- -
- 100%
- +
Durch meine Forschungen erweiterte sich meine Perspektive in Bezug auf Swedenborg wie auch auf die osteopathische Medizin grundlegend. Immer, wenn mich Freunde in jener Zeit zur Wahl des Themas fragten, scherzte ich, dass es von sehr großem Interesse für sehr wenige Menschen sei. Ich hoffe, dass Sie als Leser einer dieser wenigen Menschen sind. Dieses Buch ist für alle geschrieben, die an der Verbreitung der wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Anschauungen Swedenborgs und ihrer Wirkung in und auf die Vereinigten Staaten während des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und auf den osteopathischen Berufsstand im 19. und 20. Jahrhundert im Besonderen interessiert sind. Das Buch ist auch für diejenigen geschrieben, die an der Erforschung der Geschichte und Philosophie der Osteopathie interessiert sind. Es stellt viele Verbindungen zwischen Swedenborgs Anschauungen und der Osteopathie vor; zahlreiche Verbindungen, die bisher nicht entsprechend gewürdigt wurden. Die Philosophie und das innerhalb der Osteopathie brennende Interesse daran, mehr über Swedenborg, Still, Sutherland u. a. zu erfahren, waren mein Antrieb, neue Gebiete zu erforschen. Ich hoffe, dass das Buch dazu beiträgt, dem Thema eine angemessene Wertschätzung zu verschaffen, und dass es zugleich dazu dient, eigene Forschungen in diesem Bereich anzuspornen.
David B. Fuller, DO, FAAO
Mai 2011, Bay Minette, Alabama
DANKSAGUNGEN
Vielen Dank dem Team der Bay Minette Public Library, insbesondere Tony Crook, der sehr viele Fernleihen aus dem gesamten Land für unsere kleine Stadt im südlichen Alabama organisierte. Über die Jahre sind Bücher von Kalifornien bis Pennsylvania, von Utah bis Nord-Alabama und aus vielen anderen Staaten in unsere kleine Bibliothek nach Bay Minette, Alabama, geflossen.
Dank an das Still National Osteopathic Museum in Kirksville, Missouri, dessen ausgezeichnetes Team es möglich machte, über große Entfernung Forschung zu betreiben.
Dank an Jane Stark, DOMP (Kanada), die so freundlich war, ihre Forschung zu Sutherlands Präsentation in Des Moines 1944 sowie Informationen über den Bezug von Ida Rolf 1973 auf Sutherland zu teilen und ebenso den äußerst hilfreichen Führer zu Still-Biografien in ihrer Masterarbeit. Dank an Ron Murray, DOMP (Kanada), der gleichfalls im Zusammenhang mit Ida Rolf hilfreich war.
Dank an Carol Odhner, Direktorin der Swedenborg Library, und an Cindy Walker, Archivarin der Swedenborg Library in Bryn Athyn, Pennsylvania, für ihre Hilfe bei der Forschung zu Acton.
Dank an Christian Fossum, DO (UK), und an Eric Snyder, DO, welche die Artikel von William L. Grubb, DO, aus den Jahren 1923 – 1925 an mich weitergaben.
Dank an Jennifer Southworth, Leitende Koordinatorin, und Sydney Dunn, Ausführende Direktorin der Cranial Academy, die mir den Zugang zu den Archiven der Cranial Academy in Indianapolis, Indiana, ermöglichten.
Dank an die AAO, die es mir erlaubte, meine durch das Stipendium der FAAO verfasste Forschungsarbeit in dieses Buch einzubeziehen.
Dank an Carol Trowbridge für ihre enorme Arbeit und ihre Forschungen beim Schreiben ihrer Biografie über A. T. Still, Andrew Taylor Still: 1828 – 1917.
Dank an die Swedenborg Scientific Association (SSA), insbesondere an Reuben Bell, DO, MDiv, für die Verbindung zur SSA und die Erleichterung dieser Veröffentlichung; Donald Fitzpatrick, PhD, für die Hilfestellung bei der Edition; Erland Brock, PhD, für die Unterstützung und Begleitung durch den Veröffentlichungsprozess; und an Lisa Childs für ihre sorgfältige Niederschrift und die Indexerstellung.
Ich hoffe, dass die Anschauungen in diesem Buch Resonanz bei vielen Lesern erzeugen. Meine Forschung war unabhängig und die Schlussfolgerungen stammen von mir. Ich habe bei diesem Unternehmen keinerlei finanzielle Unterstützung durch eine Person oder Organisation erhalten.
Dank schließlich an meine drei Kinder Rosemary, Caterina und Kent, dass sie die wertvolle Zeit mit ihrem Vater mit diesem Projekt teilten.
Mein größter Dank gilt jedoch meiner Frau Janet M. Krettek, DO, FACOS. ONM/NMM, deren unermüdliche Ermutigung, Kritik, Unterstützung und Vertrauen dieses Buch erst möglich gemacht haben.
RATSCHLAG AN DIE LESER
Dieses Buch wurde für einen weiten Leserkreis geschrieben: für solche Leser, die an Osteopathie interessiert sind; für solche mit einem Hintergrundwissen zu Swedenborg; und für solche, für die beides neu ist. Ich möchte alle diesen Lesern einen kleinen Ratschlag mit auf den Weg geben.
Der erste Teil dieses Buches behandelt einigermaßen detailliert das Leben und die Anschauungen von Emanuel Swedenborg. Jenen, die mit Swedenborg weniger vertraut sind, mag dies auf den ersten Blick als zu viel erscheinen. Ebenso wird Swedenborg-Kennern einiges redundant vorkommen. Da allerdings das Leben Swedenborgs und seine (anatomischen, philosophischen und theologischen) Konzeptionen wesentlich waren für die Verbreitung dieser Anschauungen im Nordamerika des 19. Jahrhunderts und zudem eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der Osteopathie, insbesondere bei A. T. Still und W. G. Sutherland spielten, ist ein ausführliches Grundwissen zu Swedenborg unerlässlich. Deshalb ist der erste Teil grundlegend für das Verständnis der übrigen Teile des vorliegenden Werks. Ich hoffe, dass auch die, welche über Swedenborg bereits besser Bescheid wissen, in diesem ersten Teil neue Einsichten gewinnen können. Swedenborgs Überlegungen werden unter einem medizinischen, osteopathischen Gesichtspunkt analysiert und sie beziehen sich insbesondere auf Swedenborgs in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigte anatomische Werke und seine darin ausformulierten Schlussfolgerungen.
Der zweite Teil dieses Buches untersucht die Geschichte der Osteopathie und ihre Konzeptionen tiefer gehend. Wie für den ersten Teil gilt auch hier: Jemandem, der mit der Osteopathie nicht sehr vertraut ist, mag das vorgestellte Material als äußerst viel erscheinen; für osteopathische Wissenschaftler wird hingegen manches redundant sein. Doch auch hier sind diese Informationen grundlegend für einen umfassenden Vergleich von Swedenborg, Still und Sutherland. Ich hoffe jedenfalls, dass dieser Teil einen gründlichen Überblick für diejenigen bietet, die nur wenig mit osteopathischen Anschauungen vertraut sind bzw. sich nur selten mit ihnen auseinandersetzen. Und für osteopathische Wissenschaftler bietet er hoffentlich neue Einsichten und Perspektiven. Für die Leser, die an den originalen Aussagen von Still und Swedenborg interessiert sind, gibt es darüber hinaus einen Anhang, der eine Erweiterung von Kapitel 18 darstellt und die Paradigmen beider mit ausführlichen Zitaten vergleicht.
Während der Abfassung seiner Schriften arbeitete Swedenborg zugleich an und mit übergreifenden Leitkonzeptionen sowie mit schier unglaublicher Detailgenauigkeit. Allgemeine Prinzipien hatten solange keine Bedeutung für ihn, bis sie nicht im Einzelnen erforscht waren. Gleiches gilt für Still und Sutherland. Alle drei oszillierten in ihren Schriften zwischen Leitprinzipien und peinlich genauen Detailbeschreibungen. Ein umfassender Vergleich der Beiträge der Beteiligten erfordert daher das Studium der allgemeinen Paradigmen ebenso wie die Analyse der Einzelheiten. Dies erklärt schließlich, warum derart viel grundlegendes Material bei der Erstellung des vorliegenden Buchs berücksichtigt wurde. Ich hoffe, es dient dem Zweck und ist für alle Leser von Interesse.
OSTEOPATHIE UND SWEDENBORG
1. EINFÜHRUNG UND ÜBERBLICK
Emanuel Swedenborg war ein pragmatischer und brillanter schwedischer Wissenschaftler und Philosoph im 18. Jahrhundert, der sich im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um eine Vereinigung von Wissenschaft und Geist zu einem Theologen entwickelte. Er verfolgte dieses Ziel während seines langen und produktiven Lebens, ob nun als Assessor des Bergwerksdirektoriums, das diesen höchst wichtigen Wirtschaftszweig in Schweden regulierte, oder in seiner Funktion in der Adelskammer des Reichstags, die gemeinsam mit dem schwedischen König die Regierung bildete.
Als führender europäischer Wissenschaftler in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte er eine Theorie der Teilchenphysik und eine Nebeltheorie des Sonnensystems und der Galaxien, bevor er sich anatomischen Forschungen zuwandte. Stets behielt er jedoch bei seinen Studien die Vereinigung von Wissenschaft und Geist im Blick. Seine wissenschaftlichen Forschungen führten ihn zum Studium des gesamten bekannten Wissens, zur Anatomie und – da er ein besseres Verständnis in Bezug auf die Verbindung zwischen Seele und Körper anstrebte – insbesondere zur Erforschung des Gehirns. Obgleich er seine Studien im Kontext der führenden Anatomen Europas betrieb, waren die von ihm entwickelten Anschauungen und Paradigmen gänzlich einzigartig. Er entwickelte ein anatomisch basiertes organisches Paradigma der Interaktion von Seele und Körper aufgrund von Konzepten wie dem einer belebenden Bewegung des Gehirns oder dem Ausgießen einer sehr feinen geistigen flüssigen Essenz in das Nervensystem, welche über neurofasziale Verbindungen in den restlichen Körper gelange, um diesen zu integrieren und zu stärken. Geist und Fleisch würden in einer organischen rhythmischen Einheit von Mentalem, Körper und Geist6* verbunden. Swedenborg beschrieb diese Anschauungen in genauesten Details, die sich aus seinem Studium sämtlicher Systeme, Organe und Strukturen des Körpers ergaben.
Gegen Ende seiner Arbeit und seines Schreibens über anatomische Themen geriet er in eine spirituelle Krise, die in einem Übergang hin zu theologischen Studien in den letzten drei Jahrzehnten seines langen Lebens kulminierte. Überzeugungen, die er aufgrund seiner früheren anatomischen, wissenschaftlichen und philosophischen Forschungen entwickelt hatte, durchdrangen nun seine theologischen Werke, wodurch er einen völlig neuen Zugang zur und ein neues Verständnis der Religion entwickelte. Dieses neue religiöse Paradigma sprach alle Hauptthemen an, welche die Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen betreffen. Es schloss detaillierte neue Konzepte und Themen ein, wie etwa das Verhältnis von geistigen und natürlichen Realitäten, das universale, von Gott geschaffene Gesetz, welches die gesamte Schöpfung bestimmt, das Leben nach dem Tod, geistiges Wachsen, das mögliche ewige Fortschreiten jedes Individuums und eine detaillierte Beschreibung von Seele, Mentalem und Körper – und wie diese als eine einzelne organische Entität interagieren bzw. als ein Mikrokosmos im Bezug zu einem größeren Makrokosmos stehen.
Swedenborgs Anschauungen sind bereits isoliert betrachtet von allerhöchstem Interesse. Das vorliegende Buch befasst sich jedoch mehr mit dem Einfluss dieser Ideen und wie sie sich über die Welt und die Jahrhunderte ausdehnten. Dabei ist der Blick von Swedenborgs Zeit ausgehend in die Zukunft gerichtet, um ihren Einfluss auf die Schöpfung und Entwicklung eines neuen Ansatzes der Medizin zu erfassen, zu dem es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam, nämlich auf die Osteopathie. Des Weiteren wird die fortdauernde Präsenz der Gedanken Swedenborgs in Nordamerika während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargelegt; denn sie beeinflussten auch weiter jene osteopathische Profession, die heute rund um die Welt verbreitet ist.7* Das Buch legt seinen Schwerpunkt dabei auf den Einfluss der Ideen Swedenborgs auf A. T. Still, den Entdecker der Osteopathie, und einen seiner Studenten, W. G. Sutherland. Letzterer entwickelte Stills Konzepte weiter zur ‚Osteopathie im kranialen Bereich’. Das Buch wird außerdem einige andere Beziehungen zwischen Swedenborg und der Osteopathie berühren.
Was sie hier finden, ist eine Geschichte von Geschichten. Anschauungen sind wichtig, aber wenn sie nicht Teil von etwas Größerem werden, haben sie wenig Bedeutung. Je mehr wir über eine Person wissen, die großartige Ideen hat und bedeutende Taten vollbringt, indem sie etwa ein neues Paradigma und System wie die Osteopathie entwickelt, einen neuen Weg verfolgt und diesen in Form der Kranialen Osteopathie ausdehnt, desto besser können wir verstehen, woher diese Ideen kommen und wohin sie führen können.
Indem wir Still in seiner Zeit, in der Gegend, in der er lebte, und in seiner intellektuellen Umgebung zu verstehen versuchen, können wir die Wurzeln der Osteopathie besser verstehen. Und um Stills Geschichte besser zu verstehen, müssen wir wiederum die Anschauungen derjenigen verstehen, die ihm vorausgingen und ihn beeinflussten und von denen nicht wenige auf unterschiedlichste Art und Weise mit Swedenborgs Ideen in Kontakt gekommen waren.
Dabei handelt es sich um Geschichten von Menschen, die besondere Anschauungen entwickelten und deren Ideen durch verschiedene Gegenden und Zeiten flossen, bis sie schließlich einen beachtlichen Einfluss auf die Osteopathie ausübten. Dies alles geschah nicht in einem Vakuum: Es ereignete sich im Kontext von Menschen. Somit bietet dieses Buch auch eine Geschichte der Ideen Swedenborgs und der Menschen, die sie erfassten. Und wie diese sich von Europa aus über den Atlantischen Ozean nach Nordamerika bewegten und weitreichende Wirkungen hatten, indem sie durch verschiedene Personen in Teilen oder als Ganze weiter vermittelt wurden, darunter etwa die Neue Kirche8* Swedenborgs, Ralph Waldo Emerson und die Transzendentalisten, Davis und die spiritistische Bewegung sowie die Neugeist-Bewegung und die Theosophie. Es ist sicher nicht verkehrt, in diesem Zusammenhang auch zu erwähnen, dass Swedenborg für viele Menschen recht Verschiedenes bedeutete.
Das vorliegende Buch will also belegen, wie Stills intellektuelle, spirituelle und kulturelle Umwelt von Swedenborgs Ideen durchtränkt war, wobei manche beachtlich modifiziert wurden, während andere authentisch im Sinne Swedenborgs blieben. Weiter wird es zeigen, wie diese Anschauungen einen beachtlichen Einfluss auf Still im 19. Jahrhundert hatten und in Resonanz mit seinen Ideen standen, während er seine neue Wissenschaft der Osteopathie schuf und entwickelte. Zu belegen ist außerdem der unmittelbare und tief greifende Einfluss von Swedenborgs Ideen, insbesondere seines Paradigmas der Interaktion von Gehirn und Körper, auf Sutherland, als dieser die Kraniale Osteopathie entwickelte.
Dadurch mag der Eindruck entstehen, als wäre die Osteopathie über ein Jahrhundert hinweg kontinuierlich mit der Verarbeitung von Swedenborgs Anschauungen beschäftigt gewesen, manchmal stärker, manchmal schwächer, doch jedenfalls in beeindruckender Kontinuität. In diesem Kontext werden die historischen und philosophischen Verbindungen zwischen all jenen Personen erforscht, welche die Anschauungen Swedenborgs und der Osteopathie direkt oder indirekt vermitteln. Das gilt nicht nur für Still und Sutherland, sondern auch für Ärzte wie J. M. Littlejohn, Beryl Arbuckle, Isabell Biddle, William L. Grubb und Robert C. Fulford. Im Anhang finden Sie eine Zeittafel, die Sie durch die verschiedenen und sich überschneidenden Ereignisse der vorgestellten Geschichten führen soll.
2. DIE BIOGRAFIE SWEDENBORGS
ÜBERBLICK
Emanuel Swedenborg (1688 – 1772) war ein schwedischer Wissenschaftler und Philosoph aus dem 18. Jahrhundert, der sich später zu einem Theologen entwickelte. Er führte ein langes und produktives Leben, wobei er zwischen seinem 12. und 84. Lebensjahr diverse Schriften veröffentlichte. Dabei verfasste er über 40.000 Seiten zu einer Reihe von Themen, welche Naturwissenschaften wie Physik und Anatomie, aber auch Religion, Kosmologie und Theologie umfassten.1
Swedenborg besaß zu seiner Zeit einen bedeutenden Einfluss auf andere europäische Intellektuelle. Nach seinem Tod gelangten seine Anschauungen über den Atlantik und wurden hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großen Einfluss in Nordamerika.2
Heute erinnert man sich an Swedenborg überwiegend wegen seiner theologischen Schriften. Jedoch waren einige seiner Schriften vor der theologischen Phase ihrer Zeit weit voraus und enthielten daher auch Konzepte, die von der Wissenschaftsgesellschaft über Jahrhunderte nicht anerkannt wurden. Seine wissenschaftlichen und philosophischen Schriften, insbesondere seine Werke, welche die Anatomie und Physiologie betrafen, umfassten ebenfalls Überlegungen, die später grundlegend für seine Entwicklung einer umfassenden organischen Theologie werden sollten.3
Swedenborg verfasste die große Mehrheit seiner Werke in lateinischer Sprache, der Wissenschaftssprache jener Zeit. Sie wurden seitdem in Englisch und viele andere Sprachen übersetzt. Manche englische Übersetzungen sind auch heute noch verfügbar und werden weiter mit Interesse gelesen. Andere Übersetzungen (insbesondere seine wissenschaftlichen Werke) sind inzwischen über 100 Jahre alt und klingen für den modernen Leser eher formal oder latinisiert.
DAS FRÜHE LEBEN
Emanuel Swedenborg kam als Emanuel Swedberg als drittes von neun Kindern Jesper und Sarah (Behm-)Swedbergs am 29. Januar 1688 in Stockholm zur Welt. Sowohl die Swedbergs als auch die Behms hatten Verbindungen zum wichtigen schwedischen Bergbau. Drei seiner Geschwister starben, während er noch jung war, und ließen ihn als ältesten Sohn mit einer älteren Schwester, Anna (die zwei Jahre älter war), und den jüngeren Geschwistern zurück. Er war mit Anna und einer weiteren, jüngeren Schwester, Hedwig, besonders vertraut. Beide boten ihm in unterschiedlichen Lebensphasen ein Zuhause.4
Emanuels Vater Jesper Swedberg (1653 – 1735) war ein bekannter und leidenschaftlicher lutherischer Pfarrer, der zur Zeit von Emanuels Geburt als Hofkaplan diente. 1719 wurde Jespers Familie von Königin Ulrika Eleonora geadelt und erhielt den Namen Swedenborg. Seit dieser Zeit hieß Emanuel und gilt er der Geschichte als Swedenborg. Jesper Swedberg gab seinen meisten Kindern biblische Namen, um sie an ihre Pflicht vor Gott und der Kirche zu erinnern. Jesper schrieb:
„Der Name meines Sohns Emanuel bedeutet ‚Gott mit uns‘; sodass er sich stets der Gegenwart Gottes und der engen, heiligen und geheimnisvollen Verbindung mit unserem guten und gnädigen Gott erinnert, in die wir durch den Glauben gebracht worden sind, durch welchen wir mit Ihm verbunden und in Ihm sind.” 5
Jesper Swedberg war für seine Frömmigkeit bekannt – wegen seines Glaubens und der beispielhaften Darstellung des Glaubens im Leben. Er beklagte den wahrgenommenen moralischen Verfall seiner Zeit und er scheute sich nicht, andere zu kritisieren und denjenigen auf die Füße zu treten, die vor allem daran glaubten, dass Frömmigkeit in der Beachtung frommer Zeremonien bestehe. König Karl XI. war der erste, der den enthusiastischen Pfarrer während seiner Zeit als Militärkaplan bei der königlichen Reiterwache bemerkte. Er begann Swedberg zu bewundern, beförderte ihn auf Positionen mit Autorität und pflegte bei ihm Rat zu suchen.6
Als Emanuel vier Jahre alt war, berief König Karl XI. den energischen Jesper als Professor für Theologie an die Universität Uppsala. Bald danach wurde er zudem zum Rektor der Kathedrale von Uppsala ernannt, wobei er „[…] Leben und Schwung in die theologische Fakultät brachte.” Dabei handelte es sich um eine sensible Position, denn zu jener Zeit kursierten zahlreiche theologische Debatten und neue Ideen, die innerhalb der lutherischen Kirche und auch an der Fakultät von Uppsala intensiv diskutiert wurden.7
Zu jener Zeit gab es zwei konkurrierende Strömungen religiösen und philosophischen enkens in Uppsala. Die erste war eine Art Scholastik9* und gründete die gesamte Autorität der Kirche und der von der Kirche akzeptierten Lehren auf Aristoteles und seine Kommentatoren. Jesper Swedberg und die lutherische Orthodoxie erkannten im Blick auf Studium und Religion die Kirche als die letzte Autorität in allen Fragen und Problemen an. Die Integration der aristotelischen Anschauungen in die Kirchenlehre sollte ein richtiges und angemessenes Maß an weltlicher Wissenschaft bieten, um den menschlichen Verstand zu üben. Die Anhänger der Scholastik glaubten dementsprechend, dass sämtliche philosophische Probleme durch Bezug auf die Schrift, durch kultiviertes Studium von Büchern und das Heranziehen von Autoritäten gelöst werden könnten.8
Die zweite Denkströmung stand dazu in Opposition. Dieser Antischolastizismus wurde populär durch den berühmten Wissenschaftler und Philosophen René Descartes. Er lehrte, dass die beste Weise, das Unbekannte zu erkennen, in der Aufstellung eigener Deduktionen10* und der Ausbildung unabhängiger Schlussfolgerungen bestehe. Descartes suchte die Natur betreffende Wahrheiten durch wissenschaftliches Studium zu ergründen. Ebenso war er davon überzeugt, dass Intuition eine Rolle in diesem Prozess spiele, wobei er meinte, dass sie aus dem Licht der Vernunft entstehe. Demgegenüber betrachtete er die Kirche nicht als Autorität und hatte auch keine Probleme damit, orthodoxe Anschauungen herauszufordern.
Descartes reiste auf Einladung von Königin Christine 1610 nach Schweden, da sie mehr über seine Ideen erfahren wollte. Bedauerlicherweise starb Descartes nur wenige Monate später an einer Lungenentzündung. Doch seine Ansichten hatten einen Feuersturm von Ideen und Erörterungen ausgelöst, der ein Jahrhundert lang über Schwedens akademische Welt hinweg fegte. Descartes’ Philosophie hatte „[…] eine Fackel der Freiheit des Denkens an der Universität Uppsala angezündet.”9
Eine große Kontroverse in Hinblick auf diese beiden konkurrierenden Schulen entbrannte zwischen der theologischen und der philosophischen Fakultät der Universität Uppsala. Diese wurde schließlich durch das Dekret König Karls XI. besänftigt:
„Die Lehren des christlichen Glaubens dürfen nicht der philosophischen Kritik unterworfen werden. Doch ansonsten ist die Philosophie in Praxis und Erörterung frei.”
Ende des 17. Jahrhunderts existierte daher ein bedeutendes Maß an Freiheit des Denkens in Schweden, welche freie wissenschaftliche Forschung erst ermöglichte. Dennoch behielt die Kirche weiterhin großen Einfluss.10
Jesper Swedberg war ein sehr populärer Lehrer während seiner zehnjährigen Dienstzeit in Uppsala, das zur damaligen Zeit als Epizentrum des fortgeschrittenen Forschens in Schweden galt. Der junge Emanuel wuchs demnach inmitten häufiger akademischer und theologischer Erörterungen auf, zu denen auch das Dilemma des scholastischen und wissenschaftlichen Zugangs zur Wahrheit und weitere Themen gehörten. Man kann also sicher davon ausgehen, dass der junge Emanuel in einem sehr religiösen, aber zugleich akademischen Haushalt aufwuchs.11
Als Emanuel 1696 acht Jahre alt war, starb seine Mutter. Ein Jahr darauf heiratete sein Vater Sara Bergia, deren Familie ebenfalls über Verbindungen zum schwedischen Bergbau verfügte. Emanuel lebte bis 1703 bei seinem Vater und seiner Stiefmutter, jenem Jahr, in dem sein Vater zum Bischof von Skara ernannt wurde. Mit diesem Ereignis zogen Vater und Stiefmutter nach Brunsbo und ließen den 15-jährigen Emanuel bei seiner älteren Schwester Anna und deren Ehemann Erik Benzelius. Benzelius war Theologieprofessor in Uppsala, später Erzbischof von Uppsala und dazu ein führender Wissenschaftler Schwedens. Als flammender Cartesianer war er ein starker Befürworter des wissenschaftlichen Zugangs zur Welt und der intellektuellen Freiheit. Er führte Korrespondenzen mit den prominentesten Menschen seiner Zeit und war in Kontakt mit den bedeutenden Zentren fortgeschrittener Forschung in Europa, wie etwa der Royal Society in London. Benzelius ermutigte Emanuel bei seinen wissenschaftlichen Studien. Emanuel war sehr vertraut mit Anna und Erik, zeitweise betrachtete er Erik sogar als Vaterfigur, obwohl er weiter gute Beziehungen zu seinem Vater und seiner Stiefmutter pflegte.12
SWEDENBORGS BILDUNG
Swedenborg erhielt seine frühe Bildung durch einen Privatlehrer, seinen Cousin Johan Moreus, der ihn auf die Universität vorbereitete. Moreus hatte Interesse an Medizin und erwarb später einen medizinischen Titel in Frankreich. Emanuel hatte ebenfalls Kontakt zu Wissenschaftlern, die seinen Vater besuchten, wie etwa Olof Rudbeck, Professor für Medizin und Botanik in Uppsala. Rudbeck war ein Freund der Familie und hatte dadurch bedeutenden Einfluss auf Emanuel. Er weckte bei seinen berühmtesten Studenten – Swedenborg und Linné – ein tiefes Interesse für Anatomie und Botanik.13