Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen

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Tab. 5: Dissoziative Störungen im ICD-11 (Priebe, Stiglmayr u. Schmahl 2018, S. 488)
2.4.3Diagnosekonzeption nach Dell (2001)
Dell schlug bereits 2001 eine benutzerfreundliche Diagnosestellung vor, in der sich das gesamte Spektrum dissoziativer Störungen aus ICD-10 und DSM-IV widerspiegelt (Gast 2004, S. 34 ff.). Er unterscheidet zwischen einfachen und komplexen dissoziativen Störungen. Einfache dissoziative Störungen zeigen Symptome von Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, Fugue, Trancezuständen, Flashback-Erleben sowie pseudoneurologische und somatoforme Symptome, häufig auch in kombinierter Form (Kriterium A). Komplexe dissoziative Störungen weisen zusätzlich eine Mitbeteiligung des Identitäts- und Selbstempfindens auf. Dabei liegen zwei oder mehr unterschiedliche Identitäten bzw. Persönlichkeits- oder Selbstzustände vor, die wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen und entweder teilabgespalten (Kriterium B) oder vollabgespalten (Kriterium C) erlebt werden. Die Übersicht in Tab. 6 zeigt den Kriterienkatalog für dissoziative Störungen nach Dell.
Kriterienkatalog für komplexe dissoziative Störungen nach Dell A.Kriterien für ein durchgehendes Muster dissoziativen Funktionierens •Gedächtnisprobleme, teilweise schwere Amnesien für autobiografisches Material •Depersonalisation •Derealisation •Flashback-Erleben, Alters-Regression •somatoforme Dissoziation (somatoforme/pseudoneurologische Symptome) •Trancezustände B.Kriterien für subjektiv erlebte Manifestation z. T. abgespaltener Selbstzustände •Hören von Kinderstimmen im Kopf •interne Dialoge oder Streitereien •die Person quälende innere Stimmen •teilweise dissoziierte (zeitweise als nicht zu sich gehörig erlebte) Sprache •teildissoziierte Gedanken •teildissoziierte Gefühle •teilweise dissoziiertes Verhalten •zeitweise nicht zu sich gehörig erlebte Fertigkeiten oder Fähigkeiten •irritierende Erfahrungen von verändertem Ich-Erleben •Verunsicherung über das eigene Ich •nicht zu sich gehörig erlebte, aber erinnerbare teilabgespaltene Selbstzustände, mit denen der Therapeut in Kontakt tritt C.Kriterien für objektive und subjektive Manifestationen vollständig abgespaltener Selbstzustände •krasse Diskontinuität im Zeiterleben (Zeit verlieren, »Herauskommen«, Fugue-Episoden) •von anderen Menschen beobachtetes Verhalten, an das man sich nicht erinnern kann •Finden von Sachen in seinem Besitz, an deren Erwerb man sich nicht erinnern kann •evidente Anzeichen für kürzlich erfolgtes Verhalten, an das man sich nicht erinnern kann •Entdecken von Selbstverletzungen oder Suizidversuchen, an die man sich nicht erinnern kannTab. 6: Kriterienkatalog für komplexe dissoziative Störungen nach Dell (Gast 2004, S. 34)
Dell (2001) gibt folgende Entscheidungsempfehlungen für die Klassifizierung:
1)»Einfache dissoziative Störung« – mindestens vier Symptome der A-Kriterien, keine Symptome der B- und C-Kriterien sind erfüllt.
2)»Vollbild einer komplexen dissoziativen Störung im Sinne einer dissoziativen Identitätsstörung« – mindestens vier Symptome der A-Kriterien, sechs der B-Kriterien und zwei der C-Kriterien sind erfüllt.
3)»Teilbild der komplexen dissoziativen Störung« (nicht näher bezeichnete dissoziative Störung) – mindestens vier Symptome der A-Kriterien, sechs der B-Kriterien und keine der C-Kriterien sind erfüllt.
2.5Orientierung mittels traumatherapeutischer Verfahren – eine Standortbestimmung
2.5.1Der Werkzeugkasten ist geöffnet!
Fallbeispiel 6
Ich erinnere mich an eine Patientin, deren Therapieverlauf besonders durch zusätzliche alternative Behandlungen geprägt war, sodass es mir schwerfiel, noch die Orientierung zu behalten. An vielen Wochenenden besuchte sie parallel zu unserer Therapie die verschiedensten Angebote, die dem physiotherapeutischen, alternativmedizinischen, heilpraktischen, esoterischen, philosophischen, religiösen oder spirituellen Bereich zuzuordnen waren. Sie schien nichts auszulassen. Während ich mich bemühte, eine – wie ich dachte – auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauende traumatherapeutische Behandlung zu realisieren, brachte sie die Erfahrungen aus davon weit entfernten Methoden und Vorgehensweisen ein. Ich lernte viel in dieser Therapie, ich lernte über Schwitzhütten, Erdverbundenheit, Energieströme, Steine, Astrologie, Urkräfte, Ahnen, Karma, Losgelöstsein, allumfassende Verbundenheit und vieles mehr. Zum Teil konnten wir die Erfahrungen der Patientin direkt als Ressourcen in die Behandlung einbinden. Zum Teil musste ich sie wieder stabilisieren, da sie durch eines der Wochenenden stark irritiert war und mit einem deutlichen Symptomanstieg reagiert hatte. Ich wollte die Erfahrungen der Patientin aus diesen vielen Methoden in unsere Behandlung einbinden, anstatt sie auszuschließen. Es war sehr interessant, verschiedene Aspekte dieser alternativen Methoden direkt für unseren Behandlungsplan zu nutzen. Was genau zu dem positiven Therapieverlauf und am Ende der Therapie zu einer Heilung ihrer Traumafolgestörung geführt hatte, war mir jedoch völlig unklar.
Ich begegnete über meine Berufsjahre hinweg noch weiteren alternativen Heilmethoden, die von Patienten zur Behandlung von Traumafolgestörungen herangezogen werden. Homöopathische Behandlungen kamen ebenso dazu wie die zusätzliche Verwendung psychoaktiver Substanzen. Manchmal fragte ich mich, ob Psychotherapie überhaupt die Methode der Wahl ist. Bessel van der Kolk berichtet aus der Zeit nach den Angriffen auf das World Trade Center ein interessantes Phänomen (van der Kolk 2017, S. 275). Ein Expertenforum, bestehend aus Vertretern verschiedener wissenschaftlich angesehener Institutionen, sollte Empfehlungen für eine bestmögliche Behandlung der beim Angriff traumatisierten Überlebenden aussprechen. Die Entscheidung fiel eher berufspolitisch aus und nannte ausschließlich zwei Verfahren: eine psychoanalytisch orientierte und eine kognitiv-behaviorale Behandlung. Erstere, da New York die psychoanalytische Hochburg in den USA ist, und letztere, da die kognitive Verhaltenstherapie wissenschaftlich fundiert ist. Überraschend war jedoch, an wen sich letztlich die Überlebenden gewendet haben, um ihre Traumafolgestörungen zu überwinden. Dazu wurde ein Jahr später eine Befragung durchgeführt. Die 225 befragten Personen antworteten auf die Frage, was ihnen am meisten geholfen habe, (in der Reihenfolge der Häufigkeit) Akupunktur, Massage, Yoga und EMDR.
Eine Orientierung in der unüberschaubaren Landschaft der Behandlungsmethoden von Traumafolgestörungen ist ein sehr ambitioniertes Unterfangen. Die gute Nachricht besteht darin, dass es in den letzten Jahrzehnten zu einem enormen Wissenszuwachs gekommen ist und dass Methoden zur Behandlung dieser Störung als sehr gut untersucht angesehen werden können. Als ebenfalls sehr erfreulich einzuschätzen ist die zunehmende Einbeziehung alternativer und bisher wenig beforschter Methoden. Diese wichtigen Erkenntnisse können wir in der praktischen Tätigkeit nutzen und sie unseren Patientinnen zugutekommen lassen. Doch hier beginnen auch schon die Schwierigkeiten. Welche Methoden werden von wem mit welchen Patienten unter welchen Umständen und in welchem Kontext untersucht? Wer ist in der Lage, derartige Untersuchungen zu veranlassen, zu finanzieren und durchzuführen? Welche Impulse werden von wem aufgegriffen und finden in welcher Form Eingang in die »Forschungswelt«?
Die schlechte Nachricht ist, dass wir immer noch keine gemeinsame Sprache gefunden haben in unseren Bemühungen um eine wirksame, schonende und nachhaltige Behandlung von Traumafolgestörungen. Allein Abschnitt 2.5 wird viele Reaktionen auslösen. Die Vertreterinnen der einen Perspektive werden sich bestätigt fühlen und zustimmen, während Vertreter einer anderen Methode möglicherweise verärgert sind oder sich abwenden. Erwähne ich das eine Konzept, fragen Sie sich eventuell, warum ich das andere nicht nenne. Beziehe ich mich auf ein weiteres, fragen Sie sich, ob ich vielleicht das nächste nicht verstanden habe oder gar nicht kenne. Neben den Bemühungen um unsere Patientinnen existiert auch ein Bedürfnis, recht zu haben, es richtig verstanden zu haben. Der Diskurs ist der Motor für die Entwicklung, aber er hat Nebenwirkungen, die uns das Leben schwer machen. Letztlich gibt es auch ein Bedürfnis nach Anerkennung, sowohl der persönlich entwickelten Methode als auch der eigenen Person. Klaus Grawe würde dies dem psychischen Grundbedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz zuordnen (Grawe 2004, S. 186).
Eine weitere schlechte Nachricht ist der Stress, den viele Therapeutinnen und Therapeuten in ihrer praktischen Arbeit bezüglich der Auswahl der Indikationen und der Entwicklung eines Behandlungsplanes erleben. Der Indikationsstress nimmt einen großen Raum in den Supervisionen ein, die ich seit vielen Jahren durchführe. Einerseits haben wir die komfortable Situation, über viele wirksame Methoden in der Behandlung von Traumafolgestörungen zu verfügen. Andererseits finden wir konkurrierende Ansätze und Vorgehensweisen, die die Arbeit erschweren können. Möglicherweise fällt es nicht leicht, sich auf ein Vorgehen einzulassen bzw. Kombinationen zu entwickeln oder Interventionen zu integrieren. Das Angebot scheint groß und kaum überschaubar. Der Begriff Parallelwelten ist hier nicht übertrieben.
2.5.2Die wissenschaftliche Perspektive
Die wissenschaftliche, akademische (universitäre) Welt ist federführend in der Entwicklung effektiver Interventionen und Behandlungskonzepte. Die wissenschaftlichen Untersuchungen und die daraus abgeleiteten Behandlungsempfehlungen bezogen sich bisher meist auf die PTBS Typ I. Erst in einem zweiten Schritt wurde die Betrachtung auf komplexe posttraumatische Belastungsstörungen ausgeweitet.
Hecker und Maercker (2015, S. 557) nennen in einem Übersichtsartikel für die Behandlung der PTBS drei Interventionen:
a)Prolongierte Exposition als eine Exposition in sensu, bei der das Trauma mittels der eigenen Gefühle nacherlebt und nacherzählt wird
b)kognitive Therapie, bei der der Fokus auf der Bearbeitung von Bewertungsund Wahrnehmungsprozessen (kognitive Umstrukturierung) und damit einhergehenden körperlichen Reaktionen liegt, und
c)EMDR, ebenfalls eine Methode der Exposition.
Hinsichtlich der Verhaltenstherapie werden zwei weitere gut untersuchte Interventionen hervorgehoben (Michael, Sopp u. Schäfer 2019, S. 16 f.):
a)In-vivo-Konfrontationen, die besonders auf das Vermeidungsverhalten als Symptom der Traumafolgestörung fokussieren
b)kognitive Therapie nach Ehlers und Clark, der ein kognitives Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung der chronischen PTBS zugrunde liegt, sowie weitere Verfahren, die zum Einsatz von spezifischen Patientenpopulationen entwickelt wurden:
a.Narrative Expositionstherapie (NET) nach Schauer, Neuner und Elbert, die als Kurzzeitintervention in der Behandlung von Überlebenden interpersoneller Gewalt sowie von Kriegen und Naturkatastrophen zum Einsatz kommt
b.Cognitive Restructing and Imagery Modification (CRIM), die sich auf die Behandlung des Beschmutztseins bei Opfern sexueller Gewalt konzentriert, und
c.Cognitive Processing Therapy (CPT), die sich vor allem um die Integration des traumatischen Ereignisses in bestehende kognitive Schemata bemüht.
Wo bleiben die anderen Behandlungsverfahren? Wo bleiben psychodynamische, systemische, humanistische/gesprächspsychotherapeutische, hypnotherapeutische, logotherapeutische, psychodramatische und vor allem körpertherapeutische Ansätze? Allein die Reihenfolge bereitet mir Bauchschmerzen und noch mehr die Vorstellung, wen ich alles unterschlagen habe.
Psychodynamische Ansätze zur Behandlung von Traumafolgestörungen haben eine lange wissenschaftliche Tradition und stellen spezifische Methoden zur Verfügung, deren Wirksamkeit in kontrollierten Studien gezeigt werden konnte (Reddemann u. Wöller 2011, S. 580 ff.). Im Handbuch der Psychotraumatologie (Seidler, Freyberger u. Maercker 2011) werden drei dieser Konzepte erläutert:
a)die psychodynamisch imaginative Traumatherapie (PITT) nach Reddemann, die aufbauend auf einer resilienz- und progressionsorientierten Grundhaltung die psychodynamische Beziehungsorientierung mit imaginativen Verfahren verbindet und ein Konzept der Selbstbegegnung verfolgt
b)die mehrdimensionale psychodynamische Traumatherapie (MPTT), der ein psychodynamisch-dialektisches Veränderungskonzept zugrunde liegt, und
c)das integrative Konzept zur Behandlung traumaassoziierter Persönlichkeitsstörungen auf psychodynamischer Grundlage nach Wöller.
In der personzentrierten Psychotherapie/Gesprächspsychotherapie (Biermann-Ratjen u. Eckert 2011, S. 590) sowie der Systemischen Therapie (Hanswille 2019, S. 20) sind konkrete Ansätze zur Behandlung von (komplexen) Traumafolgestörungen entwickelt worden, ebenso im Psychodrama (Krüger 2015, S. 168).
Hinsichtlich des Vorgehens in der Behandlung der komplexen Traumafolgestörungen existieren viele offene Fragen. Sie stellt die Psychotherapeutinnen vor besondere Herausforderungen. Innerhalb der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie besteht zumindest darüber Einigkeit, dass in der Behandlung eine Exposition in sensu enthalten sein soll (Hecker u. Maercker 2015, S. 557). Sack und Sachsse (2013, S. 251 ff.) geben eine gute Übersicht über verfügbare Therapiemethoden zur Behandlung komplexer Traumafolgestörungen und betonen, dass ihre Zusammenstellungen keinen Leitliniencharakter haben:
(A)Vorrangig konfrontative Methoden zur Behandlung von Traumafolgesymptomen:
•Prolongierte Exposition
•Kognitiv-Behaviorale Traumatherapie
•Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
(B)Psychodynamische und imaginative Methoden:
•Psychodynamische Traumatherapie
•Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT)
•Katathym Imaginative Psychotraumatherapie (KIP-T)
•Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie (MPTT)
(C)Narrative Methoden
•Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT)
•Narrative Expositionstherapie (NET)
•Testimony Therapy (TT)
•Life Review Therapy (LRT)
•Imagery Rehearsal Therapy (IRT)
(D)Hypnotherapeutische Methoden:
•Hypnotherapeutische Techniken zur Konfrontation in sensu
•Ego-State-Therapie (EST)
•Behandlung nach dem Modell der strukturellen Dissoziation
•Trauma Recapitulation with Imagination, Motion and Breath (TRIMB)
(E)Techniken zur Ressourcenaktivierung und Stabilisierung:
•Training von Fertigkeiten
•Imaginationsübungen
•Achtsamkeitsbasierte Stabilisierung
•Tiergestützte Stabilisierung
(F)Kombinationen verschiedener Verfahren:
•Brief Eclectic Psychotherapy (BEP)
•Integrative Gestalttherapie
•Emotionsfokussierte Therapie (EFT)
•Integrative Systemaufstellung (ISA)
•Techniken Ressourcenfokussierter und Symbolischer Traumabearbeitung (TRUST)
(G)Traumaspezifisch adaptierte körperpsychotherapeutische Methoden:
•Traumaadaptiertes Yoga
•Konzentrative Bewegungstherapie (KBT)
•Pesso-Therapie
•Somatic Experiencing
•Hakomi
(H)Weitere körperpsychotherapeutische Verfahren:
•Qigong
•Tai-Chi
•Feldenkrais
•Energetische Psychologie
•Wen Do
(I)Entspannungsverfahren:
•Autogenes Training (AT)
•Progressive Muskelrelaxation (PMR)
•Atemtherapie
(J)Traumaadaptierte Behandlungskonzepte in:
•Kunsttherapie
•Tanztherapie
•Musiktherapie
2.5.3Die kreative Perspektive außerhalb der universitären Betrachtung
In der Übersicht über Behandlungsmethoden der komplexen Traumafolgestörungen von Sack und Sachsse in Abschnitt 2.5.2 finden wir viele Ansätze, die nicht im engeren universitären Fokus stehen. Sie sind diesem Bereich sozusagen »benachbart« und stellen einen eigenen Bereich oder ein eigenes Feld dar, aus dem sehr wichtige und kreative Impulse und Innovationen stammen und immer wieder hervortreten. Die Ansätze aus diesem Bereich besitzen ein hohes Potenzial für die Behandlung von Traumafolgestörungen. Die Abgrenzung ist jedoch schwierig und fließend. Van der Kolk (2017, S. 11) plädiert für ein integratives Vorgehen bei der Behandlung von Traumafolgestörungen, das nicht nur auf einem einzigen Behandlungsansatz aufgebaut ist, sondern verschiedene Ansätze einbezieht, unter denen auch körperfokussierte Verfahren enthalten sein müssen.
Neben den in der Übersicht von Sack und Sachsse aufgeführten Methoden sind weiterhin traumafokussierte Ansätze aus der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) oder der Homöopathie (Pfanzelt 2015) zu nennen, nicht zu vergessen Impulse aus nicht therapeutischen Bereichen wie Sport, Tanz und Theater. Aus diesem zweiten großen Bereich werden von universitärer Seite Anregungen oder Ansätze aufgegriffen und sozusagen in die wissenschaftliche Betrachtung und Diskussion überführt.
2.5.4Die alternative und weiterführende Perspektive
Neben den in Abschnitt 2.5.2 und 2.5.3 genannten Ansätzen existiert ein großer und nur schwer überschaubarer Bereich von Methoden und Techniken, die keine Verbindungen mit der universitären Szene haben, die einen von dieser Szene unabhängigen Weg gehen, sich selbst organisieren und eigenständige Kriterien für die Bewertung von Effekten und Wirkung entwickelten. Daher lassen sich diese Ansätze nicht mit den gleichen Bewertungskriterien einschätzen, wie sie beispielsweise im wissenschaftlichen Rahmen Konsens sind. Aus wissenschaftlicher Sicht würden sie »durchfallen«, aus ihrer eigenen Sicht würden wohl im Gegenzug die wissenschaftlich fundierten Verfahren mit großen Vorbehalten betrachtet werden. Man kann sie als unwissenschaftlich und gefährlich ablehnen, man kann von den dort verwendeten Methoden begeistert sein und inspiriert werden. Es gibt jedoch kaum Austausch zwischen diesen Bereichen und keine gemeinsame Sprache. Mir persönlich fällt es schwer zu unterscheiden, welche dieser Methoden ich ernst nehmen möchte, um von ihnen zu lernen, und von welchen ich mich distanziere. Sack und Sachsse (2013, S. 289) schätzen Verfahren aus drei Kategorien als problematisch für die Behandlung von Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen ein:
a)energetisch mobilisierende Methoden wie beispielsweise aus der Bioenergetik oder der Primärtherapie
b)erlebnisaktivierende Methoden verbunden mit intensiver körperlicher Berührung und
c)in besonderem Maße regressionsfördernde Techniken.
Diese Hinweise auf die für die Behandlung von Traumafolgestörungen als problematisch betrachteten Methoden können uns dafür sensibilisieren, in der Auswahl von Techniken sorgsam zu sein und mögliche Risiken abzuschätzen.
2.5.5Die Perspektive aus der Praxis
Wie sieht es nun letztlich in der psychotherapeutischen Praxis aus? Was machen wir dort? Wie arbeiten wir? Worauf greifen wir zurück und worauf nicht? Welchen Konzepten folgen wir, welchen Erkenntnissen und welchen Expertenempfehlungen, abgesehen von den offiziellen Leitlinien? Und wie erfüllen wir diese? Wer kennt sie eigentlich? Ab und an kommt mir mitten in einer Sitzung der störende Gedanke, was ich denn machen würde, wenn meine Seminarteilnehmerinnen und Seminarteilnehmer nun genau diese Therapiestunde in meiner Praxis sehen könnten, in der wieder einmal alles völlig anders läuft, als ich es eben noch unterrichtet habe.
Therapeutinnen und Therapeuten entwickeln im Laufe ihrer Arbeit ihre eigene therapeutische Identität. Sie lernen in den meisten Fällen verschiedene Verfahren und Konzepte. Sie entwickeln sich weiter, sie experimentieren und sie fühlen sich manchen Methoden näher als anderen. Sie arbeiten integrativ. Ihre Arbeit basiert auf dem Hintergrund einer spezifischen psychotherapeutischen Sozialisation. Leider wird diese immer noch durch einen Schulenstreit behindert, der offensichtlich nur schwer zu überwinden ist. Ich plädiere für eine Prozessorientierung, mit deren Hilfe integrativ gearbeitet wird. Viele der im Abschnitt 2.5 erwähnten Ansätze verfolgen bereits eine solche integrierende Vorgehensweise.
2.6Orientierung mittels Prozessen und Wirkfaktoren
2.6.1Behandlungsphasen
Die Orientierung mittels Behandlungsphasen sowie deren Nutzung für den Behandlungsplan haben eine lange Tradition. Van der Hart, Nijenhuis u. Steele (2008, S. 258) erinnern diesbezüglich an die wegweisenden Arbeiten von Pierre Janet, der bereits vor mehr als einhundert Jahren eine dreiphasige Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen vorschlug. Janet unterschied drei spezifische Behandlungsphasen, die jeweils eigene Behandlungsziele beinhalten: