dem Krankenhaus verschwinden, sonst –« Ich hole tief Luft. »… sonst bin ich verantwortlich für ihren Tod.«

Seid ihr befreundet?«, fragt Ocean, während ich auf das Foto auf dem Bildschirm starre.
Ich nicke wortlos. Weißblonde Locken umrahmen Luces Wangen und bilden einen starken Kontrast zu den dunklen Schatten unter ihren Augen. Jemand hat ihr ein zweites Kissen unter den Kopf gelegt. Für einen kurzen Moment überlege ich, Hunter um Hilfe zu bitten, doch dann denke ich an Yanas Vorwurf. Luce ist meine Freundin. Sie zu retten ist meine Verantwortung.
Ich schiebe meinen Stuhl zurück. »Wie komme ich am schnellsten zu diesem Krankenhaus?«
Ocean stellt sich in die Tür des Arbeitszimmers und hebt beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, wie hart sich das anhört, aber du musst den Ärzten vertrauen. Reka wird dafür sorgen, dass die Drogen aus ihrem Körper kommen, dann kann deiner Freundin geholfen werden. Vielleicht schicken sie Luce ja auch auf so eine Farm. Ich glaube, Reilly geht es gut dort«, fügt er nachdenklich hinzu.
Reilly? Ich brauche einen Moment, doch dann fällt mir das Mädchen in Oceans Skizzenbuch wieder ein.
»Was für eine Farm?«, frage ich.
Ocean zuckt mit den Schultern. »Ich weiß selbst nichts Genaues. Während Reillys Testung ist dem Konsilium aufgefallen, dass sie psychische Probleme hat. Ihre Mum hat etwas von Depressionen erzählt. Auf den Farmen scheinen die betroffenen Jugendlichen Hilfe zu bekommen.«
Und auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Daliawood«, flüstere ich und denke an die Mädchen in schwarzen Overalls, die in der fünften Nacht der Testung in den Transporter verladen wurden. Ich frage mich, ob Depression auch die Erklärung war, die den Eltern von Fiona und Maxeni für das Verschwinden ihrer Töchter gegeben wurde …
»Man sollte meinen, ich hätte was davon gemerkt«, sagt Ocean abwesend, »immerhin hat mich Reilly jeden Tag auf ihrer Vespa mit zur Schule genommen. Sie wohnt gleich gegenüber … also, wohnte. Ich habe keine Ahnung, wann sie zurückkommt.« Oceans schmale Schultern sacken in sich zusammen und am liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen. Aber dazu bleibt uns keine Zeit.
»Diese Vespa«, sage ich stattdessen. »Du kannst sie dir nicht zufällig ausleihen?«

Yana presst die Hände gegen ihre Stirn. Ich weiß, dass ihr Verstand sich ebenso sehr gegen die Fakten wehrt, die ich ihr gerade eröffnet habe, wie meiner.
»Sie behaupten, unsere Welt wäre aus dem Gleichgewicht geraten«, versuche ich zu erklären. »Dass Straftaten, Depressionen und Krankheiten die Welt überfluten, weil wir uns von der menschlichen Natur abgewandt haben. All diese Probleme sollen verschwinden, wenn wir wieder unsere natürlichen Rollen annehmen.«
»Männer an die Arbeit und Frauen an den Herd, oder was?«, sagt Yana kopfschüttelnd. »Ich würde dir nicht glauben, es klingt einfach zu wahnsinnig – aber den Kristallisierern traue ich mittlerweile alles zu.« Sie seufzt. »Jetzt bereue ich, dich so unter Druck gesetzt zu haben. Wie heißt es so schön? Selig sind die Unwissenden.«
Ich beobachte meine beste Freundin. Sie streicht gedankenverloren über ihr eigenes E, das ich ihr vor zwei Jahren im Lesesaal der alten Bibliothek gestochen habe. Die groben Striche pflügen durch ihre Haut. Damals war ich noch nicht besonders gut darin, die Tätowierung zu fälschen.
»Aber wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert.« Yana lässt die Hände sinken. »Die Leute werden ReNatura nicht einfach so hinnehmen!« Ich ziehe an meiner Zigarette. Die Argumente der Kristallisierer sind krank, doch sie wirken. Und auf alle, bei denen sie es nicht tun, wartet ein schwarzer Transporter … »Sol wusste von ReNatura. Und sie hat es doch auch nicht hingenommen!«
Ich atme den Rauch aus. Es war schwer, Yana die volle Wahrheit über meine Mutter zu sagen. »Und wie ist das ausgegangen?«, erwidere ich mit rauer Stimme. »Ganz abgesehen von der hohen Sterblichkeitsrate unter Kristallisierungsgegnern ist nicht jeder bereit, für das Richtige einzustehen.« Meine Hände verkrampfen sich. »Sieh dir doch nur mal an, was wir schon seit Jahren protestlos geschehen lassen! Emotionale dürfen die Nationen ohne Antrag nicht verlassen, Emotionale dürfen ohne einen rationalen Bürgen kein Konto eröffnen und keine Wohnung mieten. Es fehlt nur noch der Zusatz, dass Frauen und Emotionale ein und dasselbe sind, dann geht die ReNatura-Gleichung auf! Glaub mir, das E wird Frauen so lange an ihre Grenzen stoßen lassen, bis sie bereit sind, an ihre eigene Unmündigkeit zu glauben. Und genau in diesem Moment eilen die Kristallisierer zur Rettung.«
»Mit einem Programm, das den Frauen die Verantwortung für ihr Scheitern nimmt«, murmelt Yana nachdenklich.
»Ganz genau.« Ich drücke die Zigarette aus und fahre mir müde durch die Haare.
»Trotzdem.« Yana steht auf. »Damit kommen sie nicht durch. Doch nicht im verdammten Internetzeitalter, in dem das alles in Sekunden um die Welt gehen wird!«
»Du meinst um die Welt, mit der Chloe Cremonte Beitrittsgespräche führt?«, entgegne ich nüchtern.
»Ich habe die Schlagzeilen aus Europa gelesen«, sagt Yana. »Aber das heißt noch lange nicht, dass niemand erkennen wird, welches Spiel die Kristallisierer spielen!«
»Genauso wie alle erkannt haben, dass die Traits bloß der erste Schritt sind?« Ich schüttle den Kopf. »Selbst Chloe Cremonte ist zu blind, um zu merken, dass ihr Ausnahmestatus sie nicht ewig schützen wird. Niemand wird aufwachen, wenn die schleichende Indoktrinierung der Kristallisierer weiter fortschreitet.«
»Dann ist wenigstens klar, was wir zu tun haben.« Yana sieht mich auffordernd an. »Also, wo ist euer Beweis? Was genau haben wir in der Hand?«
Ich massiere meine Schläfen. Verbrannt. Zerstört. Verloren. Asche. Das ist unser Beweis. Doch vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Grausamkeiten der Regierung öffentlich zu machen und gleichzeitig das Mädchen zu retten, das sich für unseren ersten Beweis geopfert hat.
Ich blicke auf. »An diesem Punkt brauche ich deine Hilfe.«

Ocean beobachtet besorgt, wie ich den Motor aufbrummen lasse. Wahrscheinlich bereut er es schon jetzt, die Vespa aus dem Carport von Reillys Eltern geschoben und den nachlässig daneben hängenden Schlüssel eingesteckt zu haben. Es ist nicht seine Art, die Regeln zu brechen, genauso wenig wie meine. Aber manchmal muss man etwas Verbotenes tun, weil es um etwas Größeres geht. Um das Leben einer Freundin, zum Beispiel. Und um das Schicksal eines Landes. Die Reifen drehen durch und Kies spritzt gegen Rekas hellblaue Hauswand.
»Vielleicht sollte ich lieber mitfahren«, meint Ocean zweifelnd.
»Und wie bekomme ich Luce dann ins Reservat?« Ich schüttle den Kopf und zucke zusammen, als die Vespa einen Satz nach vorn macht. »Die Main Road bis zur Highway-Auffahrt, richtig?«, vergewissere ich mich, als mein Herzschlag sich wieder beruhigt hat.
»Und dann einfach geradeaus«, bestätigt Ocean.
Ich will einen zweiten Fahrversuch starten, als mir einfällt, dass ich etwas vergessen habe. »Ihre Stationsdaten!«
Ich drücke Ocean den Lenker in die Hand und stürme zurück in Rekas Arbeitszimmer. Im Krankenhaus nach einer Patientin zu fragen, die mit einem Regierungstransporter gebracht wurde, würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.
»Was glaubst du, was du da machst?«, ertönt eine scharfe Stimme hinter mir.
Yana steht in der Tür des Arbeitszimmers und stützt die Hände in die Hüften. Ocean folgt ihr auf dem Fuß.
»Schon in Ordnung, Skye brauchte den Computer, weil –«
Yana bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Du schläfst in meinem Bett, bringst meine Mutter an den Rand des Burn-Outs und schnüffelst jetzt auch noch in ihren Sachen herum?«
»Genau genommen in den Sachen des Krankenhauses«, sage ich, während ich mir Luces Station und ihre Zimmernummer mit einem Kugelschreiber auf die Hand kritzele. »Wenn das Mädchen, das heute Nacht eingeliefert wurde, nicht sofort aus Greenhill verschwindet, wird selbst deine Mutter sie beim nächsten Mal nicht mehr retten können.«
»Das meinst du doch nicht ernst.« Yana deutet auf die verwackelten Buchstaben. »Dir ist klar, dass du nie wieder aus dem Krankenhaus zurückkommen wirst, oder? Das ist eine Himmelfahrtsmission!«
Ich will gerade erwidern, dass sie mich noch vor ein paar Stunden dazu aufgefordert hat zu verschwinden, als ich hinter ihr eine Bewegung wahrnehme.
»Skye?« Hunter schiebt Yana zur Seite und bleibt wie angewurzelt stehen, als er mich vor Rekas Computer sieht. Mit einem Mal bricht die Fassade zusammen, die ich so krampfhaft aufrechterhalten habe.
»Hunter!« In zwei Schritten ist er bei mir und ich lasse mich von ihm auffangen. »Sie foltern Luce. Sie haben ihr irgendetwas gegeben, damit sie spricht, und jetzt soll Reka sie retten. Aber dann werden sie weitermachen. Sie werden weitermachen, Hunter, so lange, bis sie redet oder stirbt oder beides –« Meine Worte gehen in Schluchzern unter, die tief aus meiner Kehle kommen.
»Ich weiß.« Hunter hält mich fest, einen Arm um meine Taille geschlungen, einen um meine Schultern. »Ich weiß«, wiederholt er. »Und wir werden Luce nicht noch einmal im Stich lassen.«
Ich löse mich aus seinen Armen und sehe ihn an. »Ihr … ihr seid gekommen, um sie da rauszuholen?«
»Allerdings«, sagt Yana. »Aber wir brauchen einen Plan. Und zwar einen besseren, als mit einer gestohlenen Vespa im Pyjama nach Greenhill aufzubrechen.«
Hunter wirft Yana einen wütenden Blick zu, doch ich achte nicht auf sie. Mein Blick wird vom Bildschirm des Computers angezogen, auf dem sich die Zeile Patientenstatus leert. Ein neuer Eintrag ersetzt den alten.
»Verlegt in Rehabilitationseinrichtung?« Oceans Stimme bestätigt mir, dass ich mich nicht verlesen habe. »Dann geht es ihr wohl besser!«
»Aber so schnell?«, stammle ich. »Das kann doch nicht sein, sie müssen doch –« Meine Stimme bricht erneut. Sie müssen gar nichts tun, außer Luce am Leben halten.
»Es dauert nicht lange, jemandem den Magen auszupumpen«, sagt Yana nüchtern.
»Mittlerweile ist sie bestimmt schon unterwegs zu einer der Farmen.« Ocean greift nach der Maus, um die Maske zu schließen, als sei jetzt alles in bester Ordnung.
»Verstehst du denn nicht?«, fahre ich ihn an. »Luce ist nicht drogenabhängig, genauso wenig wie Reilly depressiv ist!«
Ich werde Luce finden. Ich habe es versprochen. Als ich ihre Kette an mich genommen habe, habe ich geschworen, sie zu ihr zurückzubringen. Die Kette! Ich taste nach der Glasscherbe an dem schwarzen Lederband, dem Zeichen der Sonne, das ich für Luce bewahre – doch die Kette ist fort. Genau wie Luce selbst.
Hunter zieht mich wieder in seine Arme. Ich vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter und kralle meine Finger in sein Hemd, während er mich mit leisen Worten zu beruhigen versucht. Aber die Stimme in meinem Kopf übertönt ihn. Zu spät. Wir sind zu spät.

Hunter stützt müde seine Ellbogen auf den Küchentisch. Ocean ist nach Hause gegangen und Yana hat sich kurz darauf erstaunlich feinfühlig ins Wohnzimmer zurückgezogen.
»Wir müssen den Inhalt des Diktiergeräts jetzt hochladen«, sage ich leise. »Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir verhindern können, dass sie Luce und den anderen Untreuen noch mehr antun.«
Die Muskeln in Hunters Oberarmen spannen sich an. »Es ist noch nicht so weit.«
»Aber die Kristallisierer spielen auf Zeit!«, widerspreche ich. »Je länger wir mit der Enthüllung warten, desto mehr Möglichkeiten geben wir ihnen, sich darauf vorzubereiten.« Ich greife nach Hunters Hand, doch er zieht sie weg.
»Ich habe gesagt, es geht nicht!« Er lehnt sich zurück. »Glaubst du wirklich, dass es reicht, eine Tonaufnahme ins Internet zu stellen, um die Kristallisierer aus dem Weißen Haus zu holen?«
Wut kocht in mir hoch. Auf einmal fühle ich mich, als stünden wir wieder im zugigen Einstiegsraum des Transregion. Die kleine Expektantin und der allwissende Testleiter.
»Ich brauche Zeit«, sagt Hunter in einem etwas versöhnlicheren Ton.
Ich starre ihn an. Ich? »Zeit wofür? Worauf willst du noch warten?«, entfährt es mir lauter als gewollt. Ich zucke zusammen, als die Küchentür hinter mir aufgeht.
»Wenn ihr weiter so schreit, weckt ihr Yana noch auf«, zischt Reka. Sie trägt ihren weißen Arztkittel noch und sieht abgekämpft aus. »Solltet ihr nicht beide im Bett sein?«
»Skye konnte nicht schlafen«, murmelt Hunter.
»Hast du Schmerzen?«, fragt Reka. Ich schüttle den Kopf. »Sehr gut.« Reka nickt mir zu, als sei das ein persönlicher Verdienst. »Aber wenn du sowieso wach bist, können wir auch genauso gut jetzt einen kleinen Check-up machen. Ich habe Schnelltests aus Greenhill mitgebracht, um deine Werte zu überprüfen.«
Ich lasse mich von Reka in Yanas Zimmer führen. Bevor ich die Tür hinter mir schließe, drehe ich mich noch einmal zu Hunter um. Er schüttelt kaum merklich den Kopf. Meine nächste Anweisung. Frag Reka nicht nach Luce. Sie darf keine Verbindung zwischen euch ziehen.
Ich bleibe still, während Reka meine Armbeuge desinfiziert. »Alles in Ordnung?«, fragt sie.
»Ja.« Ich lächle sie an.
Warum zögert Hunter auf einmal, ReNatura zu veröffentlichen, wie es doch von Anfang an geplant war? Er verheimlicht mir etwas, so viel ist sicher. Und nichts ist in Ordnung, bis ich herausgefunden habe, was es ist.

Wenig später sind wir zurück in der Küche. Wir setzen uns an den Tisch, an dem Hunter auf uns wartet.
»Die gute Nachricht ist, dass der Sauerstoffgehalt deines Blutes wieder stabil im Normbereich liegt, Skye«, beginnt Reka. »Der Stoff, der deine roten Blutkörperchen angegriffen hat, ist mittlerweile aus deinem System.«
Hunter atmet auf und drückt meine Hand, als hätte er für einen kurzen Moment vergessen, dass wir uns streiten. Wahrscheinlich sollte ich mich ebenfalls freuen, aber alles, woran ich denken kann, ist Luce. Ist der Stoff, den die Kristallisierer ihr verabreicht haben, auch aus ihrem System? Hat Reka ihr das Leben gerettet, ohne zu wissen, was ihr als Nächstes bevorsteht?
»Moment mal, der Stoff?«, hakt Hunter nach. »Also war es doch eine Rauchvergiftung?«
Reka schüttelt den Kopf. »Nein, obwohl Skyes Symptome darauf hingedeutet haben. Kohlenmonoxid verdrängt den Sauerstoff im Blut. Skye litt unter einem solchen Sauerstoffmangel, bloß war kein Kohlenmonoxid in ihrem Blut zu finden – und auch kein anderes Giftgas. Das hat ihren Fall so unerklärlich gemacht.« Reka fährt sich durch das kurze Haar, das ihren ohnehin harten Zügen eine zusätzliche Strenge verleiht. »Habt ihr schon einmal von einem Medikament namens Erythrozynol gehört?«
»Nein«, antworte ich verwirrt.
Auch Hunter schüttelt den Kopf. »Weshalb?«
»Weil Erythrozynol die einzige Erklärung für deine Symptome ist, Skye. Als ich eine Ahnung davon bekam, wonach ich suchen muss, konnte ich Spuren dieses Stoffes in deinem Blut nachweisen. Merkwürdigerweise, denn er wurde schon vor Jahren als Gift klassifiziert und vom Markt genommen.«
»Und was genau ist dieses Erythro…?« Hunter macht eine vage Geste mit der Hand.
»Erythrozynol ist ein Medikament, das entwickelt wurde, um die Symptome von Blutarmut zu lindern«, erklärt Reka. »Eine Anämie, also der Mangel an roten Blutkörperchen, kann viele Ursachen haben – und die meisten davon sind äußerst einfach behandelbar. Aber es gibt eine spezielle Form, bei der das Immunsystem die bereits vorhandenen Blutkörperchen zerstört.«
Hunter sieht genauso ratlos aus, wie ich mich fühle.
»Es ist ganz einfach«, sagt Reka geduldig. »Rote Blutkörperchen, auch Erythrozyten genannt, sind dafür verantwortlich, den Sauerstoff von unserer Lunge zu den anderen Organen zu transportieren. Das schaffen sie durch das in ihnen enthaltene Hämoglobin, den roten Blutfarbstoff. Werden die roten Blutkörperchen aber zerstört, so löst sich der Sauerstoffträger Hämoglobin und schwimmt von da an frei im Blut herum.«
»Also wird kein Sauerstoff mehr zu den Organen transportiert?«, frage ich.
Reka nickt. »Genau so ist es. Ein großer Konzern namens Pharma-Con hat vor Jahren an einem Medikament geforscht, das dieses Problem beheben sollte: Erythrozynol. Es sollte das losgelöste Hämoglobin aufnehmen und zu den Organen transportieren. Ein Ersatz-Blutkörperchen, wenn man so will. Das Problem ist aber, dass Erythrozynol das Hämoglobin nicht bindet, sondern es absorbiert.«
»Und was heißt das?«, fragt Hunter.
»Die Symptome verstärkten sich, statt sich zu verbessern. Das Medikament zerstört die Sauerstoffträger, die es eigentlich zu den Organen transportieren sollte, und man hat das Gefühl, keine Luft zu bekommen, obwohl man atmet. Schlussendlich, wenn der rote Blutfarbstoff komplett verschwunden ist, stirbt der Patient an multiplem Organversagen.«
Ich spüre wieder die Schwäche in meinem Körper. Das Ziehen und das grausame Gefühl, keine Luft zu bekommen, obwohl reiner Sauerstoff durch meine Nase gepumpt wird.
»Und warum bin ich nicht gestorben?«, frage ich leise.
»Die Konzentration in deinem Blut war gering«, sagt Reka. »Das Erythrozynol hat zwar genug rote Blutkörperchen angegriffen, um die Symptome einer schweren Anämie hervorzurufen, aber dein eigentlich gesunder Körper konnte schnell genug neue produzieren.«
»Deshalb auch die Bluttransfusion«, schließe ich.
Reka nickt.
»Und wo sollte Skye mit diesem Teufelszeug in Kontakt gekommen sein?«