- -
- 100%
- +
Sachliche Romanze
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut)
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
Ähnlich kann auch ein religiöses Ritual funktionieren: nämlich dass es nur noch funktioniert und das eigentlich damit zu verbindende Leben ersetzt. Dies kann eintreten, wenn der kultische Vollzug einen Versuch darstellt, Gott für die eigenen Belange in Anspruch zu nehmen und damit die Beziehung zu Gott zu zerstören: mit einem Wenndann, das die Beziehung unter Bedingungen stellt. Nach der Ritualforscherin Mary Douglas ist Ritualismus jener Vorgang, in der in einer Gesellschaft die manchmal verunsichernden Erscheinungen unmittelbarer Religiosität (wie etwa in der Ekstase) zugunsten einer gesteigerten Kontrolle durch Rituale unterdrückt werden, die die lebendige Gottesbeziehung, vor allem die der Klage und Anklage, die widerständig ist, durch ein regelgeleitetes Verhältnis ersetzt.14
Es gibt in der Geschichte von Religionen wie auch in Biographien von gläubigen Menschen eine Abfolge unterschiedlicher Schwerpunkte von „direkter“ Gottesbeziehung und Sakrament bzw. Liturgie, ein Pulsieren zwischen diesen beiden Formen der Transzendenzbeziehung. Und offensichtlich scheint das jeweilige Durchbrechen zur unmittelbaren und aus der eigenen Situation heraus formulierten Begegnung immer auch eine Unterbrechung und Kritik allzu selbstverständlich gewordener oder inhaltlich problematisch gewordener Symbolvorgänge bzw. Rituale zu sein. Dafür steht die biblische Prophetie, die immer wieder die Sicherheit kritisiert, die man mit Ritualen zu erwerben glaubt.
Aus dieser Perspektive kann die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums als Flexibilisierungsschub einer relativ festgefügten Liturgie angesehen werden zugunsten einer persönlichen Erfahrungsbeteiligung an Symbolvorgängen in Richtung auf eine „actuosa participatio“ (aktive Teilnahme bzw. Teilhabe) der Gläubigen. Mit der Liturgiekonstitution ist damit für das Gesamtkonzil etwas eröffnet worden, was alle Texte durchzieht, nämlich das Bestreben, kirchlichen Glauben und die Erfahrung der Gläubigen, Dogma und Pastoral, Liturgie und Leben in einer sich gegenseitig erschließenden Weise aufeinander zu beziehen.15
1.5. Symbolhandlung als Erfahrung der Gnade
Die relative Vorgegebenheit und Kontinuität des Rituals bildet die „natürliche“ Entsprechung für jene Vorgegebenheit, dass den Menschen die Liebe Gottes geschenkt ist, noch bevor sie diesbezüglich etwas leisten müssten. Diesen Glauben formuliert vornehmlich die Gnadentheologie16 und Rechtfertigungstheologie. In der Lehre der Sakramente gilt das Sakrament demnach als ein von Christus eingesetztes wirksames Gnadenzeichen.17 Zu den anderen, den erzählerischen, bekenntnis- und lehrhaften Eingaben der Tradition, verhält sich das Ritual wie die Energiemitte eines Sterns, in dessen Mitte viele Strahlen, Geschichten und Inhalte münden und aus dessen Mitte viele Strahlen kreativer Geschichten sich zu entfalten vermögen.
Selbstverständlich ist Gott die personale Bedingung und Wirkursache dieses Symbolgeschehens und nicht das Symbolgeschehen selbst. Aber das Symbolgeschehen ist es, das durch sich selbst die Sicherheit dieser Ursache vermittelt. Die „Wirksamkeit“ der Sakramente aus ihrem Vollzug heraus (ex opere operato) bewahrt die Unbedingtheit der Gnade Gottes davor, von der Tätigkeit der empfangenden bzw. spendenden Person ursächlich abhängig zu sein. Was allerdings von der Tätigkeit ursächlich abhängt, sind selbstverständlich die Erfahrung dieser Gnade im eigenen Leben, die sprachliche Formulierung dieser Beziehung und das Innewerden ihrer Wirkmacht. Die katholische Sakramententheologie macht die Gnade nicht vom Glaubenserfolg der Empfänger/innen abhängig. Analog dazu könnte man die Theologie von der Selbstbewegung des Wortes, die nicht vom Verkündigungserfolg abhängig ist, bei Karl Barth auffassen.18
Leonardo Boff formuliert den Zusammenhang so: „In der christlichen Tradition ist immer behauptet worden, dass die göttliche Gnade unfehlbar in der Realisierung des Sakraments gegenwärtig wird. … Die Gegenwart der göttlichen Gnade im Sakrament hängt nicht ab von der Heiligkeit sei es dessen, der das Sakrament spendet, sei es dessen, der es empfängt. Denn die Ursache der Gnade sind weder der Mensch noch seine Verdienste, sondern einzig Gott und Jesus Christus: … Wenn einmal der sakramentale Ritus vollzogen ist und die heiligen Symbole gesetzt sind, handelt Jesus Christus und kommt in unsere Mitte. Aber nicht kraft der Riten selbst; diese haben ja aus sich selbst nicht die geringste Kraft, sie symbolisieren nur. Sondern auf Grund des Versprechens, das Gott gegeben hat.“19 Ich würde noch ergänzen, das sich in ihnen verleiblicht, so dass sie zur Repräsentanz dieses Versprechens werden. Ein Gebrauch der Sakramente mit Bedingungen (wenn ich das und jenes tue, dann ist mir Gott gut) ist weder nötig noch möglich, weil das, was mit ihnen als Bedingung geleistet werden soll, längst und auch ohne ihren Vollzug gegeben ist.
1.6. Sakramententheologische Vertiefung
Das durchaus anzustrebende korrelative oder korrespondierende Verhältnis von Symbolhandlung und Erleben oder Verstehen darf nicht zu der Ansicht führen,20 „seine (des Auferstandenen) wirkliche, aber von uns nicht geglaubte Präsenz wäre, banal gesagt, nur die halbe Miete“21. Es ist bereits die ganze Miete, ohne die es die in der korrelativen Erfahrung beanspruchte ganze Miete gar nicht gäbe. Und Milliarden von Menschen bedürfen eben nicht der Sakramente, können gut ohne sie leben, und doch erfahren sie Gottes Gnade in ihrem Leben, und doch feiert die Kirche stellvertretend für sie die Sakramente.22
Es ist gut, nicht allzu schnell den Wechsel von Gott zum Menschen zu vollziehen: Gott bleibt Verursacher und Geber der Gnade und aller Sakramentalität. Der Glaube, was immer darunter genauerhin zu verstehen ist, ist nicht Wirkursache der Gnade, sondern disponierende Ursache für die Erfahrung der Gnade. Was das Sakrament zusagt, ist auch nicht davon abhängig, ob die Menschen das erfüllen, was im Sakrament geschenkt ist, sondern es bleibt auch dann gegeben, wenn dies nicht geschieht. Denn Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (vgl. Mt 5,25).
So ist auch der Begriff des „unauslöschlichen Merkmals“, das grundlegend mit dem Sakrament der Taufe gegeben ist, auf diesem Niveau zu verstehen: Er sagt aus, dass die göttliche Zusage in diesem symbolischen Akt unverlierbar an ihm haften bleibt und sich beim empfangenden Menschen selbst substantiell auswirkt. Die Zusage bleibt gültig,23 auch kontrafaktisch, also im Gegensatz zur Tatsächlichkeit, sollte der Mensch diese Zusage vergessen oder ihr nicht gerecht werden. Gott selbst hat sich an dieses Garantiezeichen seiner Treue gebunden.
Auch der sog. Taufscheinchrist bleibt dann ein für allemal in der Liebe Gottes und fällt nie aus ihr heraus: „Gott ruft sakramental den Menschen ganz persönlich und zugleich als Glied der Gemeinde Jesu an, und zwar in schöpferischer Weise, damit der Mensch im Glauben darauf antwortet. Gibt der Mensch seine Antwort nicht in der geschuldeten Glaubenshingabe, so zieht Gott seinen wirksamen Anruf doch nicht zurück, die neue Chance und Aufgabe bestimmt den Menschen bleibend als unauslöschliches sakramentales Siegel.“24 Dessen dürfen die Gläubigen im Vertrauen auf dieses Versprechen Gottes sicher sein.25
Genau dies spüren die Menschen, die „nur“ zu besonderen Fällen zur Kirche kommen, vor allem zu den Sakramenten Taufe, Firmung und Eheschließung. Man nennt diese Pastoral, vom Lateinischen „casus“ für „Fall“, Kasualpastoral und deshalb diejenigen, die nur aus diesem Grund kommen, Kasualienfromme.26 Diese Menschen ahnen, dass in den Sakramenten eine Vorgegebenheit Gottes auf sie zukommt, auf die sie gewissermaßen ein „Anrecht“ haben, nicht weil sie das Recht selbst besäßen, sondern weil es ihnen von Gott geschenkt ist. Sie reagieren rechtfertigungstheologisch und ekklesiologisch „richtig“, wenn sie die Sakramente als Außenbezug der real existierenden Kirche beanspruchen, um mit ihnen in ihre Lebensräume hinein den Kirchenbegriff mit sich selbst zu erweitern. Auch wenn sie kirchensoziologisch (sozialgestaltbezogen) nicht dazugehören, gehören sie (sakramenten- und darin gnadentheologisch) zur Kirche, zum „Leib Christi“ (1 Kor 12,27).
Es wäre allerdings ein verhängnisvolles Missverständnis, die hier vorgelegte gnadentheologisch vertiefte Sakramententheologie und Ekklesiologie so zu verstehen, als käme es nicht mehr auf den Glaubensvollzug und das diakonische Handeln an. Hier wird nur in elementarer Weise ernst genommen, dass die Gnade allem Handeln vorausgeht, sowohl in den Symbolhandlungen als auch im sozialen und solidarischen Verhalten der Christen und Christinnen. Das Ganze wäre völlig missverstanden, wenn Gott uns seine Gnade schenkte, damit wir so bleiben, wie wir sind. Die Bibel unterstellt Gott, er habe im Lauf der geschichtlichen Begegnung mit den Menschen gelernt (was selbstverständlich den Lernprozess der Menschen selbst widerspiegelt), dass er mit Zwang und Forderungen nichts bei den Menschen erreichen kann. In der Perspektive des leidenden Gottesknechtes bzw. des Jesus am Kreuz verzichtet Gott völlig auf jede Art von zwingender Herrschaft, um so den Menschen etwas zu schenken, was sie zwischenmenschlich in dieser radikalen Weise nicht erfahren können, nämlich die Bedingungslosigkeit seiner Liebe und damit die Ermöglichung, aus dieser Liebe heraus entsprechend miteinander umzugehen. Gott fordert nicht, was er nicht im Übermaß geschenkt hätte. Befehle und Gesetze allein geben niemals die Kraft, sie in Freiheit zu erfüllen. Gott verzichtet darauf, zum Guten zu zwingen, sondern schenkt dafür die das Gute ermöglichende Gnade.
Es geht hier also nicht um eine billige Stabilisierung der bestehenden Praxis mit einer ebenso billig missverstandenen „Gnadentheologie“, sondern um eine Gnadenerfahrung, in der die Unendlichkeit des göttlichen Geheimnisses bis zur Hingabe unentgrenzter und damit radikalisierter Solidarität zu tragen vermag. Nicht Bestätigung ist die Wirkung, sondern eine Herausforderung, die tiefer geht als jede Aufforderung.
1.7. Vor-Sakramentale Symbolgabe
Wo es keine Sprache mehr gibt, keine Worte, um die Tiefen des Bösen und des Leides eines Geschehens zu begreifen, wo Menschen fassungslos dastehen müssen, hilflos nichts mehr verhindern können, wo es keine Antworten gibt, die beruhigen, wo man sich zugleich weigert, dem Zynismus oder dem Banalismus allzu schneller Antworten und Reaktionen zu erliegen, da öffnet sich die Sehnsucht nach anderen Ausdrucksformen als denen des Wortes und des Gesprächs. Viele Menschen, auch solche, die es sonst nicht tun, begeben sich dann in die religiöse Symbolwelt; zünden Kerzen an und bringen sie an entsprechende Orte des Gedächtnisses, legen Blumen nieder, schreiben Texte, auch wenn sie nicht unbedingt zum Lesen für andere gedacht sind. Es geht um die Verwortung ihrer Trauer und ihres Mitgefühls, darum also, dass sie geschrieben und mit Kerze und Blumen zusammen oder für sich hingelegt werden. Die eigene Ohnmacht und Anteilnahme können sich in dieses Ritual, in dieses symbolische Handeln hinein verleiblichen. Und damit verbindet sich nicht zuerst Reden, sondern Schweigen.
Von der Schreckenssprache des ersten Entsetzens, wenn sie denn verfügbar war, fällt man in die Symbolsprache, von der Aufregung in die Ruhe, die aber keine unangemessene Beruhigung darstellt, sondern in der Ruhe erst die Tiefe des Geschehens zu ertasten sucht. Solche Symbolhandlungen und Gottesdienste gibt es nach katastrophalen Ereignissen, öffentlich und privat. Dass sich die Kirchen mit ihren Räumen und Symbolen absichtslos zur Verfügung stellen, ist ein eigener sakramentaler Vorgang, nämlich kontrafaktisch zur Zerstörung dem Mitleid und der Solidarität Ausdruck zu geben, auch wenn dadurch das Geschehene nicht geheilt werden kann. Auch dies ist eine Art von Kasualpastoral und darf nicht mit der zynischen Vokabel eines kompensatorischen Zeremonienmeisters der Gesellschaft diffamiert werden. In solchen Tagen wächst bei vielen Menschen das Bedürfnis nach anderen als bisherigen Ausdrucksformen ihrer Existenz und ihrer Gefühle.
So werden die Kirchen ihre angesprochenen Ressourcen immer zur Verfügung stellen. Als Orte, wohin die Menschen sich zusammenfinden können in ihrem Bedürfnis nach Schutz und Heimat in der Situation der Fassungslosigkeit, als Räume, wo andere Ausdrucksmöglichkeiten geschenkt sind als die alltäglichen. Und zugleich werden sie sensibel, unindoktrinierend, aber deutlich das inhaltlich Andere mitbenennen, das diese religiöse Sprache trägt. Denn die kirchlichen Symbole haben nicht nur eine beleihbare Ausdruckskraft, sondern sie haben auch bestimmte inhaltliche Ausrichtungen.
So wird man es auch jenen gönnen, die Christophorus-Plakette im eigenen Auto anzubringen, die ansonsten nicht viel mit Kirche und christlichen Inhalten zu tun haben. Dies ist nicht das Problem. Das Problem liegt in der Verantwortung, die die Kirche auch noch für diese ausgewanderten Symbole hat, insofern sie (z. B. bei Autosegnungen) darauf besteht, dass die Christophorus-Plakette kein Freibrief für rücksichtsloses und menschengefährdendes Fahren ist, sondern dass sich hier der Schutz des eigenen Lebens mit dem Schutz der anderen verbindet. Die Enteignung der Symbole geschieht nicht dadurch, dass sie frei verfügbar sind, sondern sie geschieht erst dann, wenn sie für Handlungen und Positionen benutzt werden, die nicht im Ursprung ihrer Inhalte und der Inhalte des Evangeliums liegen. Ähnliches gilt für die Pastoral der Sakramente, und zugleich hat die Pastoral hier wie dort keine andere Macht als die vertiefte Erfahrung der Gnade. Verweigerungen und Zwänge verschärfen das Problem.
2. Unbedingte Vor-Gegebenheit
2.1. Überbrückende Kraft
Wenn das Verhältnis von Erfahrung und Ritual hinsichtlich der heilenden und erlösenden Zusage ein annähernd korrelatives, analoges und paralleles ist, dann geht es den Menschen gut, dann erleben sie etwas oder vielleicht sogar viel von dem Glück eines Gottes, der es gut mit ihnen meint. Dann wird als Erfahrung gefeiert, was im Ritual gezeigt und symbolisch versprochen wird. Neben dem analogen ist aber auch ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Erfahrung und sakramentalem Symbolgeschehen in den Blick zu nehmen. Wenn die „direkte“ Erfahrung nicht mehr mithält, kann der Vollzug des Rituals dennoch wirken, ohne dass es Ritualismus ist. So kann auch in Beziehungen das Alltagsritual wie ein „Geländer“ über Krisenzeiten hinweghelfen, wenn es Blockaden gibt, ein Problem unmittelbar anzusprechen, wenn man also Zeit braucht, um miteinander zurechtzukommen. Dann trägt das Ritual über diese Kluft hinweg. Entsprechend kann sich auch eine Unsicherheit im Glauben durchaus mit der Aufrechterhaltung umso sichererer Rituale bzw. des Gottesdienstbesuchs verbinden.
Es ist, wie wenn man im Ritual einen Brief schreiben würde, von dem man aber nicht so recht glauben kann, dass er ankommt. Gleichwohl beinhaltet die Treue zum Ritual in sich die leise Hoffnung, dass diese formale rituelle Verbindung irgendwie nicht ins Leere geht. Vielleicht auch die Hoffnung, dass über Jahre und Jahrzehnte hinweg dann doch die Chance gewahrt bleibt, dass auch die eigene Gottesbeziehung wieder Leben gewinnt. Wenn man es nicht moralisierend, sondern im Sinne eines tatsächlichen An-Gebotes auffasst, könnte man diese Überlegungen auch als Plädoyer für das Sonntagsgebot verstehen.
Der inhaltliche Sicherheitsverlust wird über die formale Verlässlichkeit aufgefangen mit der Hoffnung, dass darin nach kurzen oder auch langen Durststrecken wieder die inhaltliche Verlässlichkeit aufscheint. Man kann diesen Zusammenhang auch auf der Zeitschiene und damit endzeitlich verstehen. Was das Ritual vergegenwärtigt, ist immer zugleich ein Versprechen, das jetzt in vieler Hinsicht in den Erfahrungen der Menschen noch nicht zuhause ist, sondern auf Hoffnung hin und oft genug wider alle Hoffnung (vgl. Röm 8,24), eine Verheißung, die als etwas erfahren werden darf, was gleichwohl bereits in einer bestimmten Weise gegenwärtige Wirklichkeit ist. Das Ritual wird zum Platzhalter dafür, dass Gott am Ende dieses Äons all das erfahrungsmäßig einlösen wird, und weit über die jetzigen Vorstellungen hinaus, was im Symbolvollzug des Sakraments als „antizipiertes Faktum“, als im Glauben vorweggenommene Zukunftswirklichkeit geschenkt ist.27 Das Sakrament ist der Schwur Gottes, dass seine Liebe den Menschen gegenüber auch kontrafaktisch gilt, geglaubt und gehofft werden darf, ohne sie unmittelbar zu erfahren.
Ein Beispiel für so einen Prozess bietet der Psalm 22. Er ruft nach einer langen Klage zum Lob Gottes auf, obwohl sich die Situation des Leidens noch nicht verändert hat. Verändert hat sich aber das Gottesverhältnis, insofern Gott nun als der erlebt wird, der nicht nur dem Menschen, dem es gut geht, sondern auch dem, dem es schlecht geht, nahe ist. Hier ereignet sich die Transformation von der Wohlergehensreligion zu einem Vertrauen, das weder den Menschen noch Gott unter solche Wenn-dann-Bedingungen stellt. Israel stößt zu dieser Gottesbeziehung im persönlichen Gebet des einzelnen Menschen (hinsichtlich seiner Leidenserfahrungen) und kollektiv in den Erfahrungen des Volkes im Exil vor. Die Rettung ist zwar noch nicht sichtbar, aber in Gott für die Zukunft beschlossen.
Auch die Eucharistie hat diese endzeitlich-gegenfaktische Struktur: Sie vergegenwärtigt nicht nur die Erinnerung an die MählerJesu und an das letzte Abendmahl, sondern sie weist auch in die Zukunft und vergegenwärtigt von der Zukunft her das himmlische Hochzeitsmahl. Denn die christliche Erinnerung ist immer zugleich eine Verheißung und macht nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die erhoffte Zukunft gegenwärtig. Auch diese Zukunft ist im Ritual als Gnade vor-gegeben. So spiegelt sich die Transzendenz Gottes in der zeitlichen Transzendenz, im Überstieg zur Vergangenheit wie auch im Überstieg zur Zukunft. Für diese eschatologische Dimension der Eucharistie gilt näherhin, dass sie beides beinhaltet, nämlich die Erinnerung und geglaubte Rettung der Opfer (in der Erinnerung an Tod und Auferstehung Jesu) wie aber auch die dadurch erreichte Versöhnung der Sünder und Sünderinnen, also der Täter (siehe unten im Kapitel Eucharistie: Opfergedächtnis und Versöhnung vom Kreuz her).
Analog dazu kann man auch die christlichen Kasualrituale ansehen, insofern eine größere Anzahl derer, die sie beanspruchen, eher distanziert das Ritual suchen als die damit verbundene Glaubens- und Gemeinschaftserfahrung. Natürlich bleibt die Chance offen, dass die Betreffenden sich für die dahinterliegenden Wirklichkeiten öffnen. Aus diakonischer Perspektive sind die Kasualrituale jedenfalls in Bezug auf die sog. Fernstehenden ein Dienst daran, dass diese in unsicheren Übergangszeiten ein ihnen vorgegebenes Ritual erhalten, in dem sie diese Passage ihres Leben anfanghaft für die Transzendenz, also auf das hin, was sie nicht selbst sind und haben und was sie an „Größe“ übersteigt, öffnen und derart aushalten und bewältigen können. Von daher ist die Sakramentenpastoral nicht als ein Ausverkauf der Sakramente zu verdächtigen, sondern kann als ein bezüglich der Institution der Kirche absichtsarmes Unternehmen „ritueller Diakonie“ im Dienst an den Menschen angesehen werden, verbunden mit der Hoffnung, dass diese Gegebenheit auch einmal das bewirkt, was sie symbolisiert. Nur: Kalkulieren kann man damit nicht. Ob ein biographisches Passagenritual auch zur Passage in die Erfahrungen und Gemeinschaft des Glaubens wird, ist nicht zu erzwingen, sondern nur zu ermöglichen und zu erhoffen.
2.2. Erfahrung jenseits der Erfahrung
Was eben zum eher negativen Verhältnis von Ritual und Erfahrung formuliert wurde, gewinnt insbesondere im jüdischen Bereich im Anschluss an die Katastrophe von Auschwitz eine erschütternde Radikalisierung, nämlich dass das Ritual (z. B. des Paschamahls) auch gegen die Erfahrung Gottes, nämlich angesichts seiner im Stich lassenden Abwesenheit, aufrechterhalten wird. Elie Wiesel hat diesen Zusammenhang immer und immer wieder erzählt und in seiner Dichtung aufgegriffen. Er nimmt damit die kühne jüdische Tradition auf, nämlich zu Gott nein zu sagen, ihn anzuklagen, und zwar um der Menschen willen. Im Prozess von Schamgorod28 bringt Elie Wiesel diesen Zusammenhang in das Drama, dass Gott für das unendliche Leid schuldig gesprochen und verurteilt wird, und unmittelbar im Anschluss daran ruft der Rabbi zum Gebet auf, zum Schema Israel, also dazu, sich in das alte Ritual dieses Gebetes zur Anerkennung Gottes im Lobpreis einzubringen, und so auch nicht aufzuhören, das Paschamahl zu feiern. Denn verstanden werden kann von diesem sich verbergenden Gott nichts mehr. Übrig bleibt ein Trotzdem: sich trotzdem in die vorgegebenen Formen der Gottesbeziehungen hineinzubegeben. Auch dies ist eine Erfahrung, eine Erfahrung allerdings, die auch das Un-Erfahrene an Gottes Anwesenheit nicht ausgrenzt.
Das Ritual ist also nicht nur verdichteter Ausdruck menschlicher Erfahrung, sondern kann Letzterer auch gegenüberstehen und so eine Wirklichkeit repräsentieren, die zur Erfahrung unzureichend oder gegenläufig ist. Die Liturgie hat in solchen Zusammenhängen eine Stellvertretungsaufgabe, indem sie in der Sicherung des Rituals jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, die auch gegen den Augenschein gilt und Wirklichkeit ist. „Es betet“ weiter, obwohl der Mensch aus seiner Situation heraus nicht mehr beten kann.29
Derart macht das Ritual jene Stellvertretung erfahrbar, die christologisch, durch die Stellvertretung des Geistes Christi „für uns“ (vgl. Röm 8,26), ermöglicht ist.30 Das Ritual realisiert das Gotteslob, nämlich Gott größer als alles andere sein zu lassen, gegen den Augenschein auch dann noch, wenn in der „direkten“ Kommunikation mit Gott nicht mehr viel erlebt werden kann.31 Im Ritual ist die Gnade noch vor der Erfahrung präsent, auch unabhängig zu ihr, um in dieser Vorgegebenheit gerade als solche erfahren werden zu können.
Bei Wiesel zeigt sich die überkommene Symbolhandlung als die Möglichkeit, die Paradoxie des Glaubens zu leben und auszuhalten, die Paradoxie, die darin besteht, Gott angesichts des Leidens der Menschen eigentlich die Beziehung aufkündigen zu wollen und zu müssen, dies aber letztlich dann doch nicht zu können und zu wollen. Hier zeigt sich eine Spiritualität, die die Beziehung zu Gott in der Schwebe zwischen radikaler Infragestellung und Anbetung lässt und Letztere in der Treue zum Ritual und damit in der Solidarität mit dem eigenen Volk vollzieht. Die Unsicherheit in der Gottesfrage verbindet sich hier eigenartig mit einem regelmäßigen Ritual in Solidarität mit Israel und letztlich dann doch mit seinem Glauben. Unvergleichbar damit und doch in vorsichtiger Analogie dazu könnte im christlichen Bereich in der Treue zur sonntäglichen Eucharistie, auch wenn die Gotteserfahrung nicht mithält, gleichwohl die Solidarität zu den vor allem weltweit verfolgten Mitchristen und Mitchristinnen zum Ausdruck kommen.
2.3. Programmatische Erfahrung eines Vergessenen
Es geht heute vielen, vor allem auch älteren Menschen ähnlich, wie es der „Nachkriegsdichter“ Reinhold Schneider hinsichtlich seines Hinausgleitens aus dem Glaubensbereich wahrnimmt. In seinem Buch „Winter in Wien“ formuliert er: „Ich fühle mich aus dieser Wirklichkeit, diesem Wahrheitsbereich gleiten, ohne Einwand, immer in Verehrung und Dankbarkeit, ohne jegliche Rebellion, … gezogen von meinem Daseinsgewicht, mit geschlossenen Augen, verschlossenem Mund.“32 Und: „Fest überzeugt von der göttlichen Stiftung und ihrer bis zum Ende der Geschichte währenden Dauer, ziehe ich mich doch lieber in die Krypta zurück; ich höre den fernen Gesang. Ich weiß, dass er auferstanden ist; aber meine Lebenskraft ist so sehr gesunken, dass sie über das Grab nicht hinauszugreifen, sich über den Tod hinweg nicht zu sehnen und zu fürchten vermag!“33