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Kopfschüttelnd klappt Yana ihren Laptop auf. »Ich schlage vor, wir durchkämmen erst einmal das Internet«, sagt sie kurz angebunden. »Selbst wenn ReNatura absoluter Geheimhaltung untersteht – irgendeine Spur findet sich immer, und wenn es nur ein Name ist.«
Sie beginnt zu tippen, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Schon erstaunlich, was ein winziges Detail in Sekundenschnelle zerstören kann. Wenn Yana wüsste, wie wahr ihre Worte sind … Wieder sehe ich Rekas Handgelenk vor mir. Wieder ist es ein kleines Schmuckstück, das mir das Vertrauen in jemanden raubt, den ich zu kennen geglaubt habe. Denn der Anhänger verrät mir, dass ich in Las Almas nicht der Einzige bin, der von Mums Tod weiß.
»Hunter? Ich rede mit dir.«
»Sorry.«
Ich beuge mich vor, um pflichtschuldig die Ergebnisse von Yanas Recherche zu begutachten, doch sie klappt den Laptop zu. Forschend sieht sie mich an. »Was ist?«
Ich lasse die Schultern sinken. »Nichts … Ich habe nur das Gefühl, niemand steht noch auf unserer Seite. Erst Amanda und Manuel, die einen Pakt mit den Kristallisierern geschlossen haben. Dann Luce, die zu einer Terrorgruppe gehört. Und –«
Und Reka. Die beste Freundin meiner Mutter, die vor den anderen so tut, als sei Mum noch am Leben, obwohl sie die Wahrheit kennt. Ich habe wenigstens einen guten Grund für meine Lüge. Wie lautet ihrer?
»Mit dir und mir ist unsere Seite stark genug«, sagt Yana entschieden, bevor ihre Gesichtszüge sanfter werden. »Und meine Großeltern würden dich niemals ausliefern, Hunter.«
»Ach, glaubst du das?«
»Ja, das glaube ich!« Yana klingt verletzt. »Sie waren immer für dich da. Sie heißen dich nach Jahren der Funkstille willkommen wie einen verlorenen Sohn. Sie machen keine Anstalten, Sol zu erreichen und ihr zu petzen, dass du mit einem Mädchen durchgebrannt bist, weil sie deinen Freiraum respektieren.« Yana kneift die Augen zusammen. »Das ist es, worüber du dir Sorgen machst, oder nicht? Dass sie rauskriegen könnten, dass der Brief damals von dir war und Sol …?«
»Lass uns bitte einfach mit der Suche weitermachen.« Ich klappe den Laptop wieder auf. Wir werden weder im Internet noch im Darknet irgendetwas über ReNatura finden, aber der Versuch wird Yana hoffentlich für eine Weile beschäftigen, damit ich nachdenken kann.
Doch sie beachtet mein schwaches Ablenkungsmanöver nicht. »Denkst du, meine Mutter wird versuchen, deine anzurufen? Jetzt, wo du hier aufgetaucht bist?«
Ich fixiere eins der Löcher im Wellblechtor, durch das ein schmaler Lichtstrahl in die Garage fällt. Der Gedanke, der mir seit Stunden keine Ruhe lässt, kreist wieder und wieder in meinem Kopf. Im Juni vor vier Jahren ist Mum erschossen worden. Wenige Tage später ließ Reka ihren Job und ihre Freunde zurück und zog quasi über Nacht zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter zurück nach Las Almas. Ich habe den spontanen Umzug, den auch Yana mir damals nicht erklären konnte, für einen Zufall gehalten – bis ich den Anhänger an Rekas Armband entdeckte. Denselben Anhänger, den Mum bei ihrer Flucht getragen hat. Den ich zusammen mit ihrer Leiche zurückließ, als Beth mich panisch wegzerrte.
»Nein«, beantworte ich Yanas Frage. »Ich glaube nicht, dass deine Mutter versuchen wird, meine anzurufen.«
Denn Tote gehen nicht ans Telefon – das weiß auch Reka.

Was heißt das, nicht da?«
Der freundliche Mann, der sich als Manuel vorgestellt hat, schiebt sich den Sonnenhut in den Nacken und kratzt sich die Stirn. »Als meine Frau ihn vor einer halben Stunde zum Frühstück holen wollte, war sein Bett leer. Wahrscheinlich steht der Junge gerade bei Reka vor der Tür und verpasst dich.« Yanas Großvater lächelt mir zu, wobei sich tausend Falten um seine Augen bilden. Er schiebt die Schubkarre beiseite, die vor der Veranda steht. »Möchtet ihr vielleicht hereinkommen? Amanda würde sich mit Sicherheit freuen, dich kennenzulernen!« Manuel wirft Ocean einen strengen Blick zu. »Und ihren Enkel zur Abwechslung mal wiederzusehen.«
Ich schüttle den Kopf, bevor Ocean etwas erwidern kann. »Danke. Vielleicht ein anderes Mal.«
»Ich weiß, wo Hunter sein könnte«, sagt Ocean zögerlich, als wir wieder auf die Main Road stoßen. »Aber es wird dir nicht gefallen.«
Abseits der Hauptstraße werden die Häuserreihen schmaler, während die Strommasten ein Spinnennetz aus Kabeln über ihren Dächern bauen. Die Fenster der wenigen Häuser, an denen wir vorbeikommen, sind mit Pappkartons zugeklebt.
»Wie weit ist es noch?«, frage ich ungeduldig.
Ocean deutet die Straße hinab auf ein schmales Holzhaus, halb verdeckt von einer hohen Hecke. »Dort, neben dem Geisterhaus. Yana und Hunter haben einen Sommer lang die halbe Einrichtung in die Garage geschleppt.« Er zuckt mit den Schultern. »Manche Leute fühlen sich anscheinend wohl im Zwielicht.«
Ich denke an Yana und den Kerl, mit dem sie in der Nebenstraße gestritten hat. Das kannst du laut sagen …
Das »Geisterhaus« ist nicht das erste verlassene Gebäude, an dem wir vorbeikommen. Zwar haben die Kristallisierer ihr Wort gehalten und Las Almas mit den versprochenen Hilfen unterstützt, aber genügend Arbeit gibt es im Reservat offenbar immer noch nicht.
Wir betreten die verwahrloste Auffahrt. Ocean geht mir voraus zu einer niedrigen Garage und schiebt das Wellblechtor nach oben. Überrascht starren Hunter und Yana uns entgegen. Sie sitzen nebeneinander auf einem alten Sofa und sehen angespannt aus. Bei Yanas Anblick vergesse ich die Rede, die ich mir auf dem Weg hierher zurechtgelegt habe. »Ich werde mir Beths Anerkennung verdienen«, klingt ihre Stimme wieder in meinen Ohren.
»Skye!«, entfährt es Hunter, als ich auf Yana zustürme und ihr den Laptop entreiße, der auf ihrem Schoß liegt.
»Was –« Weiter kommt sie nicht.
»Willst du es Hunter sagen oder soll ich?«
»Skye, was ist hier los?« Sein Blick wandert von mir zu ihr.
Ich stelle den Laptop auf dem wackligen kleinen Tisch ab und schaue Hunter an. »Es war ein Fehler, ihr von dem Plan meiner Mutter zu erzählen«, stürzt es aus mir heraus. »Ich habe sie belauscht. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie mich ins Hauptquartier verschleppt, womöglich noch mithilfe dieses unangenehmen Typen.«
Yana reißt erstaunt die Augen auf, bevor sie zu lachen beginnt. »Du bist es wirklich gewohnt, dass die Welt sich nur um dich dreht, oder?«
Hunter steht auf. »Wovon spricht Skye, Yana?«
»Von einem unfreiwilligen Treffen auf dem Weg hierher – mit jemandem, über den ich lieber nicht reden würde. Aber keine Sorge. Anders als deine Freundin vermutet, ging es ausnahmsweise einmal nicht um sie.«
Ich beiße die Zähne zusammen. Eine Erwiderung liegt mir auf der Zunge, aber was Yana Faray von mir denkt, muss mir im Augenblick egal sein. Sagt sie die Wahrheit? Yanas Erstaunen schien echt. Andererseits wird sie als Mitglied des Rings auch ein beträchtliches Schauspieltalent besitzen …
»War es Cren?«, fragt Hunter. Yana verschränkt die Arme vor der Brust. »Er hat sich über seine Versetzung beschwert, oder?« Hunter schnaubt. »Der kann froh sein, dass er nur nach Florida gekommen ist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ihn komplett rausgeworfen.«
Ich mustere Hunters Gesichtszüge, die mir auf einmal kantiger vorkommen, härter. Das ist der Mann, der für den Ring arbeitet. Beths Handlanger.
»Richtig«, sagt Yana widerstrebend. »Es ging um die Versetzung. Er vermisst das Hauptquartier.«
»Ich kann mir denken, was Cren vermisst«, erwidert Hunter düster. »Und das ist garantiert nicht das Hauptquartier. Der war doch öfter in den Bars der Lower Eastside als in der alten Bibliothek.«
»Oh bitte!« Yana verdreht die Augen. »Du bist wirklich der Letzte, der sich darüber ein Urteil erlauben darf.«
Ich beschließe, Yanas Bemerkung zu ignorieren, und werfe ihr stattdessen einen auffordernden Blick zu. Wir wissen beide, dass es diesem Cren nicht um irgendeine Versetzung ging. Er wollte sie auf seine Seite ziehen, was auch immer das bedeutet. Doch als ich den Mund öffne, deutet Yana mit dem Kinn zu Ocean, der noch immer am Tor der Garage steht, und schüttelt beinahe unmerklich den Kopf. Ich beiße mir auf die Lippe. Oceans Anwesenheit erinnert mich daran, warum ich eigentlich hier bin.
»Es ist noch etwas anderes passiert, oder nicht?« Hunter sieht mich fragend an. Er kennt mich so gut. Ein warmes Gefühl durchflutet mich. Wortlos umarme ich ihn, atme seinen Duft ein und schließe für einen Moment die Augen.
»Wir müssen den Inhalt des Diktiergeräts ins Internet stellen«, sage ich, nachdem ich mich von ihm gelöst habe. »Jetzt. Wir dürfen die Enthüllung keine Sekunde länger hinauszögern, wenn wir Luce und uns selbst retten wollen.«
Hunter senkt den Kopf. Anders als gestern Abend lese ich jedoch weniger Wut als Verzweiflung in seinem Gesicht. »Ich habe doch gesagt, dass ich –«
»Die Kristallisierer haben die Checks auf den Markt gebracht«, unterbreche ich ihn.
Hunter sieht mich erschrocken an. »Bist du sicher?«
Ich nicke. »Eine Touristin in Monas Café trug einen. Die Überwachung im Zentrum –« Meine Stimme stockt, als ich an die Mädchen in den schwarzen Overalls denke, verraten durch ein silbernes Armband. »Das war nur der Anfang.«
Meine Hand findet Hunters wie ein Magnet seinen Gegenpol. Wir brauchen keine Worte, um zu wissen, was der andere denkt: wie gut das alles zusammenpasst. Unsere Flucht, die überstürzte Marktpremiere der Checks. Die Regierung muss keine öffentliche Fahndung nach Hunter und mir ansetzen. Nicht, wenn jeder Winkel dieses Landes bald von unfreiwilligen Spionen besetzt wird. Die Kristallisierer haben die Jagd eröffnet – nicht nur auf uns, sondern auf jeden einzelnen Regierungsgegner, damit bis zum Programmstart von ReNatura kein Untreuer mehr übrig ist. Und damit sind wir nirgendwo mehr sicher …
»Könnte mir endlich jemand erklären, was hier los ist?« Ocean hat die Arme vor der Brust gekreuzt. »Seid ihr jetzt alle zu Verschwörungstheoretikern geworden, oder was?«
»Geh nach Hause, Ocean.« Yanas Stimme hat jede bissige Schärfe verloren. »Bitte.«
»Ich gehe nirgendwohin!«, protestiert der schmächtige Junge und sieht mich auffordernd an.
Doch ich kann nichts für ihn tun, denn ich weiß, wie gefährlich die Wahrheit ist. Und ich weiß, dass jemand, der so unverdorben ist wie Ocean, nicht damit umgehen kann.
»Es ist wirklich besser, wenn du uns allein lässt«, bringe ich heraus und bemühe mich, meine Worte nicht so ablehnend klingen zu lassen, wie sie in Wahrheit sind.
»Verstehe.« Ocean zieht Chief zu sich und sieht mich wütend an. »Du vertraust mir also auch nicht. Aber wenn du mir nicht sagen willst, warum du solche Angst um Luce hast, werde ich eben selbst herausfinden, was mit ihr und Reilly passiert ist.« Er dreht sich um und stürmt die Auffahrt hinunter.
»Ocean!«, rufe ich ihm hinterher, doch der Junge, der in so kurzer Zeit zu einem Freund geworden ist, verschwindet hinter der Hecke, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Yana schließt das Garagentor mit einem Knall. »Das wäre geklärt«, seufzt sie und stützt die Hände in die Hüften. »Also, zurück zu –«
»Machst du dir denn gar keine Sorgen um ihn?«, fahre ich sie an. »Ihr behandelt Ocean wie ein Kind, dabei führt das nur dazu, dass er sich beweisen will! Wir sollten noch mal mit ihm sprechen. Ihm zumindest einen Teil erklären –«
»Ich werde meinem kleinen Cousin garantiert nicht eröffnen, dass antifeministische Fanatiker unser Land regieren und in diesem Moment Gott weiß was mit dem Mädchen anstellen, in das er verliebt ist«, schneidet Yana mir das Wort ab.
Also hat Hunter ihr von ReNatura erzählt. Er wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, doch ich sehe weg. Ich hoffe, dass du dein Vertrauen nicht bereuen wirst!
»Was ist, wenn Ocean anfängt, anderen Fragen zu stellen?«, bohre ich weiter. »Wenn er versucht, etwas über Daliawood herauszufinden? Das Konsilium registriert Suchverläufe im Internet. Man wird wissen, wenn Ocean gegen das System ist.«
»Wird man nicht.« Ungläubig sehe ich Yana an. »Weil Ocean nicht mehr im Netz recherchieren kann«, fügt sie hinzu.
»Was soll das heißen?« Ich drehe mich zu Hunter um, der sich wieder auf die Couch gesetzt hat und den Laptop aufklappt.
»Die Checks sind nicht unser einziges Problem, Skye.«
Mit einem unguten Gefühl setze ich mich neben ihn. »Seite nicht gefunden«, lese ich auf dem Bildschirm und klicke auf die anderen geöffneten Tabs. Sie verkünden alle dasselbe.
»Zuerst haben wir gedacht, es läge an unserer Verbindung. Oder an den einzelnen Adressen«, sagt Hunter. »Aber das ist es nicht. Nichts geht mehr, weder Nachrichtendienste noch soziale Netzwerke oder Suchmaschinen.«
»Das Internet kann man doch nicht einfach so abschalten.« Ich verstumme, als auf einmal eine ähnliche Diskussion in meiner Erinnerung lebendig wird. Das ist gegen die Menschenrechte. Elias und ich sahen schweigend die Bilder von den Protestzügen in Kairos Straßen, während der Sprecher darüber berichtete, dass die ägyptische Regierung den Nachrichtenverkehr blockiert hatte. So etwas passiert in einer Welt ohne Traits, haben wir damals gedacht.
Ich starre auf das kleine rote Ausrufezeichen auf dem Bildschirm vor mir und denke an die Touristin im Café, die ihren Mann nicht erreichen konnte. »Bist du sicher, dass der Ausfall nicht nur Las Almas betrifft?«, frage ich, doch Hunter schüttelt den Kopf.
»Dann hätte ich den Fehler längst entdeckt. Nein, die Gläsernen Nationen sind komplett abgeschnitten. Es gibt keine Möglichkeiten mehr, in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen. Die Mobilfunkleitungen sind tot, das Internet ist aus.«
Ich schließe die Augen und stütze die Stirn auf meine Hände. »So wollen die Kristallisierer uns aufhalten«, flüstere ich.
Nun erst wird mir klar, was dieser Shutdown bedeutet: Unser Diktiergerät ist wertlos. Ohne Internet, ohne die Möglichkeit, jede Frau, jeden Mann und jedes Kind in den Gläsernen Nationen hören zu lassen, wie die Kristallisierer die Emanzipation zurückdrehen wollen, sind wir nichts weiter als drei machtlose Teenager in einer verlassenen Garage am Ende der Welt.

Ich nehme den Kaffee entgegen, den Yana mir schweigend reicht, obwohl ich noch nie welchen getrunken habe.
»Es nennt sich Internet Kill Switch«, erklärt Hunter, während er in der Garage auf und ab läuft und dabei fast über einen Reiserucksack stolpert, den jemand achtlos auf dem Boden liegen gelassen hat. »Jeder, der sich ein bisschen für die Thematik interessiert, weiß, dass Staaten das Internet und das Mobilfunknetz stilllegen können, zum Beispiel im Fall von nationalen Krisen oder Angriffen. Das funktioniert wie mit einem Notausschalter.«
»Und das ist legal?«, wirft Yana ein und tippt auf ihrem Handy herum.
»Solange ein solches Gesetz existiert, ja.« Hunter lacht trocken. »Was auch immer das noch wert ist. Immerhin sprechen wir von einer Regierung, die Menschen verschwinden lässt und ihre Bürger ausspioniert.« Er setzt sich und zieht den Laptop erneut zu sich. »Sieht so aus, als müssten wir einen Weg finden, die Sperrung zu umgehen, wenn wir mehr wissen wollen«, murmelt er.
Der Kaffee ist noch zu heiß, aber ich trinke trotzdem einen bitteren Schluck, während ich seinen langen, schlanken Fingern dabei zusehe, wie sie auf die Tastatur einhämmern. Wie lange können die Kristallisierer diesen Shutdown halten, ohne Unruhen zu provozieren? Nervös tippe ich mit den Fingerspitzen gegen meine Tasse.
»Kannst du das bitte lassen?«, fragt Hunter angepannt. Er öffnet einen Browser – und anstelle des kleinen roten Fehlerzeichens baut sich vor unseren Augen die CCN-Seite auf.
»Du hast es geschafft!«, rufe ich.
Yana sieht erstaunt von ihrem Handy auf. »Wie hast du das denn gemacht?«, fragt sie anerkennend.
Doch Hunter schüttelt den Kopf. »Das war nicht ich.«
Yana, Hunter und ich rutschen dichter vor dem Bildschirm zusammen. Die Livestreamübertragung von CrystalClear-News funktioniert ohne jede Unterbrechung, als hätte im Internet nicht Sekunden zuvor noch gähnende Leere geherrscht.
»Mit dem nationalen Shutdown reagierte ein Krisenstab der Regierung heute Mittag auf den größten Social-Media-Eklat in der Geschichte der Gläsernen Nationen«, sagt Regierungssprecher Edward McCarty in ein Mikrofon, das ihm vor den Toren des Weißen Hauses entgegengehalten wird. Der Sitz des Präsidenten ist dem Washingtoner Original nach der Gründung der Gläsernen Nationen täuschend echt in einem abgeriegelten Teil des Central Parks nachgebaut worden.
»Ein Datenleck in bisher unbekanntem Ausmaß wurde zuvor vom nationalen Sicherheitsdienst detektiert. Woher der Hackerangriff stammt, ist noch unklar, aber er beweist die Unsicherheit der sozialen Netzwerke und Nachrichtendienste mit erschreckender Deutlichkeit.«
Ein Hackerangriff, ausgerechnet jetzt? Ich schaue zu Hunter, der die Worte des Regierungssprechers mit gerunzelter Stirn aufsaugt. »Das ist ein Vorwand, oder nicht?«, wispere ich.
Hunter nickt, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Die IT-Experten des Weißen Hauses werden das Silicon Valley eigenhändig lahmgelegt haben«, murmelt er. »Selbst der Kristall braucht einen Grund für den Einsatz des Kill Switchs.«
Wie aufs Stichwort schwenkt die Kamera von McCarty zu Chloe Cremonte. Sie trägt Weiß, wie immer, und trotz des Windes, der die Wipfel der Bäume bewegt, liegen ihre glatten Haare gleichmäßig um ihr Gesicht.
»Wir müssen die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger um jeden Preis gewährleisten«, verkündet sie mit ihrer klaren Stimme, die kein Mikrofon benötigt. Chloe Cremonte, der Kristall, ist das perfekte Beispiel einer Rationalen, ruhig und gefasst in jeder Krise. Und obwohl ich ihr Spiel durchschaue, erwische ich mich dabei, wie ihre Worte mich in dem alten Vertrauen wiegen. »Dieses Datenleck ist ein bedauernswerter Fehler, aber ein solcher Angriff wird zukünftig unmöglich sein.«
Chloe Cremontes glattes Lächeln verschwindet vom Bildschirm und lässt uns ohne Antworten zurück. Dass ich mein rechtes Handgelenk umklammert halte, bemerke ich erst, als Yana mir einen spöttischen Blick zuwirft.
»Was ist, kleine Rebellin? Trauerst du um das R, das du hättest haben können? Hast du etwa doch nicht die Seiten gewechselt?«
Ich starre auf die Adern, die durch die dünne Haut meines Handgelenks schimmern. Ein Teil von mir vermisst die Klarheit meiner früheren Welt. Rational oder emotional. Beherrscht oder impulsiv. Es gab nichts dazwischen. Es war nicht nötig, sich zu fragen, wer man wirklich ist – es war nicht nötig, sich überhaupt irgendetwas zu fragen. Ich schließe die Augen. Die Seiten gewechselt habe ich, daran besteht kein Zweifel. Aber wofür genau kämpft meine? Für eine Welt ohne ReNatura? Für eine Welt ohne Traits? Und wenn das der Fall ist, wie werden wir ohne die Buchstaben zurechtkommen, die unsere Identität ersetzt haben? Ich gebe mir einen Ruck und erwidere Yanas herausfordernden Blick.
»Ich bin auf der Seite derjenigen, die ReNatura aufhalten wollen«, sage ich und deute auf den Verband quer über meiner Schulter. »Das hier sollte als Beweis reichen.«
»Du musst nichts beweisen.« Hunter zieht mich an sich. »Bald sind die Traits Geschichte«, sagt er mit fester Stimme. »Dann entscheiden nur noch wir selbst, wer wir sein wollen.«
Ich lächle, obwohl sich mein Innerstes zusammenzieht. Hunter hasst die Traits von ganzem Herzen. Für ihn sind sie eine Fessel, von der er sich nicht schnell genug befreien kann. Was würde er über mich denken, wenn er wüsste, dass mir die Traits trotz allem, was passiert ist, noch immer wie ein Rettungsring vorkommen?
»Wenn ihr zwei Turteltauben eure Hormone nicht bald in den Griff bekommt, dann sind wir demnächst Geschichte.« Yana dreht den Laptop zu uns. »Es ist so, wie ich es mir gedacht habe«, verkündet sie düster. »Das Internet ist zwar wieder da und auch Handys funktionieren wie gehabt. Aber während des Shutdowns haben diese Schweine eine schwarze Liste erstellt.« Sie fängt meinen fragenden Blick auf. »Die Kristallisierer haben bestimmte IP-Adressen gesperrt«, erklärt sie. »Während das Internet abgeschaltet war, haben sie eine Firewall aufgebaut. Sie blockiert jede Seite, auf der die Kristallisierer unerwünschte Inhalte gefunden haben.«
»Mit anderen Worten, untreue Inhalte«, murmele ich.
Yana nickt. »Grob gesagt, ja. Wir haben mit CCN zwar seit der Gleichschaltung der Medien sowieso nur noch einen einzigen Nachrichtensender, und die Kristallisierer löschen kritische Artikel und Profile, seit sie an der Macht sind. Aber bisher hatte man Zugang zu ausländischen Websites. Jetzt komme ich zu denen nicht mehr durch. BBC, Al-Jazeera und sogar Youtube sind gesperrt.« Yana schaut uns an. »Sie haben endgültig ein Nachrichtenmonopol geschaffen. Ab jetzt sehen wir wohl nur noch, was wir sehen sollen.«
Ich starre auf den Bildschirm, auf dem sich das CCN-Logo langsam um sich selbst dreht. Es war alles umsonst. Das Labor, die Flucht, das Feuer. Bei der Erinnerung an die Hitze und den beißenden Rauch in Angelas Wohnung zieht sich erneut meine Lunge zusammen.
»Vielleicht hatten wir nie eine wirkliche Chance«, sage ich erschöpft. Mein Körper sinkt tiefer in die weichen Kissen der Couch, als hätte er sich bereits zur Kapitulation entschieden. »Vielleicht haben wir uns überschätzt.«
Hunter springt auf und zieht mich auf die Füße.
»Wir haben uns geschworen, ReNatura aufzuhalten. Zusammen. Wir werden nicht aufgeben, okay?«
Der Stress der letzten Tage scheint mit einem Mal von Hunter abzufallen. Er wirkt energiegeladen, beinahe euphorisch. Ich weiche seinem glühenden Blick aus. Wir haben keinen Geheimdienst im Rücken, keine allmächtige Partei, keine Journalisten, die uns treu ergeben sind, und keine Ordnungswahrer. Alles, was wir haben, ist ein Diktiergerät voller Worte, die ohne freies Internet niemand hören wird … Zögernd hebe ich den Blick, schaue in die smaragdgrüne Tiefe von Hunters Augen und spüre, wie die verzweifelten Stimmen in mir leiser werden.
»Wir können das schaffen«, sagt Hunter beschwörend. »Wir müssen.«
Ich merke, wie mein Kopf nickt. Ich habe diesen Kampf gewählt, als ich mich entschloss, nicht wegzusehen. Jetzt werde ich ihn zu Ende führen müssen, ob ich will oder nicht.
Ich hole tief Luft. »Wir müssen es schaffen«, wiederhole ich. Dann erwidere ich sein Lächeln und deute auf den alten Kühlschrank. »Aber ohne Lunch mache ich gar nichts.«
»Na wunderbar, dass wir uns darüber einig sind.« Yana klappt den Laptop zu und steht auf. »Ich würde allerdings Monas Café vorschlagen, wenn wir mehr als Cola und trockene Sandwiches zur Auswahl haben wollen.« Sie hält ihr Handy hoch. »Ma schreibt, sie lädt uns ein.«
Ich öffne schon den Mund zum Protest, doch Hunter kommt mir zuvor. »Dann lasst uns gehen.«
Erstaunt sehe ich ihn an. Yana kramt ein Päckchen Kaugummi aus der bunten Umhängetasche, die neben der Couch liegt. »Ich wäre bereit.«
»Aber die Checks –«, sage ich verständnislos.
Hunter streicht mir beruhigend über den Arm. »Die Checks sind gerade erst auf den Markt gekommen und hier wahrscheinlich noch nicht verbreitet. Außerdem hast du doch gehört, was Yana gesagt hat. Reka kommt extra aus Greenhill, um ihre Mittagspause mit uns zu verbringen.« Hunters Lächeln erreicht seine Augen nicht, und ich denke daran, wie er Reka gestern Nacht hinterhergestarrt hat. »Es wäre doch unhöflich, sie warten zu lassen.«
Er schiebt das Garagentor nach oben, und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm und Yana hinaus ins Sonnenlicht zu folgen.

Auf der Main Road stauen sich Stoßstange an Stoßstange Trucks und Autos. Das Internet war keine Stunde lang tot – und in Las Almas herrscht bereits der Ausnahmezustand.