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So reicht das Interesse an seinen Texten bis in die heutige Zeit, schon weil er vielen „Wahrheiten“, von denen wir heute überzeugt sind, die Richtung gegeben hat. Platon zu verstehen, bedeutet nicht zuletzt einen wichtigen Teil der heutigen Welt überhaupt erst einordnen zu können, weil diese auf dem Fundus der tradierten Gedanken ruht. Maßgeblich gilt das dafür, wie sie ist, und weniger, wie wir diese gerne hätten.
Die folgenden Kapitel geben einen Einblick in Platons Philosophie und in die Grundlagen seines umfassenden Denkens. Sie argumentieren eng an den Texten, werden aber die eigene Lektüre der Schriften selbst nicht ersetzen können. Insofern verstehe ich sie als Hilfestellung und Hinführung zu Platons Denken. Mit Platon aber kann ich sagen: Nur was selbst eingesehen ist, wird von Wert sein, und einzig das, was von Wert ist, hilft uns für unser Leben.
Weiterführende Literatur
Tilman Borsche, „Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia“, in: Kobusch u. a. 1996, 96–114.
Dorothea Frede, „Platons Dialoge als Hypomnemata – Zur Methodik der Platonsdeutung“, in: Schiemannn u. a. 2006, 41–58.
Wolfgang Detel, „Eros und Wissen in Platons Symposion“, in: Schiemann u. a. 2006, 137–153.
Christoph Horn, „‚Niemand handelt freiwillig schlecht‘. Moralischer Intellektualismus in Platons Nomoi?“, in: van Ackeren 2004, 168–182.
Theo Kobusch, „Wie man leben soll: Gorgias“, in: Kobusch u. a. 1996, 47–63.
Ekkehard Martens, Platons Fußnoten zu Sokrates“, in: Schiemann u. a. 2006, 59–69.
Burkhard Mojsisch, „‚Dialektik‘ und ‚Dialog‘: Politeia, Theaitetos, Sophistes“, in: Kobusch u. a. 1996, 167–180.
Terry Penner, „Socrates and the early dialogues“, in: Kraut 1992, 121–179.
Rudolf Rehn, „Der entzauberte Eros: Symposion“, in: Kobusch u. a. 1996, 81–95.
Jan Szaif, „Die Alêtheia in Platons Tugendlehre“, in: van Ackeren 2004, 183–209.
Wolfgang Wieland, „Das sokratische Erbe: Laches“, in: Kobusch u. a. 1996, 5–24.
1Die Übersetzung der Texte Platons folgt durchgängig der Schleiermachers.
2Eine Skizzierung der Bedeutung von Sokrates für Platon bringt Kutschera 2002/1, 13–37.
3Eine einführend sehr gute Zusammenstellung der sokratischen Frage bringt Wieland 1996, 6–8; vgl. für das sokratische Nichtwissen auch ebd. 17–19. Über die Anregungen, die Platon von Sokrates erfahren, und die Art, wie die Sorge um die beste Lebensführung in seinen Schriften Eingang gefunden hat, vgl. Martens 2006.
4Der logos umschreibt im Griechischen all unsere intellektuellen Fähigkeiten (Verstand, Vernunft, Bildung von Sinneinheiten) und ist somit auch die Voraussetzung für die Sprache.
5Der Protagoras scheint in der Rahmenhandlung sogar die Hauptaussage Platons in diesem Dialog zu verbergen (vgl. Fröhlich 2004).
6Zur Konstruktion der Rahmenhandlungen bei Platon vgl. auch Wieland 1996, 11.
7Rowe verwendet dafür das griffige Bild von einer Art asymptotischen Annäherung an die Wahrheit (vgl Rowe 1998, 176, 187, 197). Bei der genuin ethischen Ausrichtung des Philosophierens bei Platon greift die mathematische Metapher allerdings zu kurz: Der Mensch soll seine Entscheidungen rechtfertigen, d. h. die Wahrheit seiner Anschauungen hat sich in der Lebenswelt zu erfüllen, auch wenn wir gleichzeitig immer überzeugt sein sollten, dass diese revidiert werden können. In diesem Sinne sehr viel adäquater erscheint mir die Konzeption von Detel 2006, 149. Vgl. zum Begriff der Wahrheit bei Platon Szaif 1996.
8Vgl. hierzu auch Kobusch 1996, 59, 62; sowie Borsche 1996, 96.
9Vgl. für eine Diskussion dieser These in den Nomoi vor allem Horn 2004.
10Zur Ambivalenz sokratischer Definitionen vgl. Wieland 1996, 12 f.; vgl. auch Bordt 2004, 55–73.
11Manchmal wird angenommen, der literarische Sokrates entferne sich inhaltlich immer mehr von der historischen Figur, je später die Dialoge Platons zu datieren sind (vgl. z. B. Penner 1992). Wenn der Schwerpunkt aber nicht auf Lehrmeinungen – die wir bei Platon ohnehin nur schwer identifizieren können – oder auf der Differenziertheit der Argumente liegt, und es uns mehr um die Haltung zur Philosophie von Sokrates geht, wird der frühe und der späte Sokrates bei Platon eher große Ähnlichkeiten aufweisen.
12Sehr viel Erhellendes zum Begriff der Wahrheit (aletheia) bei Platon bringt Szaif (Szaif 2004); allerdings weist er nur unzureichend auf den für Platon zentralen Aspekt des Strebens nach der Wahrheit hin: Für Platon gibt es keinen „Zustand der vollen Einsicht“ (ebd., 195; vgl. auch ebd., 202).
13Die Bedeutung dieser Umbrüche für die ethischen Begriffe erläutert Stemmer 1992, 4–12.
2. Die Hebammenkunst des Sokrates
Das philosophische Wissen kreist um die wichtigen Fragen, wie wir unser Leben führen wollen. Es soll uns Orientierung geben. Doch sicheres Wissen für alle Wechselfälle des Lebens kann es natürlicherweise nicht geben. Philosophisches Wissen kann also kein positives Wissen sein, das auf eine Frage eine eindeutige Antwort gibt. Sokrates bestreitet für sich auch jedes positive Wissen. Er behauptet allerdings, ein philosophisches Unterscheidungswissen zu haben, das ihn erstens befähigt, bei von anderen geäußerten Meinungen gleich zu sehen, ob es sich dabei um etwas Sinnvolles handelt, und zweitens beherrscht er eine Methode, wie die Meinung überprüft und begründet werden kann. Dadurch verhilft er anderen zu einem Wissen, das er selbst nicht hat.
2.1 Hervorbringen von Wissen (Theaitetos 148e–151d)
Was ist Erkenntnis (vgl. Theaitetos 145e)? Sokrates konfrontiert im gleichnamigen Dialog Platons mit dieser Frage den jungen Mathematiker Theaitet. Theodoros, ein Freund des Sokrates, hatte seinen Schüler wegen seiner vielen Kenntnisse und seiner Geschicklichkeit im Antworten sehr gelobt. Theaitet solle gerade so antworten, wie er kurz zuvor über ein mathematisches Problem geurteilt hatte.
Gar oft habe er, Theaitet, über die Frage, was denn Erkenntnis sei, nachgedacht, doch sei er bis jetzt noch nicht zu einer schlüssigen Antwort durchgedrungen. Allerdings sei er an dieser Frage genauso interessiert wie an den anderen Fragen, von denen er gehört hatte, dass Sokrates mit ihnen ständig die Leute belästigt, so sehr, dass er selbst vom Nachsinnen darüber nicht ablassen kann.
Daraufhin sagt Sokrates etwas Sonderbares: „Du hast Geburtsschmerzen, weil du schwanger bist, Theaitet“. Dazu fällt dem Jüngeren nicht viel ein. Sokrates führt aus, dass er der Sohn einer berühmten Hebamme sei und dass er die Hebammentätigkeit auch selbst ausübe. Ob er davon nicht schon gehört habe? Theaitet antwortet, dass das erste ihm bekannt sei, dass aber Sokrates selbst eine Hebamme ist, sei ihm bis dahin noch nicht zu Ohren gekommen.
Gewiss, das ist auch keine stadtbekannte Sache, und Theaitet solle es auch bloß nicht überall herum erzählen. Die Leute denken ohnehin schon, dass Sokrates ein komischer Kauz sei, der den ganzen Tag nur herumgeht und die Menschen ins Zweifeln über ihre Ansichten und Meinungen stürzt.
Theaitet solle doch einmal überlegen, was eine Hebamme im Wesentlichen ausmacht. Diese, so Sokrates, könne erstens selbst nicht mehr gebären, anderen aber sei sie darin behilflich. Hebammen haben darüber hinaus aber auch eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten. Sie sehen sofort, wenn eine Frau schwanger ist. Des Weiteren wüssten sie Zaubermittel und Wundersprüche, mit denen sie die Wehen beschleunigen oder verlangsamen können. Ebenso führen sie Abtreibungen durch. Außerdem sind sie zuweilen als Ehestifterinnen tätig, wobei sie genau wüssten, wer mit wem zusammen passt, damit gesunde Kinder dabei entstehen. Doch üben sie diese Tätigkeit selten aus, da sie nicht in den Verdacht der Kuppelei kommen wollen. Daneben gibt es offenbar einige Hebammen, die den Kindern auch gleich ansehen, ob etwas Rechtes aus diesen werden kann oder nicht, ob es sich um ein richtiges Kind oder nur um etwas Kindähnliches (Schleiermacher übersetzt das mit „Mondkalb“) handelt.
Dies alles gilt nun auch für ihn selbst, behauptet Sokrates, nur mit den Unterschieden, dass er erstens Männern Hebammendienste leistet; zweitens für die Seelen und nicht für die Körper Sorge trägt; drittens entsprechend unterscheiden kann, ob etwas Rechtes aus der Seele kommt oder eben nur ein Trugbild; und dass er dagegen viertens selbst in diesem Sinn nicht mehr „gebären“ kann.
Das letztere interpretiert Sokrates so, dass er seine Mitmenschen immerzu fragt, selbst aber nichts weiß oder antwortet, das Wissen, nach dem er fragt, also nicht hat. Das hat man ihm nicht selten, und wie er meint, schon mit Recht vorgeworfen. Die Ursache aber liegt darin, dass er selbst kein Wissen erzeugen kann oder schon in sich hätte. Aber Geburtshilfe für Erkenntnis bei anderen, das kann er leisten. Er ist also gar nicht weise und aus seiner Seele geht nichts hervor.
Es geschieht aber mit denen, die häufig mit ihm zusammen sind, dass sie auf einmal Wissen aus sich heraus hervorbringen, obwohl das zunächst gar nicht so aussah. Von ihm können sie das nicht haben, denn er weiß ja nichts. Das kommt also schon alles aus ihnen selbst. Er aber und der Gott Apoll leisten eben die Geburtshilfe für die Erkenntnisse. Jene aber, die zu ihm kommen, haben oft schon Geburtsschmerzen, und er kann sie dann verstärken oder lindern, gerade wie er es für notwendig hält.
Manche, die mit ihm umgehen und sich von ihm nicht recht helfen lassen, verlassen ihn entweder vorzeitig oder sie verlieren durch Verwahrlosung, was eigentlich etwas Rechtes hätte werden können. Mit den Missgeburten gehen sie dann hausieren und merken nicht einmal, was sie da mit sich herumtragen. Manchmal lässt er sich überreden, die „Geburten“ wieder aufzupäppeln, manchmal dagegen verbietet es ihm der Gott. Aber auch zum „Kuppeln“ taugt die Kunst des Sokrates. Wenn er nämlich merkt, dass einer, der zu ihm gekommen ist, seine Hilfe gar nicht braucht, dann weiß er, zu wem er ihn schicken muss, damit ihm dort geholfen werden kann.
Auch Theaitet kommt offenbar zu Sokrates, weil ihm etwas in der Seele herumgeht, bei dem er sich selbst nicht helfen kann. Das war der Sinn der Aussage, als er gemeint hatte, dass Theaitet Geburtsschmerzen habe und schwanger sei. Er, Sokrates, versteht aber die Kunst, ihm zu helfen. Doch darf Theaitet nicht böse werden, wenn er im Laufe des Gesprächs irgendetwas Unrechtes oder ein Trugbild hervorbringt und Sokrates das dann ablöst und wegwirft. Er macht das nur aus Wohlwollen gegen ihn, wenn er erkennt, dass dieser Unsinn geredet hat, aus dem keine Erkenntnis kommt. Manche sind deswegen auf ihn schon sehr böse geworden, wenn er ihnen ihr Geschwätz erst abgenommen und dann weggeworfen hat, ähnlich wie die Frauen, die, wenn sie eine Missgeburt haben, nicht glauben können, dass nicht die Hebamme Schuld daran trägt. Er will niemandem Übles und steht ja auch mit dem Gott im Bunde, er darf deswegen aber auch nichts „Falsches gelten lassen und Wahres unterschlagen“ (Theaitetos 151d).
2.2 Das Wissen und seine Voraussetzungen
Platon liebt solche Geschichten, aber er würde sie nicht erzählen, wenn es damit nicht etwas Tieferes auf sich hätte. Was aber bedeutet die Geschichte und Sokrates Auslegung seiner Metapher, er übe die Hebammenkunst für geistige Produkte aus? Zunächst sind darin ein paar Anspielungen auf die Rolle des Sokrates in der Athener Gesellschaft enthalten: z. B. dass er die Leute ausfragt und über ihn gespottet wird. Das greift zuletzt auch auf sein Gerichtsurteil voraus. Sein berühmter Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ hat für ihn dagegen einen spezifischen Sinn; dass Sokrates wirklich gar nichts weiß, kann nur ironisch gemeint sein. Im Dialog Protagoras behauptet er auch einmal, ein schlechtes Gedächtnis zu haben, und Platon lässt ihm durch Alkibiades widersprechen: Wenn sich einer der Anwesenden alles haarklein gemerkt hat und wiedergeben kann, dann sei es Sokrates (Protagoras 336d). In den Dialogen lässt Platon Sokrates immer wieder die Dichter und Philosophen zitieren, die er gelesen hat. Er kennt auch die Verhältnisse in Athen sowie die Geschichte der Stadt und kann souverän darauf zurückgreifen.
Die Frage, die sich für ihn dabei stellt, ist, ob das etwas Rechtes ist, was er da weiß, ob das Kenntnisse sind, die für eine gerechte Lebensführung taugen, die ihm sagen, was richtig zu tun ist und was nicht. In diesem Sinne betont er, dass er im Unterschied zu den Politikern, Dichtern und Sophisten nichts weiß. Diese geben nur vor, etwas zu wissen. Die Sophisten meinen zudem, dass sie das, was sie nur vorgeben zu wissen, lehren könnten, vor allem die Tugend und die Gerechtigkeit. Sie glauben etwas zu wissen, können ihm aber, wenn er sie fragt, keine Auskunft geben.
Es geht also um ein spezielles Wissen. Für dieses beansprucht Sokrates, beurteilen zu können, ob es etwas Rechtes ist, was andere darüber sagen. Zumeist enden die Dialoge, vor allem die frühen, aporetisch, d. h. in der Ausweglosigkeit, in einer Situation also, in der sich die bisherige Art des Fragens als Sackgasse erweist. Ist die Rede vom Nicht-Wissen dann Koketterie? Es geht um ein bestimmtes Wissen, das Sokrates sucht und er scheint sagen zu wollen, dass die Suche wichtiger ist, als es die Antworten sind. Diese können immer nur vorläufig sein, sind revidierbar und immer wieder aufs Neue zu diskutieren. Es gibt im Leben und der Lebensführung nichts Endgültiges.
Der Adressat des sokratischen Fragens hat die Erkenntnis der Anlage nach schon in sich. Sie ist, eben wie ein zu gebärendes Kind, bereits vollständig in ihm angelegt. Beides aber muss weiter gepflegt werden, weil es sonst missrät. Was ist das aber für ein Wissen, das wir selbst hervorbringen müssen, das uns offenbar niemand beibringen kann?
Einmal ist es das Wissen darum, wie man gerecht lebt. Sokrates scheint behaupten zu wollen, dass wir im Grunde den Unterschied zwischen gerecht und ungerecht sehr gut kennen. Sind wir an einer Sache unbeteiligt, so wissen wir ganz genau zu beurteilen, wie entschieden werden soll, wenn wir die Sache selbst richtig erfassen. Auch bei anderen sind wir streng, für uns selbst machen wir dagegen gerne eine Ausnahme.
Unser Leben müssen wir alle führen, das kann uns auch keiner abnehmen. Dass wir dazu grundsätzlich nicht in der Lage sind, wird man nicht annehmen wollen. Hierzu gehört ein Wissen, das uns niemand vermitteln kann. Sind dafür Erfahrungen unnötig? Nein, das sicher nicht! Aber letztlich helfen die Erfahrungen von anderen wenig, wir müssen das meiste selbst erleben. Das führt uns zum entscheidenden Punkt: Wissen besitzt man nicht wie eine Hose oder ein Haus. Diese Dinge bestehen auch unabhängig von uns. Wissen dagegen können wir mit anderen teilen, ohne dass wir es dadurch verlieren würden.
Das Wissen und unsere Erfahrungen sind unmittelbar von uns selbst abhängig, d. h. wir müssen sie auch selbst hervorbringen. Das hat einen spezifisch pädagogischen Sinn – wie so vieles bei Platon. Es bedeutet, dass niemand einem anderen etwas beibringen oder lehren kann, was dieser nicht selbst in seiner Seele und völlig für sich hervorbringt. Wissen muss begriffen werden, selbst nachvollzogen, von sich aus geboren werden. Ob ich verstehe, was mir jemand erklärt, hängt letztlich von mir ab. Es kann eine schlechte Erklärung sein, und ich verstehe sie trotzdem, weil ich weiß, was er meint; es kann eine gute, eine hervorragende Erklärung sein, ich verstehe sie aber nicht, weil ich nicht in der Lage bin, sie mir selbst begreiflich zu machen. Unter der Seele versteht Platon das Gesamtvermögen aller sinnlichen, vitalen, seelischen (auf sich selbst bezogenen), emotionalen und geistigen Bezüge.
Selbst, wenn Sokrates alles Relevante wüsste, derjenige, dem er etwas erklärt, muss die Erkenntnis selber machen, sonst ist sie kein Wissen, sondern ihr Inhalt wird bestenfalls nachgeplappert. Was einer nachplappert und somit nur vermeintlich versteht, begreift er eben nicht wirklich. Sich darauf etwas einzubilden, weil man bei bestimmten Stichworten anderes assoziiert, hat mit Bildung, Wissen und Kenntnissen nichts zu tun. Nur das, was man organisch und in seinem Vollsinn verstanden hat, ist wahre Erkenntnis – freilich nur, wenn sie richtig ist. Jedes neue Wissen muss in einem Prozess der Aneignung einschließlich seiner inhaltlichen und methodischen Voraussetzungen durchdrungen und mit dem bisherigen Wissen verknüpft werden.
Die Frage stellt sich: Können wir auch Falsches verstehen? Wir können zwar meinen, etwas verstanden zu haben. Doch wenn wir danach bemerken, dass unser Urteil nicht stimmt, sind wir nicht mehr der Ansicht, dass wir vorher etwas begriffen haben. Wir sprechen dann davon, dass wir uns zuvor getäuscht haben.
Natürlich besteht beim Wissen immer die Möglichkeit, dass wir uns täuschen. Das ist für die Konzeption der wahren Erkenntnis fatal, denn das setzt voraus, dass wir nie von echter Erkenntnis sprechen können, weil immer Zweifel angebracht sind. Aber dieser Umstand gehört zum menschlichen Streben nach Wissen dazu. Deswegen darf man nach Sokrates vom Fragen und Nachfragen nicht ablassen, man muss die Sachen immer genau prüfen und möglichst von allen Seiten, die eine solche Betrachtung zulassen. Darin hat er offenbar eine große Erfahrung, so dass er gleich sieht: Stimmt das Ergebnis in sich und mit den Erfahrungen überein, oder liegt da etwas schief?
2.3 Das sokratische Nichtwissen
Angesichts der skeptischen Grundhaltung drängt sich die Frage auf: Wissen wir wirklich gar nichts, wie Sokrates behauptet? Wir haben doch bestimmte Kenntnisse, Fertigkeiten, ein Faktenwissen usf. Für Sokrates, und damit für die ganze Philosophie, geht es aber nicht um ein solches positives Wissen, das sich im Übrigen auch ständig ändert, selbst in den Naturwissenschaften. Philosophisches Wissen gibt es in diesem Sinn gar nicht, weil das Reflektieren und Nachdenken, selbst bei methodologisch völliger Durchsichtigkeit, immer wieder von Neuem beginnt und nie zum Ende kommt.
Das liegt an unserer begrenzten Auffassungsgabe, an den unendlichen Möglichkeiten des Lebens, am Bewusstsein um unser unausweichliches Ende des irdischen Daseins, an den Dichotomien und den Widersprüchlichkeiten der gesamten menschlichen Existenz, und offenbar auch an den Voraussetzungen, die wir für jedes positive Wissen machen müssen. Diese können wir aber nie vollständig und absolut erfüllen.
Wir sind von unserer Vergangenheit geprägt und müssen uns auf eine Zukunft hin frei entwerfen; wir sehnen uns nach Unendlichkeit – im Wissen darum, dass wir sterben werden; wir sind zusammengesetzt aus physischen und psychischen Momenten, die nicht aufeinander rückführbar sind, weil ein Eindruck oder eine Wahrnehmung bis in alle Ewigkeit etwas anderes als ein neurophysiologisches Muster sein wird; wir streben nach Wahrheit und bekommen immer nur etwas Vorläufiges. Manchmal begnügen wir uns auch mit der Unwahrheit oder wollen sie hören. Wir wollen alles richtig machen und machen doch so vieles falsch. Wir versuchen klar und deutlich zu sprechen und zu schreiben und dennoch gibt es Missverständnisse. Wir glauben an Gott, den Menschen oder das Universum und wissen über das eine so wenig wie über das andere.
2.4 Das philosophische Fragen
Dass heute, also nach zweieinhalbtausend Jahren, immer noch philosophiert wird, heißt offenbar, dass uns die Fragen der Philosophie nicht loslassen. Die Philosophie ist die erste aller Wissenschaften, d. h., sie ist der Ursprung des methodisch reflektierten Nachdenkens. Ihre Anfänge liegen zwar im Dunkeln, diese haben aber wohl mit der Entstehung des Menschen selbst zu tun. Die Krone des historischen Ursprungs des methodischen Untersuchens kann ihr allenfalls die Medizin streitig machen. Doch die antike Medizin ist eine andere als die heutige. Das gilt zwar auch für die Philosophie, aber ihre Fragen sind in vielerlei Hinsicht immer noch dieselben. Manche Ärzte behaupten sogar heute noch, die Medizin sei noch gar keine Wissenschaft – aber das ist eine ganz eigene Frage.
Die Rechtswissenschaft haben die Römer erfunden. Es gab zwar vorher auch schon Regeln des sozialen Zusammenlebens und der staatlichen Ordnung und Praxis, aber diese entstanden eher aus Traditionen purer Überlebens-Notwendigkeit, und wurden erst durch die philosophische Frage nach der Gerechtigkeit methodisch systematisiert; für die Römer war wichtig, wie ein Gesetz zustande kommt und wie und von wem es beschlossen und bekannt gemacht wurde; die Rechtsfindung und Rechtsanwendung wurde ebenso Regeln und – ganz entscheidend – einem Prozess unterworfen; dazu bildete sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert eine Gruppe von Fachleuten für Rechtsfragen heraus; und schließlich kam es zur Kodifizierung. Die Theologie ist als Wissenschaft freilich etwas Vieldeutiges, in alter Zeit ist sie von Dichtung oder Philosophie nicht zu unterscheiden – das Fragen über die menschlichen Grundfragen nach Erkenntnis und dem rechten Tun geht auch aus der Dichtung hervor.
Die Medizin sowie die Lehre von den Rechten und die Theologie sind an den heutigen Universitäten seit dem Mittelalter erhalten geblieben; aus der Philosophie sind alle anderen Fächer herausgebrochen: die Naturwissenschaften – Galilei oder Newton verstanden sich noch als Naturphilosophen –, die Ökonomie – nämlich aus der Moralphilosophie – und zuletzt die Psychologie – als empirische Frage nach dem Wahrnehmen, Denken und Fühlen. Alles, was sich als empirische Fragestellung formulieren lässt, hat sich von der Philosophie emanzipiert.
Es herrscht also ein Spannungsverhältnis zwischen den empirischen Fragen und den Fragen und Antworten in der Philosophie. Dieser wirft man vor, sie arbeite nicht einmal empirisch. Dabei sei doch inzwischen erwiesen, dass die Welt anders aussehen kann, als man auf den ersten Blick vermutet. Dazu muss man aber die empirische Wirklichkeit erst einmal zur Kenntnis nehmen und hinsehen, während die Philosophie glaubt, ihre Erkenntnisse durch bloßes Nachdenken sichern zu können.
Dieser Einwand vergisst, dass empirisches Arbeiten nicht einfach so beginnen kann. Manche meinen, empirische Fragestellungen lägen auf der Straße, man brauche sie nur aufzuheben, experimentell zu überprüfen und die gewonnenen Daten lieferten einem für sich schon die Antwort. Dass man ein Erkenntnisinteresse hat, also ein Ziel formuliert, das einen gerade interessiert, für sich selbst als Grundlage oder für eine bestimmte Anwendung, dass man darauf hin eine Fragestellung entwirft, diese methodisch – zumeist mathematisch – absichert, ein Experiment ersinnt, Messverfahren durchführt und die gewonnenen Daten dann interpretieren muss, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Jeder dieser Schritte enthält zudem Spielräume. Eine Veränderung der Voraussetzungen, z. B. in der Forschungsfrage, führt immer auch zu einem anderen Ergebnis. Vor allem die Messverfahren und die Datendeutung werden vielfach methodisch nicht auf das Ergebnis hin reflektiert.
Die Philosophie ist die Reflexionsinstanz, Methoden der Erkenntnisgewinnung zu hinterfragen und zu kritisieren. Das kann gar nicht empirisch erfolgen, weil die Reflexion sonst Teil der kritisierten Methode wäre. Wo aber, so kann man fragen, liegt dieses kritische Potential? Was ist das für eine kritische Instanz?
Ähnliches gilt auch für die anderen philosophischen Disziplinen, z. B. die Ethik. Auch diese will zuletzt nicht für sich beanspruchen, letztgültige Antworten auf die Fragen der Lebensführung zu finden, um damit den Anspruch zu erheben, dass der einzelne damit alles gut und richtig macht. Auch sie versteht sich in erster Linie als Reflexionsinstanz, die Methoden eruiert, wie man unter geregelten und vermittelbaren Bedingungen über solche Fragen nachdenkt, um dann mögliche Ergebnisse gegeneinander abzuwägen. Dass die Philosophie nur Fragen stellt und keine Antworten gibt, stimmt freilich nicht. Die philosophische Tradition bietet eine Fülle von unterschiedlichen Antworten. Diese werden aber immer wieder hinterfragt. Man kann sogar sagen, dass die Philosophie die Einrichtung ist, welche die Grundfragen des Menschen und des Lebens für jede Zeit immer wieder neu stellt.
Die Philosophie ist damit eine Wissenschaft, die seit zweieinhalbtausend Jahren immer dieselben Fragen stellt und sich bei den Antworten nicht einig wird. Ihr kommt es aber auch gar nicht darauf an, sich zu einigen. Außerdem weisen ihre methodischen Reflexionen mit den Inhalten zuweilen nur noch eine lose Verbindung auf.
Platon betont dieses dynamische Verhältnis zur Philosophie (vgl. Erler 2006, 63) immer wieder. Offenbar nimmt er aber auch an, dass der mühsame Weg ein Ende finden kann: Nach unserer Stelle im Theaitetos besteht dem Sinn nach immerhin die Möglichkeit, dass Sokrates etwas bestehen lässt, etwas, das dem Blick der sokratischen Seelenhebamme standhält. In der Politeia wird der vollkommene Philosoph und „wahrhaft Lernbegierige“ ebenso als jemand geschildert, der