- -
- 100%
- +
»Wer weiß, was dieser Angriff noch für Folgen haben wird«, höre ich eine Frau an einer Bushaltestelle sagen.
»Ich lösche auf jeden Fall sofort alle meine Social-Media-Profile«, erwidert ihre Begleiterin.
Sie beachten uns nicht, als wir an ihnen vorbeigehen. Schließlich können sie nicht wissen, dass das Mädchen in dem blauen Top und der Typ mit den Locken diejenigen sind, die die Kristallisierer eigentlich ausschalten wollen. Meine Hand fühlt sich kalt an in Hunters warmer.
»Bist du sicher, dass wir das tun sollten?«, zische ich Hunter zu, als wir vor der Glastür von Monas Café angekommen sind.
Yana hebt spöttisch die Augenbrauen. »Hast du dich hier schon mal umgesehen? Sind dir die eingeschlagenen Fensterscheiben und die heruntergekommenen Häuser entgangen? Das hier ist Las Almas, Schätzchen. Der letzte Ort, an dem die Leute ihr Geld für die neusten Technikspielereien aus New York ausgeben. Die einzigen Checks, die du hier finden wirst, sind die am Arm der Tagestouristen.« Sie öffnet die Tür. »Und die werden nach allem, was heute passiert ist, garantiert längst zurück auf dem Highway sein.« Sie deutet die Straße hinunter auf den Stau und tritt ein.
Ich sehe mich um. Am Fenster ist ein Tisch frei, doch ich steuere stattdessen auf einen kleineren in der Ecke neben den Toiletten zu. Yana verzieht genervt das Gesicht, sagt aber nichts. Unauffällig mustere ich die anderen Gäste und atme auf, als ich keine silbernen Armbänder entdecke.
»Wollt ihr schon etwas bestellen?« Mona taucht neben unserem Tisch auf, ein Tablett mit Milchshakes in der Hand.
Yana schüttelt den Kopf. »Wir warten noch auf meine Mutter.« Sie sieht zweifelnd aus dem Fenster. Der Stau auf der Main Road löst sich nicht auf, im Gegenteil, jetzt hupen die Fahrer in ihrer Wut darüber, dass es nicht weitergeht.
»Ich bringe euch schon mal eine Runde Eistee«, entscheidet Mona und zwinkert uns zu. »Geht aufs Haus.«
Ich will mich bedanken, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken, als plötzlich Chloe Cremontes Stimme ertönt. Sie ist überall gleichzeitig.
»Die Geschehnisse des heutigen Vormittags bieten Grund zur Sorge, aber die Gläsernen Nationen sind unangreifbar. Denn wir sind vorbereitet.« Die Worte multiplizieren sich. Der Kristall spricht aus jedem Smartphone um uns herum, aus jedem Laptop. Schlagartig verstummt das Café, und die Leute drehen sich zum Fernseher über dem Tresen, der sich ebenfalls selbst eingeschaltet hat. Anstelle von Chloe Cremontes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm nun ein blaues Achteck auf weißem Grund. »Octagon ist ein soziales Netzwerk, an dessen Entwicklung unsere Experten seit Jahren arbeiten. Es gewährleistet einen sicheren Austausch, den verantwortungsvollen Umgang mit Ihren Daten und absolute Transparenz.« Das Achteck erhebt sich auf dem Fernsehbildschirm und dreht sich ins Waagerechte. Linien erscheinen darüber und darunter. Sie ziehen Verbindungen, bis uns ein stilisierter Kristall entgegenstrahlt. »Teilen wir unsere Gedanken, Ideen und unsere Worte, vereint an einem sicheren Ort.« Draußen auf der Straße haben die Autos aufgehört zu hupen. Die Leute auf den Bürgersteigen sind stehen geblieben, den Blick starr auf ihre Handys gerichtet. Chloe Cremontes Stimme schwebt über den Tischen des Cafés. »Die Welt des Internets braucht endlich Regeln und Ordnung. Sicherheit muss höchste Priorität bekommen. Für Klarheit und Weitsicht.«
Hunter und ich sehen uns an. Die Kristallisierer ziehen die Schlinge immer enger. Sie wappnen sich mit allen Mitteln gegen die Enthüllung von ReNatura. Um mich herum tippen die ersten Octagon schon in die Suchleiste ihrer Handys. Erkennt ihr denn keine verdammte Zensur, wenn sie euch ins Gesicht spuckt? Am liebsten würde ich schreien.
Die Kamera schwenkt herum, zeigt die dicht gefüllten Reihen des Parlamentsaals. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und gehe auf den Fernseher über der Theke zu.
»Skye?«
Hunter erhebt sich ebenfalls, doch mein Blick klebt an dem grauhaarigen Mann im Anzug, der in der hintersten Reihe des Saals stehend applaudiert. Der Mann, von dem ich mich vor zweieinhalb Wochen an der New Yorker Central Station verabschiedet habe, um in den Zug zur Testung zu steigen.
»Nein.«
Meine Stimme ist kaum hörbar, als ich zusehe, wie mein Vater voller Stolz lächelt, während Chloe Cremonte unsere Freiheit begräbt.

Hör auf, dich zu benehmen, als wäre Octagon ein Glücksfall!«, zischt Yana, nachdem sie die Tür des Bungalows hinter mir geschlossen hat und Skye im Bad verschwunden ist. »Du wirst ihr trotzdem endlich sagen müssen, was mit dem Diktiergerät passiert ist.«
»Ich dachte, du kannst sie nicht leiden«, erwidere ich unwirsch.
»Kann ich auch nicht«, sagt Yana. »Aber sie verdient es nicht, im Dunkeln gelassen zu werden. Du schuldest ihr die Wahrheit und du wirst sie nicht mehr lange vor ihr verheimlichen können!«
»Du hast ja recht, verdammt noch mal!«, explodiere ich. Im Badezimmer rauscht der Wasserhahn und ich senke hastig die Stimme. »Octagon gibt mir Zeit, okay? Während Skye damit beschäftigt ist, darüber nachzudenken, was Cremontes neuster Coup für uns bedeutet, können wir –«
»Was? Nach New York fahren und da ins Weiße Haus einbrechen? Nein danke, Hunter. Wenn mir nach Selbstmord ist, springe ich von einer Brücke.« Yana schüttelt den Kopf. »Wir müssen gemeinsam nachdenken, wie wir an einen neuen Beweis kommen. Und so ungerne ich es auch zugebe, dabei könnte deine kleine Freundin tatsächlich von Nutzen sein.«
Yanas Handy klingelt. Sie wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu, bevor sie den Anruf annimmt. »Ma?« Yana stellt auf Lautsprecher. Ich folge ihr in die Küche.
»Auf dem Highway ist die Hölle los, und außerdem wurde ich gerade gebeten, heute auch noch die Nachtschicht zu übernehmen.« Rekas Stimme klingt gestresst. »Ich drehe um und fahre zurück nach Greenhill. Ist bei euch alles in Ordnung?«
»Alles gut, Ma. Wir haben schon damit gerechnet, dass du nicht mehr kommst. Wir sind nach Hause gegangen und essen hier.«
Während Yana verspricht, für den Rest des Tages im Bungalow zu bleiben, wandert mein Blick hinüber zu den gerahmten Fotos auf der Anrichte. Eins von ihnen zeigt Reka, wie sie ihren Arm um meine Mutter legt. Anders als die Bilder von Yanas Vater Daniel trägt es keine schwarze Trauerschleife. Ich fixiere das Gesicht der Frau, der ich noch vor wenigen Tagen mein Leben anvertraut hätte. Es gibt nur eine Antwort auf die Frage, wie sie in den Besitz von Mums Anhängers gekommen ist. Sie muss wissen, was in der Nacht der Flucht geschehen ist, muss Mum noch einmal gesehen haben. Und zwar, nachdem ich sie tot auf dem Highway zurückgelassen habe – denn da trug sie den Anhänger noch. Warum ist Reka mit ihrer Familie damals also Hals über Kopf zu ihren Eltern ins Reservat gezogen, wenn nicht aus Angst vor dem, was sie über Mums Tod erfahren hat?
»Ist Hunter noch bei dir?«, hallt Rekas Stimme aus dem Handylautsprecher.
»Natürlich, Ma.«
»Er ist nicht aufgebrochen, als der Shutdown losging?«
Yana seufzt. »Nein, Ma. Hunter ist hier, deine Patientin ist hier. Es geht uns allen gut, und ich werde jetzt auflegen, wenn du nichts dagegen hast.« Yana beendet das Telefonat und verzieht das Gesicht. »Als könnten wir nicht auf uns selbst aufpassen«, murmelt sie und öffnet das Gefrierfach, um drei Fertigpizzen herauszuholen. »Die meisten Leute halten Ma für kühl, aber eigentlich versucht sie nur, jeden zu schützen, der sich in ihrer Obhut befindet.«
Ich nicke, dabei ist mir klar, welche Rechnung Reka anstellt: In Las Almas war alles ruhig, bevor Skye und ich mit unserer wenig glaubwürdigen Geschichte des Pärchens auf der Flucht ankamen. Seitdem ist Skye fast an einem Medikament gestorben, das es nicht geben dürfte, seitdem wurde ein unter Drogen stehendes Mädchen von einem Regierungstransporter ins Krankenhaus eingeliefert und jetzt … jetzt monopolisieren die Kristallisierer auf einmal das Internet. Reka ist nicht umsonst Chefärztin. Sie hat gelernt, Hinweise zu sammeln und sie zusammenzufügen.
»Es gibt Pizza?« Skye steht im Türrahmen, ein entschuldigendes Lächeln im Gesicht, als wollte sie beweisen, dass alles in Ordnung ist. Aber ihre geschwollenen Augen verraten, dass sie im Badezimmer geweint hat. Sie liebt ihren Vater. Sie will glauben, dass er sich in den letzten vier Jahren verändert hat, dass er bereut, dass er jetzt auf unserer Seite ist. Doch der heutige Tag hat das Gegenteil bewiesen.
»Ja«, sage ich schnell. »Du hast die Wahl zwischen Margherita und Salami.«
Wir setzen uns auf die Küchenbank. Skye zieht Yanas Laptop zu sich heran.
»Meinst du nicht, du solltest –«
»Mich ausruhen?« Skye schüttelt den Kopf. »Nein, Ruhe würde mich jetzt wahnsinnig machen. Wir müssen mehr über Octagon herausfinden. Ich will alles wissen, was es zu wissen gibt.«
Yana wirft mir einen triumphierenden Blick zu. Ich habe es dir doch gesagt.
Als der Ofen piept, holt Yana die Pizzen heraus und stellt drei Teller auf den Tisch.
»Octagon ist auf den Checks vorinstalliert und anscheinend auch nur auf Checks verwendbar.« Skye deutet auf einen Onlineartikel von CCN. »Nicht mit herkömmlichen Smartphones kompatibel, steht hier. Sie verkaufen das als weitere Sicherheitsmaßnahme gegen Hackerangriffe. Die Checks sollen zu einhundert Prozent zugriffsicher sein.«
»Außer vonseiten unserer eigenen Regierung«, grummelt Yana.
»Wenn ich das richtig sehe, müssen wir es schaffen, den Inhalt des Diktiergeräts irgendwie auf Octagon zu stellen«, sagt Skye unbeirrt. »Die alten sozialen Netzwerke können über den Check nicht aufgerufen werden und seit heute werden die meisten Leute sie sowieso nicht mehr nutzen. Damit sind sie als Enthüllungsplattform wertlos.«
Skye beißt in ein Stück Salamipizza, während Yana mir einen auffordernden Blick zuwirft. Sag es ihr!
»Für ein Octagon-Profil brauchen wir einen Check«, weiche ich aus. »Und selbst dann wird es nicht leicht sein, untreue Inhalte zu verbreiten. Jede Wette, dass dieses neue Netzwerk bestens überwacht wird.«
Yana tritt mir unter dem Tisch gegen das Schienbein. Feigling!
Skye streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du hast recht, Hunter. Wir müssen uns so schnell wie möglich darum kümmern, an einen Check zu kommen, obwohl mir die Idee, einen in der Nähe zu haben, nicht gerade gefällt.«
Ich betrachte ihr Gesicht. Die dunklen, starken Augenbrauen, die sich konzentriert zusammenziehen. Die zarte Linie ihres Kiefers, die in leicht erhöhten Wangenknochen endet. »Wir werden eine Lösung finden. Für alles.« Ich nehme ihre Hand und schwöre mir, ihr die Wahrheit zu sagen, sobald wir allein sind. Yana hat recht. Sie verdient es – und ich brauche sie an meiner Seite.
Als von den Pizzen nur noch Krümel übrig sind und Yana nach jedem Satz gähnt, stelle ich unsere Teller zusammen. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin todmüde.«
Wir stehen auf und räumen das Geschirr in die Spülmaschine. Yana sagt nichts, als ich Skye in ihr Zimmer folge.
Fahles Mondlicht fällt durchs Fenster.
»Willst du, dass ich gehe?«, frage ich leise in die Stille hinein.
Skye schüttelt den Kopf. »Ich wäre heute Nacht nicht gern allein.«
Ich nicke. »Willst du reden?«
Skye lässt sich auf Yanas schmales Bett fallen. »Ich will nur noch schlafen, um ehrlich zu sein.« Sie schlägt die Decke zurück und ein alberner Teil von mir wird auf einmal nervös. »Es ist vielleicht ein bisschen eng«, sagt sie. »Aber bestimmt bequemer als Manuels Sofa.«
»Darauf würde ich wetten.«
Ich erwische mich dabei, wie ich mir verlegen den Nacken kratze. Wie alt bist du, vierzehn? In Jeans und T-Shirt lege ich mich neben sie. Heute Nacht werde ich kein Auge zubekommen …
Skye breitet die dünne Decke über uns. »Alles in Ordnung?«, fragt sie grinsend.
Ich stütze mich auf meinen Ellenbogen. »Ich fürchte, es gibt etwas, das du über mich wissen solltest.«
»Du schnarchst!«
»Ich rede im Schlaf«, sage ich gleichzeitig.
Ein Klopfen unterbricht unseren Lachanfall. »Was auch immer ihr da drinnen macht, macht es leiser«, klingt Yanas Stimme gedämpft durch die Tür. »Ich brauche meinen Schlaf, wenn ich euch dabei helfen soll, diese verdammten Fanatiker aus dem Weißen Haus zu kicken.« Ihre Schritte entfernen sich.
»Sie hat recht«, seufzt Skye.
Ich will gerade die Nachttischlampe ausknipsen, als mein Blick auf den schwarzen MP3-Player daneben fällt.
»Der gehört Ocean.« Skye schlägt sich gegen die Stirn. »Mist, ich habe ganz vergessen, ihm zu sagen, dass er ihn hier liegen gelassen hat! Er hängt total daran.« Der Anblick des kleinen Kastens schnürt mir die Luft ab. »Du solltest die Musik mal hören. So schön ruhig. Perfekt zum Einschlafen.«
Ich nicke, mein Blick noch immer auf den MP3-Player fixiert. Dad hatte genau so einen. Er trug ihn überall mit sich herum, nicht nur um Musik zu hören, sondern auch, um Ideen für Artikel jederzeit aufsprechen zu können. Notizbücher hat er gehasst. Die Erinnerungen überfallen mich wie aus dem Nichts. Dad, wie er mit mir Eis essen geht. Dad, wie er meiner Mutter Blumen mitbringt. Dad, wie er alte Jazz-Platten auflegt und durch das Haus tanzt.
Ich räuspere mich. »Welchen Song soll ich anmachen?«
Skye nimmt mir den Player aus der Hand und legt ihn zurück auf den Nachttisch. »Ich glaube, heute Nacht brauche ich keine Musik, um einzuschlafen.« Sie lehnt sich zu mir, doch dann hält sie inne. »Kann es sein, dass du reden willst?«
»Es ist nichts.« Ich schüttle den Kopf.
Skye sieht mich an, dann wickelt sie sich aus der Decke und steht auf. »Ich bin in fünf Minuten wieder da. Wenn du dich entschieden hast, schlafen zu gehen, ist das in Ordnung. Wenn nicht …« Sie lächelt. »Wenn nicht, bin ich hier, um dir zuzuhören.«
Ich starre aus dem Fenster in die Dunkelheit und versuche, über Octagon nachzudenken. Über den Check, den wir beschaffen müssen, wenn wir Zugang zu Chloes neuster Gleichschaltungstechnik haben wollen. Über den fehlenden Beweis. Über das Misstrauen in Rekas Stimme. Über alles – außer meinen Vater.
Als Skye mit zwei dampfenden Tassen in den Händen zurück ins Zimmer kommt, brummt mein Kopf. »Du schläfst nicht«, stellt sie fest und reicht mir einen der Becher. »Kakao. Das Geheimnis sind echte Schokoladenstücke.«
Sie klettert zurück ins Bett und pustet in ihre Tasse.
»Er hat damals beschlossen, uns zu verlassen«, sage ich nach einer Weile. »Ich würde gern beschließen können, ihn zu vergessen.«
»Deinen Dad?«, fragt Skye.
Ich nicke.
»Das ist hart.« Sie beißt sich auf die Lippe. Ich weiß, dass sie an Beth denkt – dass sie traurig und wütend ist auf ihre Mutter, die sie verlassen hat, genau wie mein Vater mich. »Wann ist er gegangen?«, fragt Skye vorsichtig.
»Vor fünf Jahren. Ironischerweise ausgerechnet am 14. Juni – wir hatten quasi unseren ganz privaten großen Skandal. Ich habe nach ihm gesucht, weißt du.« Nach Jahren des Schweigens stürzen die Worte plötzlich nur so aus mir heraus. »Aber er war nirgends zu finden. Und Mum … Mum wollte nicht über ihn sprechen.« Ich erinnere mich an den verschlossenen Gesichtsausdruck meiner Mutter, wenn ich Dad erwähnte. »Irgendwann hörte ich auf, Fragen zu stellen. Aber ich kann einfach nicht verstehen, wie Dad alles wegwerfen konnte. Ein ganzes Leben, von heute auf morgen zerstört!«
Skye stellt ihre Tasse auf den Nachttisch und legt den Arm um mich. Ein paar Minuten lang sitzen wir so da und starren aus dem Fenster in die Nacht.
»Jetzt weiß ich, warum ich mich dir von Anfang an so nah gefühlt habe«, sagt sie schließlich. »Das gleiche familiäre Trauma durchlebt zu haben, muss ja verbinden.«
»Vielleicht solltest du Psychologin werden, wenn das hier vorbei ist.«
»Und mir den ganzen Tag die Probleme anderer Leute anhören?« Sie lacht. »Davon habe ich selbst genug.«
»Aber du bist gut darin, Menschen zu lesen«, entgegne ich.
»Wirklich?« Skyes Stimme klingt auf einmal rau wie Schmirgelpapier. »Zumindest bei zweien habe ich mich doch wohl gründlich verschätzt.«
»Wie wäre es«, murmele ich in ihr Haar, »wenn wir unsere Eltern und den ganzen Rest vergessen. Nur für heute Nacht.« Skye wirft mir einen Blick zu. »Zum Schlafen!«, füge ich hinzu und spüre, wie mir die Röte prickelnd in die Wangen schießt.
Sie grinst. »Du kannst jetzt aufhören, nervös zu sein.« Ihr Kuss schmeckt nach Kakao. »Danke, dass du mir von deinem Dad erzählt hast«, flüstert sie. »Keine Geheimnisse mehr?«
»Keine Geheimnisse mehr.«
Ich streiche über ihr Haar, während ich beobachte, wie ihre Atemzüge langsam tiefer werden. Keine Geheimnisse mehr. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich muss Skye die Wahrheit über das Diktiergerät sagen, hier und jetzt. Aber dann rutscht mein Blick zu der zarten Haut über ihren Schlüsselbeinen. Die feuerroten Striemen ziehen sich wie Lavaströme durch frisch gefallenen Schnee. Ich denke an die Panik, die ich verspürt habe, als ich Skye in Angelas brennender Wohnung liegen sah, an meine rasende Hilflosigkeit, während sie bewusstlos war. Ich kann Skye nicht beichten, was geschehen ist. Ich darf ihr Leben nicht durch eine kopflose Beweisjagd in Gefahr bringen, nur weil ich sie brauche!
Andererseits ist sie hier im Reservat auch nicht sicher. Was immer ich tue, ich kann dich nicht schützen …
Doch dann wird mir klar, dass das nicht wahr ist. »Ist Hunter noch bei dir?« Rekas Stimme klingt in meinen Ohren. Ich bin es, dem sie nicht traut. Weil sie mehr über meine Mutter weiß, als sie zugibt, und weil sie glaubt, dass ich wie Mum bin. Ich schließe die Augen. Wenn ich fort gehe, dann ist Skye hier in Sicherheit. Reka wird alles tun, um sie zu schützen, das hat Yana selbst gesagt.
Langsam löse ich mich aus Skyes Umarmung. Wirfst du jetzt nicht auch alles weg? Ich schlucke. Nein. Ich bin nicht wie mein Vater, ich verlasse Skye nicht. Aber ich werde auch nicht noch einmal riskieren, sie zu verlieren.

Ich weiß, dass ich verschlafen habe, als Sonnenstrahlen mein Gesicht kitzeln. Ich strecke mich und drehe mich langsam zur Seite.
»Guten Morgen«, sage ich lächelnd.
So gut wie in dieser Nacht habe ich seit Wochen nicht mehr geschlafen. Ich öffne die Augen. Die Matratze neben mir ist leer. Hunter wollte mich wohl schlafen lassen. Ich sehe die beiden Kakaotassen auf dem Nachttisch stehen, deren Inhalt mittlerweile kalt geworden ist, und spüre Hunters Lippen wieder auf meinen. Rasch öffne ich meine Haare, kämme sie und flechte sie in einen Zopf, damit ich nicht länger aussehe wie die Hexe von Eastwick. Dann gehe ich in die Küche.
»Erhalten Sie Ihren kostenlosen Check und tragen Sie dazu bei, die Gläsernen Nationen wieder zu einem sicheren Land zu machen!«, schallt mir eine Stimme entgegen. »Sammelstellen für angreifbare Technologie finden Sie auch in Ihrer Nähe.«
Yana klickt auf Pause, bis ich mich mit einem Bagel in der Hand neben sie gesetzt habe und mit ihr zusammen auf den Laptop schaue. Die CCN-Nachrichten zeigen Schlangen vor zahlreichen Gebäuden. Schnitt. Lächelnde Menschen winken mit ihren neuen Armbändern in die Kamera.
»Das ist wahre Demokratie«, sagt ein Mann, dem der CCN-Reporter sein Mikrofon entgegenhält. »Die Checks erlauben jedem Bürger Zugang zu Nachrichten und den Vorgängen im Weißen Haus. Und das unabhängig davon, ob man sich das Gerät leisten kann!«
Der Journalist wendet sich zur Kamera. »Es sieht so aus, als wäre Chloe Cremonte die erste Politikerin, die ihre Wahlversprechen hält. Zugang zu Informationen, Bildung und Gesundheitsvorsorge darf nicht länger vom sozioökonomischen Status bestimmt werden. Die kostenlosen Checks sind ein großer Schritt in die richtige Richtung.«
Yana klickt den Bericht weg. »Sie stellen es klug an«, sagt sie. »Solange die Leute glauben, sie hätten diese Neuerungen selbst gefordert, stehen die Kristallisierer nicht als diktatorische Partei, sondern als großzügige Retter der Nationen da.«
»Aber wir sind klüger«, sage ich bestimmt. »Dass bald jeder nur noch über Octagon erreichbar ist, kommt uns doch eigentlich gerade recht. Statt ReNatura in allen möglichen Netzwerken zu leaken, wird ein einziger Klick reichen, um die gesamten Gläsernen Nationen die Wahrheit sehen zu lassen. Alles, was wir brauchen, ist ein Check.«
»Hoffen wir, dass es so einfach wird«, erwidert Yana ohne die geringste Spur ihrer sonstigen Überheblichkeit.
Überrascht sehe ich sie an. Zum ersten Mal klingt es, als wolle Yana tatsächlich mit mir zusammenarbeiten. Ich verdränge den Gedanken an ihr Gespräch mit dem seltsamen Typen in der Querstraße. Sie hat geschworen, mich nicht an meine Mutter zu verraten. Wenn wir ein Team sein wollen, muss ich ihr vertrauen.
Yana klickt auf den neu eingerichteten »Check-Finder«. Als sie Las Almas in die Ortszeile tippt, wird uns das Rathaus von Greenhill als nächste öffentliche Sammelstelle angezeigt, bei der man sein Handy gegen einen Check eintauschen kann.
»Wir sollten mit Hunter sprechen, bevor wir weitere Pläne schmieden.« Ich esse meinen Bagel auf. »Wo ist er? In der Garage?«
Yana sieht mich erstaunt an. »Ich dachte, er ist bei dir?«
Auf einen Schlag bin ich hellwach. Nein. Oh bitte, bitte nicht. Ich starre auf die Adresse in Greenhill. Denke an die beschützende Art, mit der Hunter mich seit dem Feuer in Angelas Wohnung behandelt. Bitte spiel nicht den Helden!
Der Bagel in meinem Magen verwandelt sich in einen Stein, während ich den Bungalow absuche. In Yanas Zimmer schiebe ich unsere Kakaotassen zur Seite. Vielleicht hat Hunter mir ja eine Nachricht hinterlassen? Fehlanzeige. Da liegt nur Oceans MP3-Player, den ich ihm noch zurückgeben muss. Ich wechsele einen Blick mit Yana, die mir von der Tür aus zusieht, und schlucke, als ich meine Sorge in ihren Augen erkenne. Was, wenn er sich allein auf den Weg zum Rathaus gemacht hat? Dort wird es mittlerweile von Checks nur so wimmeln – und damit auch von Kameras. Wir wollten in Ruhe einen Plan machen. Verdammt, Hunter!
»Ich gehe ihn suchen«, beschließe ich, stecke den Player in meine Tasche und stürme in den Flur. Warum bin ich nicht aufgewacht, als Hunter gegangen ist?
Ich schlüpfe in Yanas Ledersandalen und öffne die Haustür. Gestern Nacht habe ich zum ersten Mal seit Langem wieder tief geschlafen, eingelullt von Hunters Wärme und der Sicherheit, in der er mich wiegt. Ich hätte aufwachen müssen. Dann wäre er jetzt noch hier.
»Willst du zu Fuß nach Greenhill, oder was?«, keucht Yana hinter mir.
Ich verlangsame meine Schritte nicht. »Wenn mir nichts anderes übrigbleibt, ja.«
Yana schließt zu mir auf. »Links«, sagt sie knapp und deutet auf die Abzweigung der Main Road, die zu Manuels Cottage führt. »Wir nehmen Grandpas Wagen«, erklärt sie. »Du kannst im Auto bleiben, während ich Hunter im Rathaus suche.« Ich setze zu einem Protest an, doch Yana schneidet mir das Wort ab. »Ich habe keine Lust, ReNatura allein am Hals zu haben, wenn die Ordnungswahrer dich auch noch fassen. Verstanden?«
Ich schlucke.
»Was macht Mas Auto hier?« Vor mir bleibt Yana abrupt stehen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaut sie auf Rekas blauen Ford Fiesta, der in der Auffahrt des Cottages parkt. »Ma müsste doch eigentlich noch bei der Arbeit sein«, murmelt sie. »Sie kommt normalerweise nie vor neun von der Nachtschicht zurück, weil sie die Übergabe leitet.«
Yana tritt auf die Veranda und hebt die Hand, um an die Haustür zu klopfen. Geistesgegenwärtig halte ich ihren Arm fest. »Warte.«
Ich spüre wieder, wie sich Hunters Hände verkrampfen, nachdem Reka uns von dem Giftbefund in meinem Blut erzählt hat. Sehe vor mir, wie er sie anstarrt, als sei ihm auf einmal etwas klar geworden. Und wieder höre ich Hunters Stimme flüstern: Nicht hier. Aus irgendeinem Grund hat er in dieser Nacht angefangen, Reka zu misstrauen …