Die Aussenseiter und die Rache des Poltergeists

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Ich war noch nicht richtig bei den beiden angekommen, da legte Jo auch schon los. Kleine weiße Atemwölkchen entwichen seinem Mund, während er hastig redete, wie immer, wenn er aufgeregt war: »Du hattest recht, Vulkanchen. Mr „ich will nicht zum Kreis der populären Schüler gehören, tue aber was ich kann, um aufzufallen“ hat heute Nachmittag schon etwas Besseres vor, als mit uns Dämonen aufzuspüren!«
»Also erstens habe ich nicht gesagt, dass Noah vielleicht etwas Besseres, sondern, dass er vielleicht etwas Anderes vorhat«, stellte ich ruhig klar, grub meine kalten Hände tiefer in die Taschen meiner Winterjacke und fuhr fort: »Und zweitens hat er mir das bereits gestern am Telefon gesagt. Wenn wir mal davon ausgehen, dass ich im Tennisteam aufgenommen werde, was mehr als wahrscheinlich ist, und du bis Mitte des nächsten Jahres zweimal wöchentlich bei Mathilde Bücher sortierst, dann ist die Frage nicht, wer was macht, sondern wie wir es hinkriegen, dass wir alle unsere Aktivitäten auf die gleichen Tage legen, damit wir genug Zeit für den Rest haben!«
Jo sah mich einen Augenblick an und sagte dann griesgrämig: »Super, ihr amüsiert euch und ich langweile mich bei Mathilde zu Tode.«
»Ach komm, Jo. Ich werde mich bestimmt großartig mit Sylvia und dem Dreigestirn amüsieren und überhaupt sprechen wir hier von Mathilde. Ich glaube nicht, dass du dazu kommst, dich zu langweilen! Wenn du zum Ordnen und Katalogisieren zu ihr bestellt wurdest, dann wird sie darauf achten, dass du dies auch tust. Wahrscheinlich in der Sektion, die Informationen enthält, die wir in naher Zukunft brauchen. Außerdem kribbelt es dir doch schon in den Fingern, wenn du an all die Bücher denkst, die du lesen kannst, während du im Laden bist!« Ich grinste ihn an und warf einen schnellen Blick zu Noah, der mir lächelnd zunickte. Ohne seine Eingebung gestern am Telefon hätte ich nicht so gut auf Jos Schmollen reagieren können.
Jo versuchte verzweifelt, seine finstere Miene beizubehalten, doch dann verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln.
»OK«, sagte er, »solange wir uns überhaupt noch sehen.«
»Selbstverständlich!« Noah knuffte ihn leicht. »Ich ziehe nicht auf den Mars, sondern spiele Fußball. Und unsere Freundschaft bedeutet mir viel zu viel, um sie zu zerstören.«
»Mir auch.« Jo sah Noah an und fügte grinsend hinzu: »Einer von uns muss ja als Dämonenfutter fungieren, während Christina und ich die Welt retten.«
»Das nächste Mal lässt du dich vom Dämon beißen und knallst anschließend gegen den Grabstein«, sagte Noah entschieden. »Dein Schädel ist dicker als meiner!«
»Falls wir für das nächste Mal gewappnet sein wollen, sollten wir uns jetzt auf den Weg machen. Es klingelt schon wieder und wenn wir Nachsitzen müssen, reagieren unsere Eltern bestimmt nicht geschmeidig«, mischte ich mich ein und hob Jos Rucksack vom Boden auf, damit dieser die Hände frei hatte und mit Hilfe beider Krücken aufstehen konnte.
»Howgh, die Wächterin hat gesprochen«, sagte er und erhob sich ächzend. »Es wird Zeit, dass wieder was passiert, ich bin total eingerostet«, stellte er fest und setzte sich in Bewegung.
Als wir das Klassenzimmer betraten, wusste ich sofort, dass etwas geschehen war. Die Stimmung im Raum war anders und es herrschte ein höherer Lärmpegel als sonst. Während ich mich setzte und die Tasche über meine Stuhllehne hängte, sah ich mich um und mein Blick blieb an dem leeren Platz schräg vor mir hängen. Sylvia von Kastanienburg fehlte. Ich sah hinüber zu ihrem Hofstaat. Ramona, Michelle und Janine hatten wie gewöhnlich die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten, trotzdem wirkten sie ohne Sylvia irgendwie verlassen. Wie hatte Jo sie genannt? Planeten, die um eine Sonne kreisen, die sich Sylvia nennt? Nun fehlte die Sonne plötzlich, was die Schwerkraft der drei ziemlich durcheinanderzubringen schien. Mit einem Mal wirkten sie wesentlich weniger einschüchternd.
»Irgendwie komisch, die drei so zu sehen, was?«, fragte Jo. »Sie kommen einem fast hilflos vor. Man könnte glatt Mitleid mit ihnen haben.«
Ich lächelte schief. »Wir sollten herausfinden, was mit Sylvia geschehen ist. Die Wächterin liegt auf der Lauer!«
Jo sah mich überrascht an, dann beugte er sich vor und rief den dreien zu: »Hey, Dreigestirn, was ist mit eurer Sonne los? Ist sie vom Himmel gefallen und verglüht, oder hat sie etwa eine Grippe, wie sie der Rest von uns Untermenschen ab und zu bekommt?«
»Keine Ahnung wie das heißt, was du ab und zu bekommst, und noch weniger das, was du ständig hast, aber bevor du über andere herziehst, solltest du über die Fakten informiert sein!« Ramona fauchte es fast, während sie sich zu uns umdrehte.
»Hört, hört«, sagte Jo, »das ist ja mal was ganz Neues!« Dann fügte er mit einer angedeuteten Verbeugung in Ramonas Richtung hinzu: »Erleuchte mich, was ist geschehen? Hat sich ihre Hoheit einen Nagel abgebrochen, als sie versucht hat, sich die Schuhe alleine zuzubinden?«
Aus dem hinteren Teil des Klassenzimmers ertönte ein Kichern. Mein Blick huschte in die Richtung, aus der es gekommen war, und blieb an einem aschblonden Mädchen hängen, das mir verschwörerisch zuzwinkerte. Sie war mir bisher kaum aufgefallen, ich erinnerte mich nicht einmal an ihren Namen. Das war es, was anders war! Die Schüler, die sich ansonsten unsichtbar machten, um nicht die Aufmerksamkeit von Sylvias spitzer Zunge auf sich zu lenken, beteiligten sich heute am allgemeinen Getuschel. Sylvias Abwesenheit machte sie mutig.
»Sehr witzig, Hinkebein!«, sagte Ramona und ich wandte mich wieder zu Jo und dem Dreigestirn. »Wenn du es genau wissen willst«, erklärte Ramona von oben herab, »Sylvia ist im Krankenhaus. Sie ist gestern Abend die Treppe hinuntergestürzt und hat sich dabei das Bein gleich mehrfach gebrochen. Der Bruch ist so kompliziert, dass mein Vater sie gestern Nacht noch operiert hat. Aber mach ruhig weiter deine Witze.« Beim letzten Satz bebte ihre Stimme vor Empörung.
Jo nickte ernst. »Ich verspreche, ich tue mein Möglichstes, um meinen Humor nicht zu verlieren. Und glaube mir, das ist nicht einfach mit Klassenkameraden wie euch.«
»In welchem Krankenhaus liegt sie denn?«, erkundigte ich mich und wurde rot.
Es war Michelle, die an Ramonas Stelle antwortete: »Das geht dich gar nichts an, Brillenschlange! Du bist die Letzte, die Sylvia sehen will. Sie würde eher sterben, als sich mit jemandem wie dir abzugeben. Du bist so was von unter ihrem Niveau!«
Ich spürte, wie die Wächterin in mir vor Wut kochte.
>Wenn du jetzt nichts sagst, dann kannst du das nächste dunkle Wesen ohne meine Hilfe erledigen<, schimpfte sie, doch obwohl sie recht hatte, konnte ich nicht aus meiner Haut.
Ich tat so, als würde ich etwas aus meiner Tasche nehmen, und überlegte mir eine Erwiderung, von der ich wusste, dass ich sie nie aussprechen würde. Wenig später ging die Tür auf und Herr Dr. Katzhausen, unser Klassenlehrer, betrat den Raum. Er stellte seine Tasche in den Unterschrank des Lehrerpults und zog das Klassenbuch zu sich herüber. Bevor er wie gewohnt unsere Namen aufrief, hielt er jedoch inne, sah uns ernst an und sagte: »Ehe wir beginnen möchte ich euch noch etwas mitteilen. Wie ihr wahrscheinlich schon wisst, hatte Sylvia einen schweren Unfall. Sie liegt im Waldkrankenhaus und Herr von Kastanienburg bat mich, euch auszurichten, dass sie ab übermorgen Besuch empfangen darf und sich freut, euch zu sehen. Sie liegt auf Station C in Zimmer 102.«
Ich schenkte Michelle, die mir einen Blick über die Schulter zuwarf, ein aufmüpfiges Lächeln, das mir allerdings fast gefror, als ich den Ausdruck sah, der daraufhin über ihr Gesicht glitt. Ich fragte mich unbehaglich, ob ich das irgendwann bereuen würde.
>Du bist ein hoffnungsloser Fall<, sagte die Wächterin. Ihre Stimme klang resigniert.
Jo rückte ein Stückchen näher zu mir und murmelte: »Also entweder ist Herr von Kastanienburg unglaublich naiv, oder er kennt sein Töchterchen überhaupt nicht. Er denkt doch wohl nicht wirklich, dass Sylvia vor Freude jubiliert, wenn wir sie besuchen, oder?« Er warf mir einen Blick zu und stöhnte. »Aber genau das werden wir tun, richtig?«
Ich nickte.
»Mir fällt da noch was ein«, sagte Herr Dr. Katzhausen und sah mich an: »Sylvia wird nun für eine ganze Weile ausfallen, daher braucht unsere Tennisschulmannschaft dringend Verstärkung. Wie sieht es aus, Christina? Es ist immer gut, eine Bezirksmeisterin in der Mannschaft zu haben, aber jetzt wäre es besonders wichtig.«
Mein Gesicht, das gerade erst seine normale Farbe zurückgewonnen hatte, begann erneut zu glühen und ich murmelte etwas Unverständliches.
»Überlege es dir«, meinte Herr Dr. Katzhausen freundlich und wandte sich endgültig dem Klassenbuch zu.
Ich betrachtete angestrengt, wie er es aufschlug und etwas eintrug, dann gab ich auf. Ich schaute hinüber zu Jo, der mich mit verschränkten Armen ansah.
»Bezirksmeisterin«, formulierte er tonlos und zog die Augenbrauen hoch.
»Ja, OK, ich spiele gut«, flüsterte ich. »Mach einfach keine große Sache daraus!«
»Ich doch nicht«, entgegnete Jo ebenso leise. »Aber ich befürchte, bei unseren sonnenlosen Planeten hat diese Nachricht gerade ein Erdbeben ausgelöst und ihr Weltbild arg ins Wanken gebracht.«
Ich sah hinüber zu Sylvias Fan Club. Jo hatte Recht. Ramona, Michelle und Janine starrten mit offenem Mund zu mir herüber und sahen schnell nach vorne, als sie bemerkten, dass ich sie ertappt hatte.
»So viel dazu, dass nur populäre Menschen fähig sind, Tennis zu spielen«, sagte Jo wesentlich lauter, als mir lieb war. Doch Dr. Katzhausen beschloss, den Einwurf nicht zu kommentieren, und auch Ramona, Michelle und Janine ignorierten ihn.
Nach Schulschluss standen Jo, Noah und ich vor der Schule und warteten auf Frau Dräxler, die sich erstaunlicherweise verspätete. Ich hibbelte herum und stampfte mit den Füßen, denn mir war kalt und obwohl mir klar war, dass es albern aussah, ruderte ich auch noch mit den Armen.
»Du tust gerade so, als wäre eine neue Eiszeit ausgebrochen«, sagte Jo kopfschüttelnd.
Während er zu Hause essen würde, wollten Noah und ich in ein neu eröffnetes Café, das sich nur eine Querstraße von der Schule entfernt befand. Wir hatten gehört, dass dort nicht nur die typischen Snacks, sondern auch Hausmannskost zum kleinen Preis angeboten wurde, was nach einer echten Alternative zur Schulkantine klang. Wer auch immer das Café eröffnet hatte, wusste, dass unzählige Schüler das Essen in der Schulkantine nicht mehr sehen konnten, und hatte dementsprechend reagiert. Gerade, als Frau Dräxlers Auto vorfuhr, erklang hinter uns die Stimme von Michel Petersen: »Wir haben dich scheinbar unterschätzt, Brillenschlange, obwohl es mir im Moment schwerfällt, das zu glauben!«
Ich hörte auf, mit den Armen zu rudern, und drehte mich um. Noah und Jo stellten sich neben mich. Durch die Nachricht von Sylvias Unfall und vor lauter Freude über Jos Freiheit, hatten wir total vergessen, Michel und Klaus im Auge zu behalten. Jetzt war es zu spät für Fluchtpläne. Michel lehnte nur eine Armeslänge von mir entfernt am Zaun, der den Schulhof umgab. Sein Freund Klaus Müller stand einen Schritt hinter ihm. Klaus machte ein mürrisches Gesicht und schien Michel am Weitersprechen hindern zu wollen, doch dieser warf seinem Kumpel nur einen warnenden Blick zu, wandte sich dann wieder an mich und sagte: »Falls du dich entschließen solltest, für unsere Schule Tennis zu spielen, hast du Schonfrist bis zu den Schulmeisterschaften. Wenn wir die gewinnen, könnten wir uns dazu durchringen, dich von unserer Liste zu streichen. Falls nicht …« Er ballte seine Fäuste.
»Das gilt übrigens nicht für den Ausländer und das Badekappenkind da neben dir«, sagte Klaus, bevor Michel fortfahren konnte.
»Was gilt nicht für wen?«, erkundigte sich Frau Dräxler, die plötzlich hinter uns stand.
Wir hatten sie nicht bemerkt, weil unsere ganze Aufmerksamkeit Michel und Klaus galt, bei denen man nie wusste, was sie als Nächstes tun würden.
»Was sag ich?«, sagte Klaus zu Michel und dieser brach in spöttisches Gelächter aus. Dann gingen beide ihres Weges, nicht ohne vorher noch Noah kräftig anzurempeln.
»Entweder alle oder kein Deal«, rief ich Michel und Klaus hinterher, wartete aber ihre Reaktion nicht ab, sondern wandte mich zu Frau Dräxler und Jo.
Frau Dräxler sah fragend in die Runde, doch keiner von uns hatte vor, sie aufzuklären.
»Dir ist klar, dass du meinen sozialen Status ruinierst, oder?«, erkundigte sich Jo stattdessen missmutig bei ihr.
»Du wirst es überleben«, erwiderte Frau Dräxler, aber es klang nachdenklich. »Und ihr zwei, fahrt ihr auch nach Hause? Soll ich euch mitnehmen?«, wandte sie sich Noah und mich.
Noah warf mir einen überraschten Blick zu, dann schüttelten wir die Köpfe.
»Danke, aber wir wollen ein neu eröffnetes Café ausprobieren. Es ist hier ganz in der Nähe. Ich habe heute Nachmittag Fußballtraining und schaffe es nicht, zwischendurch nach Hause zu fahren«, sagte Noah höflich.
»Ich werde ihn begleiten, denn meine Mutter ist mit der Vorbereitung der Ausstellung im Museum ausgelastet und kocht erst heute Abend«, fügte ich hinzu.
»Falls dir mein Sozialleben doch irgendetwas bedeuten sollte, könntest du darüber nachdenken, mich an den Tagen, an denen ich keinen Strafdienst schieben muss, auch dort essen zu lassen«, sagte Jo.
»Übertreibe es nicht!«, warnte seine Mutter. »Sei froh und glücklich, dass du wieder vor die Tür darfst! Und jetzt beeile dich bitte. Ich möchte nicht, dass du nachher zu spät kommst.«
Jo warf uns einen letzten, vielsagenden Blick zu und folgte dann seiner Mutter zum Auto.
Kapitel 3• Café "La Cuisine"
Noah und ich machten uns auf den Weg und hatten das neue Café schnell erreicht. Es war in einem Eckladen im Erdgeschoss eines Mietshauses untergebracht und im Stil alter französischer Straßencafés aufgemacht. Die uns zugewandte Front des Cafés war in gedecktem lindgrün gestrichen und dort, wo sich die Fenster befanden, war die Mauer zurückversetzt, so dass sie eine Nische bildete, in der eine Holzbank mit weinroten Kissen stand. Vor der Bank befanden sich drei runde, weiße Eisentische mit verschnörkelten Füßen und darum verteilt standen Eisenstühle im gleichen Stil, mit gleichfarbigen Kissen bestückt. Ich fragte mich, wer sich bei dieser Eiseskälte nach draußen setzen sollte, musste aber zugeben, dass die Dekoration super aussah. Die Fenster des Cafés waren umgeben von lindgrünen Holzrahmen. Der Eingang befand sich genau an der Ecke des Hauses. Auf die Wände rechts und links davon waren Frauen im Jugendstil gemalt worden. Sie erinnerten mich an Feen. Über dem Café, direkt unterhalb des ersten Stockwerks, befand sich sowohl zur optischen Trennung als auch zum Schutz vor Regen, ein schmales Glasdach mit unzähligen grünen Streben, das mich an Libellenflügel erinnerte. Direkt unter dem Glasdach, auf einem schwarzen Schild mit verschnörkeltem Rahmen, stand in geschwungener Schrift: "La Cuisine". Noah und ich näherten uns einem altmodischen Holzkasten, der neben der Bank an der Wand hing und in dem sich die Speisekarte befand. Das Angebot war reichhaltig und günstig. Ich wollte gerade zur Eingangstür gehen, als Noah mich zurückhielt und nach oben wies.
»Guck mal«, sagte er.
Ich folgte seinem Finger mit dem Blick. Unterhalb des Daches, auf einem schmalen schwarz gestrichenen Wasserrohr, hockte einer von diesen hässlichen Wasserspeiern, die man sonst nur an den Außenwänden von Kirchen fand. Er war nicht sehr groß, ebenfalls schwarz und schien mit angelegten Flügeln und verzerrter Fratze auf etwas zu lauern. Obwohl er kaum auffiel oder vielleicht gerade deshalb, fand ich, dass er überhaupt nicht dorthin passte. Wenn man sich schon so ein Ding unter das Dach packte, warum tarnte man es dann? Manche Menschen hatten merkwürdige Ideen, aber der Rest des Cafés war zumindest von außen traumhaft.
»Ich finde, der Wasserspeier passt da überhaupt nicht hin.«
Noah nickte. »Sehe ich genauso. Lass uns schauen, wie es innen aussieht.« Er ging zum Eingang.
Als wir in die Wärme des Cafés traten, beschlug meine Brille und ich musste sie erst putzen, bevor ich irgendetwas erkennen konnte. Mit rotem Gesicht setzte ich sie wieder auf und sah mich um. An den Seitenwänden befanden sich Nischen mit Tischen und Bänken, die durch Glaseinsätze im Jugendstil voneinander getrennt waren und in der Mitte des Raums standen mehrere Tische und Stühle, an denen fast ausschließlich kichernde und flüsternde Mädchen aller Altersstufen saßen. Ich warf Noah einen überraschten Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. Ich ließ meinen Blick weiterwandern und er blieb an einem altmodischen Glastresen hängen, der sich gegenüber dem Eingang befand. Belegte Brötchen, Kuchen und andere Gebäckstücke lagen darin. Ein Teil der Wand hinter dem Tresen war für eine Durchreiche geöffnet worden und man konnte einen Koch im Raum dahinter werkeln sehen. Ein junger Mann mit blondem Zopf, der mit dem Rücken zu mir stand, nahm gerade zwei Teller mit dampfendem Essen von einer Frau mit Küchenschürze entgegen. Als er sich umdrehte, klappte mir der Mund auf. Ich hatte noch nie einen so gut aussehenden Jungen gesehen. Er war etwa sechzehn Jahre alt und sein Gesicht war … ich suchte nach Worten. Mir fiel nur eins ein: Perfekt. Während ich dastand und ihn anstarrte, sah er hoch und zu mir herüber. Unsere Blicke trafen sich und ich wurde rot, weil er mich beim Starren erwischt hatte. Schnell folgte ich Noah, der den letzten freien Tisch in der Mitte des Raumes ansteuerte und sich setzte, bevor es ein Mädchen tun konnte, das diesen auch angepeilt hatte.
»Sorry, diesmal war ich schneller«, sagte Noah und schenkte ihr ein Lächeln, welches sie normalerweise hätte dahin schmelzen lassen, aber im Schatten des Jungen hinter dem Tresen eher lau wirkte.
Das Mädchen zog eine Grimasse und verschwand zwischen den Tischen, um sich dann in eine der noch freien Nischen zu setzen. Ich ließ mich auf den Stuhl neben Noah fallen. »Jetzt weiß ich, warum hier fast alle weiblich sind und in der Mitte des Raumes sitzen wollen. Guck mal unauffällig zum Tresen.«
Noah sah in die angegebene Richtung und dann zurück zu mir.
»Ja, ich schätze, das erklärt es«, sagte er trocken. »Willst du zuerst bestellen? Hier ist Selbstbedienung.«
Er reichte mir eine Karte, auf der sich, vorne und hinten, die gleichen Jugendstilbilder befanden wie neben der Eingangstür. Auf der Vorderseite stand unter dem Bild: Speisekarte – bitte am Tresen bestellen und abholen.
Ich schüttelte den Kopf. »Von mir aus kannst du zuerst gehen. Ich weiß noch nicht, was ich essen will, und du musst ja gleich wieder los.« Ich schlug die Karte auf.
Noah nickte, erhob sich und ging zum Tresen. Ich folgte ihm mit dem Blick. Er sagte etwas zu dem perfekten Jungen und zeigte kurz in unsere Richtung. Der Junge sah zu mir herüber und wieder schaute er mich länger an als nötig. Was sollte das? Er war mindestens zwei Jahre älter als ich und ich nun wirklich nicht die Queen of Attraction. Und dann dämmerte es mir. Genau das war wohl der Grund. Ich fiel hier zwischen den ganzen herausgeputzten und aufgestylten Mädchen noch mehr auf als sonst. Ich zuckte mit den Schultern. Und wenn schon, das war ich schließlich gewohnt. Auf der Speisekarte stand unter anderem „Großmutters Linsensuppe“ und ich beschloss, mein Glück zu versuchen, auch wenn sie wahrscheinlich nur halb so gut war wie die meiner Großmutter.
Als Noah zurückkam, stand ich auf, doch Noah hielt mich zurück: »Du musst bei der Bestellung unsere Tischnummer angeben«, sagte er. »Wir haben Tisch Nummer fünf. Wenn das Essen fertig ist, leuchtet die Tischlampe zweimal auf und du kannst es abholen. Genial einfach, oder?«
Ich nickte und machte mich auf den Weg, um zu bestellen. Dabei quetschte ich mich zwischen zwei Stühlen hindurch und warf eine Jacke zu Boden. Ich hob sie auf und wunderte mich über das plötzliche Schweigen am Tisch. Erst als ich die Mädchen ansah, erkannte ich, dass es Ramona, Michelle und Janine waren.
»Was willst du denn hier?«, fragte Janine von oben herab und strich sich anmutig die Ponyfransen ihres kastanienbraunen Pagenschnittes zurück, der wie immer aussah, als käme sie direkt vom Friseur.
»Meinen Freischwimmer machen«, sagte ich, reichte ihr die Jacke und ging weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.
>Halla!<, entfuhr es der Wächterin begeistert.
Am Tresen erwartete mich Mr Perfect. Er war mehr als einen Kopf größer als ich und aus seinem kurzärmeligen, schwarzen T-Shirt schauten muskulöse Arme, die aber nicht die Ausmaße eines Bodybuilders hatten. Mit anderen Worten: Auch sein Körper war perfekt. Es war unfair. Der Junge sah mich abwartend an. Ich erwiderte den Blick und bemerkte, dass seine Augen grün waren. Meine Lieblingsaugenfarbe.
»Wenn du jetzt auch noch eine umwerfende Stimme hast, hasse ich dich!«, sagte ich, ohne nachzudenken.
Der Junge lachte laut auf. »Ich finde sie nicht umwerfend.«
»Ich hasse dich. Und ich hätte gerne Großmutters Linsensuppe!«
Der Junge grinste. »Ich könnte stottern, wenn es hilft«, schlug er vor.
»Zu spät«, sagte ich mürrisch.
»Und wenn ich mir Mühe gebe?«, erkundigte er sich und tippte etwas in die Kasse. Dabei konnte ich den Ansatz eines Tattoos entdecken, das ein Stückchen weit unter dem linken Ärmel herausschaute. Er sah hoch. »Ich werde nicht gerne gehasst!«
Zu meinem Erstaunen hörte ich mich sagen: »Ich denke, bei den vielen Mädchen, die dich anhimmeln, wirst du es überleben, wenn ich es nicht tue.« Die Gewissheit, dass ich viel zu unspektakulär für ihn war, schien meine Schüchternheit kurzfristig außer Gefecht gesetzt zu haben. Die Wächterin fand es klasse, ich konnte ihr breites Lächeln regelrecht spüren. »Soll ich gleich zahlen oder erst, wenn ich die Suppe abhole?«, erkundigte ich mich schnell und starrte angestrengt in mein Portemonnaie.
»Wenn du sie abholst.«
Ich blickte hoch und sah, dass er immer noch grinste. »Fein, dann gehe ich mal zu meinem Tisch zurück und warte auf das Blinken der Lampe.« Mir fiel etwas ein: »Ach ja, ich sitze an Tisch Nummer fünf.«
»Ich weiß«, sagte Mr Perfect. »Dein Freund war eben schon hier. Ich lasse euch wissen, wenn euer Essen fertig ist.«
Wow! Er war der Meinung, dass jemand wie ich mit jemandem wie Noah gehen könnte. Das war definitiv das Highlight des heutigen Tages. Ich hätte das so im Raum stehen lassen sollen, aber ich konnte nicht aus meiner Haut.
»Er ist nicht mein Freund, sondern ein Freund«, korrigierte ich und ging zurück zu Noah. Bereits am ersten Tisch, an dem ich vorbei musste, stolperte ich und fiel auf die Knie. Mit hochrotem Kopf und ohne mich umzusehen, stand ich auf und ging weiter, begleitet von dem hämischen Kichern der Mädchen, die meinen peinlichen Auftritt mitbekommen hatten.
>Und da schwand sie hin, die Hoffnung!<, sagte die Wächterin.
Ich entgegnete nichts, sondern knirschte nur mit den Zähnen.
Noah sah mir entgegen. »Ich hoffe, unser Essen ist gleich so weit, ich sterbe vor Hunger,« sagte er, ohne auf meinen Unfall einzugehen.
Wenig später leuchtete unsere Tischlampe auf.
»Du oder ich?«, erkundigte sich Noah.
»Beide«, schlug ich vor.
»Habe ich aus Versehen vier Mal gedrückt?«, fragte Mr Perfect, als wir angetrabt kamen. »Sorry, aber es ist nur der Hamburger fertig. Die Linsensuppe braucht noch ein paar Minuten.« Er reichte Noah den Teller, nahm das Geld entgegen und sagte zu mir, während er es in die Kasse legte: »Du kannst aber gerne hier warten. Dann habe ich Gelegenheit, ein bisschen Schönwetter zu machen.«
Noah sah mich fragend an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Er ist einfach zu perfekt, um ihn zu mögen.«
»Aha!«, machte Noah, »ich gehe dann schon mal.«
Sobald er verschwunden war, wandte sich der Junge wieder an mich. »Fangen wir doch mit etwas Einfachem an«, meinte er. »Wenn du mir deinen Namen sagst, sage ich dir meinen.«
»Es wird dir zwar nichts nützen, aber einverstanden. Ich heiße Christina.«
Der Junge betrachtete mich einen Moment aufmerksam und nickte. »Passt zu dir. Macht es dir was aus, wenn ich dich trotzdem Tina nenne? Ich fasse mich gerne kurz.« Bevor ich antworten konnte, sprach er bereits weiter: »Ich nenne mich X.«




