Die Aussenseiter und die Rache des Poltergeists

- -
- 100%
- +
>Und mit einem unglaublich gut aussehenden Typen geflirtet<, sagte die Wächterin und ich konnte sie regelrecht grinsen hören.
»Wohl kaum«, entgegnete ich wortlos, konnte es aber nicht verhindern, dass mir beim Gedanken an X warm wurde.
»Ich gehe davon aus, dass sie nur „Großmutters Linsensuppe“ hieß, aber nicht so lecker war, wie die deiner Oma«, sagte meine Mutter, die meinen inneren Austausch Gott sei Dank nicht mitbekommen hatte. Sie öffnete die Haustür und stieg die Treppen zu unserer Wohnung hinauf.
»Das Verrückte ist, dass sie nicht nur so hieß, sondern auch wirklich so schmeckte«, erwiderte ich, während ich ihr folgte. »Beim nächsten Familientreffen werde ich Oma damit aufziehen. Von wegen altes Familienrezept.«
Meine Mutter warf mir einen ungläubigen Blick zu. »Das kann ich kaum glauben.« Sie schloss die Wohnungstür auf.
Wie erwartet schoss Kleine ins Treppenhaus. So etwas machte sie nur, wenn meine Mutter und ich gleichzeitig ankamen. Ich vermutete, dass ihre Freude dann so überschäumend war, dass sie sich nicht entscheiden konnte, wen sie zuerst begrüßen sollte.
»Probiere die Suppe einfach irgendwann mal, dann weißt du, was ich meine«, schlug ich vor, während ich Kleine einfing und auf den Arm nahm. Sie schnurrte wie ein Rasenmäher.
»Das sollte ich wohl tun, denn ganz ehrlich, ich glaube es dir nicht.« Meine Mutter zog ihre Winterstiefel aus und öffnete den Schrank, um ihre Jacke reinzuhängen. Kleine erkannte die Chance, den Schal erneut zu attackieren, und sprang von meinem Arm, doch meine Mutter schloss den Schrank, kurz bevor die Katze ihn erreicht hatte. »Vergiss es«, sagte sie und tätschelte Kleine liebevoll den Kopf. Dann ging sie Richtung Küche. »Hast du nach der Suppe überhaupt noch Hunger?«, hörte ich sie fragen.
»Klar, es war ja nur ein Teller voll.« Ich hängte meine Jacke ebenfalls in den Schrank. Diesmal ohne Probleme, denn Kleine war meiner Mutter längst in die Küche gefolgt. Meine Boots stellte ich auf die Schuhbank unter der Heizung. Ich würde sie morgen eh wieder anziehen. Als ich in die Küche trat, saß Kleine neben der Kücheninsel und ließ meine Mutter nicht aus den Augen. Ich streichelte der Katze übers Köpfchen, gab ihr zu fressen und schaute meiner Mutter zu, die das Abendessen zubereitete.
»Ich habe kein Problem damit, dass du Jo im Buchladen hilfst«, sagte sie nach einer Weile und reichte mir Teller und Besteck. »Meine Bedingungen ändern sich dadurch aber nicht: Du spielst wieder Tennis und deine Hausaufgaben sind vor dem Abendbrot fertig.«
Ich nickte. »Das versteht sich von selbst!«
Als wir am nächsten Tag ins Klassenzimmer kamen, winkte mich Michel zu sich. Überrascht und auf der Hut näherte ich mich ihm.
»Wir akzeptieren«, sagte er ohne Einleitung. »Mit einer Kondition.« Seine Stimme wurde lauter. »Der Waffenstillstand für den Beckenrandschwimmer und den Hüftharry gilt nur bis zum Turnier. Wenn du gewinnst, bist du von der Liste, die beiden nicht.«
»Damit kann ich leben«, sagte Noah, bevor ich etwas erwidern konnte.
»Und ich bin eh nichts anderes gewohnt. Bis jetzt habe ich euch ja erfolgreich überlebt«, fügte Jo lässig hinzu. »Kein Grund zur Panik vorhanden.«
Dr. Katzhausens Eintreten enthob Michel einer Erwiderung. Bevor unser Klassenlehrer sich setzte, sah er mich fragend an. Ich wurde rot, holte aber tief Luft und sagte: »Am Montag mache ich die Aufnahmeprüfung für das Tennisteam.«
»Eine reine Formsache«, stellte Herr Dr. Katzhausen lächelnd fest und wandte sich dem Klassenbuch zu.
»Von wegen!«, murmelte Ramona und warf mir einen finsteren Blick zu.
Ich lächelte sie fröhlich an. Mir war klar, dass das Dreigestirn auch ohne Sylvia alles daran setzen würde, um zu verhindern, dass ich im Team aufgenommen wurde. Doch obwohl ich die Drei noch nicht hatte spielen sehen, war ich mir ziemlich sicher, dass sie chancenlos waren. Nach dem Unterricht holte Frau Dräxler Jo wie immer ab, um mit ihm zu Hause mittagzuessen, während Noah und ich uns auf den Weg zum "La Cuisine" machten.
»Wenn das Essen heute genauso gut ist wie gestern, hat der Laden gute Chancen unser Stammlokal zu werden, oder wie siehst du das?« Ich sah Noah an.
Er nickte. »Definitiv und es wird Zeit, dass Jo ihn kennenlernt.«
>Dass das "La Cuisine" zu eurem Stammlokal werden könnte, liegt natürlich nur am Essen. Is klar<, sagte die Wächterin und ich konnte sie förmlich grinsen hören.
Ich ignorierte sie, stellte aber zu meinem Unwillen fest, dass mein Herzschlag mit jedem Schritt, den wir uns dem Café näherten, schneller wurde. Als wir schließlich eintraten, sah ich, dass es bei Weitem nicht so voll war wie am Vortag. Mein Blick wanderte zum Verkaufstresen. Ein Mädchen stand dahinter und nahm die Bestellungen entgegen, von X war nichts zu sehen.
»Er hat wohl seinen freien Tag«, sagte Noah, der meinem Blick gefolgt sein musste.
»Das soll in den besten Familien vorkommen«, entgegnete ich.
>Schade!<, murmelte die Wächterin und insgeheim musste ich ihr recht geben.
Nach einem ebenso leckeren Mittagessen wie am Vortag machten wir uns auf den Weg zu Mathilde. Als wir in den Buchladen traten, saß sie wie gewohnt auf ihrem Platz am Empfangstresen und las. Jo stand in ihrer Nähe und las den Klappentext eines dicken Buches.
Er sah auf, als das Glöckchen bimmelte. »Da seid ihr ja.« Es klang vorwurfsvoll.
»Hallo, ihr zwei«, sagte Mathilde gut gelaunt und nahm die Schlüssel zum Raum der Bücher aus der Schublade. »Heute ist ja der ungeplante Tag, also fällt Bücher sortieren aus und ihr könnt gleich loslegen.«
»Hallo, Mathilde«, sagten wir im Chor und ich fügte hinzu: »Je nachdem wie schnell wir im Raum fertig werden, sollten wir danach vielleicht doch noch ein bisschen sortieren, denn wir müssen morgen Sylvia im Krankenhaus besuchen. Sie hatte einen Unfall und etwas sagt mir, dass sie nicht nur einfach gestolpert ist.«
Mathilde sah mich nachdenklich an. »Das Büchersortieren läuft euch ja nicht weg. Es gibt Dinge, die wichtiger sind. Was nicht heißt«, fügte sie mit einem strengen Blick auf Jo hinzu, »dass du jetzt überhaupt nicht mehr sortieren musst. Ich habe nicht vor, deine Mutter zu belügen!«
»Und ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Jo, strahlte sie an und stellte das Buch weg.
Mathilde lächelte und kam hinter dem Tresen hervor. »Dann los.« Sie machte sich auf den Weg zum Raum der Bücher und wir folgten ihr.
Diesmal war mir der Weg vertraut und plötzlich wusste ich, dass ich den Raum jetzt jederzeit wiederfinden würde, egal, wohin er sich das nächste Mal verkrümelte. Es war, als würde mich etwas am Bauchnabel in eine bestimmte Richtung ziehen.
>Erfreulich zu bemerken, dass deine Fähigkeiten doch ab und an zunehmen<, ließ sich die Wächterin vernehmen.
Als wir im Raum waren, suchten Jo und Noah die Zutaten zusammen, die ich für den Durchsichtigkeitstrank brauchte, während ich die Bewegung einstudierte, die ich mit dem Ritualmesser ausführen musste. Sie war recht einfach und nach ein paar Versuchen hatte ich sie drauf. Auch das Brauen des Trankes war nicht besonders kompliziert. Die einzige Schwierigkeit war, dass die Flüssigkeit jedes Mal exakt die gleiche Temperatur haben musste, wenn eine weitere Zutat hinzugefügt wurde, aber schließlich nahm der Trank die im Buch beschriebene neongrüne Farbe an und wurde dann schwarz. Ich schöpfte die vorgeschriebene Menge, mit dem dafür vorgesehenen silbernen Löffel in eine kleine Glasflasche und stellte sie auf den Tisch. Im Buch stand, dass der Trank farblos wurde, sobald es Zeit war, ihn zu trinken. Das Haarige war, dass ich nur 30 Sekunden hatte, bevor der Trank wieder schwarz und damit auch für mich tödlich wurde.
»Da, er ist durchsichtig«, sagte ich einen Augenblick später atemlos, griff nach dem Fläschchen und führte es zum Mund. »Auf uns!« Ich zog eine Grimasse und trank das Fläschchen leer.
Jo und Noah sahen mich besorgt an. Zuerst geschah nichts und dann fühlte ich mich, als ob mir jemand in den Magen geboxt hätte. Ich schnappte nach Luft, krümmte mich zusammen und schloss die Augen, die angefangen hatten, wie verrückt zu tränen. Ein fieser Schmerz schoss durch meinen gesamten Körper.
»Christina, oh Gott, was sollen wir tun? Jo, schau in das Buch, steht da was von einem Gegengift?«, hörte ich Noahs entsetzte Stimme wie aus weiter Ferne.
„Ich glaube, ich sterbe“, dachte ich überrascht, doch dann hörte der Schmerz auf. Allerdings hatte ich nun das Gefühl, über dem Tisch zu schweben. Ich konnte mich selbst kurz von oben sehen, raste dann aber wieder auf den Boden zu und landete mit einem wahrscheinlich nur für mich hörbaren Plumps erneut in meinem Körper. Vorsichtig öffnete ich die Augen und wischte mir mit zitternden Händen die Tränen von den Wangen. Als ich aufblickte, sah ich in Jos und Noahs entsetzte Gesichter, die mit vereinzelten neongrünen Punkten, die an Sommersprossen erinnerten, verziert waren. Ebenso wie ihre und auch meine Hände. Unser Kampf gegen den Dämon hatte Spuren hinterlassen.
»Neongrün steht euch nicht«, sagte ich krächzend.
»Musst du gerade sagen«, erwiderte Jo mit bebender Stimme.
»Ich habe mich gerade so gefühlt wie damals, als wir nicht wussten, ob du aus der Zwischenwelt zurückkommst.« Noah hatte noch nicht ganz seine Stimme wiedergefunden. Er ergriff meine Hand und sah mich an. »Und das ist ein Gefühl, das ich eigentlich nie wieder haben wollte.«
»Ich befürchte, daran müsst ihr euch gewöhnen«, erwiderte ich. »Ich denke, es wird nicht einfacher werden, Dämonen zu jagen. Aber vielleicht stumpfen wir wenigstens ein bisschen ab.«
»Glaube ich nicht«, entgegnete Jo. »Aber zumindest hat es funktioniert. Ich kann eure grünen Punkte gut sehen.«
»Ja, ich auch«, sagte Noah. »Was ist dir eben passiert?«, fragte er mich dann und ließ meine Hand los.
»Ach, ich glaube, ich bin kurz gestorben«, erklärte ich betont heiter. »Ich konnte mich und euch von oben am Tisch sitzen sehen und dann ging es im Affenzahn zurück in meinen Körper.«
Wir schwiegen eine Weile. Schließlich räusperte ich mich und griff nach einer Karteikarte mit der Aufschrift „Allgemein“.
»Gibt es Wesen, die sich so gut tarnen, dass ich sie trotz meiner Fähigkeiten nicht erkennen kann? Und wenn ja: Wie kann ich sie trotzdem bloßstellen?«, wollte ich wissen.
Jo und Noah rückten näher.
»Um die Art eines Wesens zu bestimmen, das ein Meister im Tarnen ist, muss man den Menschen, in dem es sich verbirgt, mit ein paar Tropfen Offenbarungssud bespritzen. Sobald der Sud die Haut des Menschen berührt, offenbart das Wesen für fünf Sekunden sein wahres ich. Ausnahmen: Schwarze Engel und der Schläfer, denn ihre Tarnung können nur sie selbst aufheben und alle Viruswesen. Bei Letzteren muss eine nahestehende Person den Trank mit Hilfe der Wächterin brauen und das Wesen damit bespritzen. Nur diese Person kann das Wesen danach sehen, womit sie sich aber in große Gefahr begibt. Siehe Buch: (Fast) unheilbarer Wesenbefall, Regal 4, Brett 10, Seite 155: Alles über die Rettung von Viruswesen.«
»Ich finde es stark, dass der Karteikasten jedes Mal genau weiß, wo sich die Bücher befinden«, sagte Jo begeistert.
»Vorausgesetzt, sie haben den Raum nicht verlassen«, erinnerte ich ihn.
Das Buch, das Cecile damals aus dem Raum mitgenommen hatte, „Bannrituale und wie man sie anwendet“, war immer noch verschwunden und konnte nicht ersetzt werden, da es noch irgendwo existierte. Wo es sich befand, wusste allerdings nicht einmal der Karteikasten.
»Wie spät ist es?«, erkundigte sich Noah.
»Sehr spät«, sagte Jo nach einem Blick auf seine Uhr und erhob sich. »Meine Mutter müsste gleich hier sein. Ich gehe deshalb schon mal vor und nehme ein paar Bücher zur Hand.«
»Jo«, hielt ich ihn zurück. »Sag deiner Mutter, dass wir morgen Nachmittag gerne Sylvia besuchen würden. Falls sie nicht möchte, dass wir den Bus nehmen, könntest du sie vielleicht auch gleich fragen, ob sie uns eventuell ins Krankenhaus bringen würde. Meine Mutter arbeitet leider. Ich werde sie aber heute Abend bitten, deine anzurufen und auch die Eltern von Noah, damit klar ist, dass wir uns das nicht ausdenken.«
»Welch eine Freude«, grummelte Jo. »Ok, ich versuche es!«
Als meine Mutter abends nach Hause kam, hatte ich es mir im Wohnzimmer gemütlich gemacht und las in dem Buch, das uns Herr Dr. Katzhausen aufgegeben hatte und über das wir in der nächsten Woche eine Klassenarbeit schreiben würden. Es handelte von dem Leben einer jungen Fixerin in Berlin und war erstaunlich interessant.
»Hallo, Tinchen, bist du schon lange zuhause?«, begrüßte mich meine Mutter.
»Eine Weile. Ich muss das Buch noch zu Ende lesen. Wir schreiben eine Klassenarbeit darüber und morgen Nachmittag wollen wir Sylvia im Krankenhaus besuchen. Ihr Vater hat uns allen über Dr. Katzhausen ausrichten lassen, dass sie ab morgen Besuch empfangen darf. Wir dachten uns, wir versuchen es mal auf dem normalen Weg, besser mit ihr auszukommen. Und das hat nichts mit Einschleimen zu tun«, fügte ich hastig hinzu.
»Ihr wollt Sylvia im Krankenhaus besuchen?«, fragte meine Mutter überrascht.
Ich nickte. »Da ich ja früher oder später mit ihr Tennis spielen muss, dachte ich, es wäre eine gute Idee zu versuchen, die Wogen etwas zu glätten. Meinst du, du könntest Frau Dräxler anrufen und ein gutes Wort für uns einlegen? Sie lässt Jo immer noch nicht ganz aus ihren Fängen. Vielleicht könntest du uns ja abholen.« Ich sah, wie sich das Gesicht meiner Mutter verzog und sagte schnell: »Oder wir fahren mit dem Bus. Das haben wir ja sonst auch getan. War nur so eine Idee, um Frau Dräxler zu beruhigen!«
Meine Mutter überlegte kurz. »Ich rede mit ihr. Kannst du schon mal den Tisch decken, ich ziehe mich nur um.«
Ich klappte das Buch zu und sprang von der Couch. »Klar, was gibt es denn?«
»Kommt darauf an. Hast du heute Mittag etwas Warmes gegessen?«, erkundigte sich meine Mutter, während wir gemeinsam Richtung Küche gingen.
»Ja, Noah und ich waren wieder im “La Cuisine“. Es gab Spaghetti Bolognese.«
»Dann schlage ich ein Club Sandwich à la Stahl vor«, sagte meine Mutter.
»Prima«, erwiderte ich und bog in die Küche ab. »Ich setze schon mal das Wasser für die Eier auf.«
Meine Mutter schaffte es tatsächlich, dass Jo nach dem Besuch im Krankenhaus mit dem Bus nach Hause fahren durfte, doch das war nicht alles. Frau Däxler erlaubte ihm auch, mit Noah und mir mittags im “La Cuisine“ zu essen, bevor sie uns ins Krankenhaus fuhr.
Kapitel 6• Die Komtesse lässt nicht bitten
Am nächsten Tag machten Noah, Jo und ich uns nach dem Unterricht auf den Weg zum “La Cuisine“.
>Vielleicht ist X ja heute wieder da<, überlegte die Wächterin gut gelaunt.
Ich ignorierte sie und beobachtete gespannt Jos Reaktion, als wir um die Ecke bogen und das Café in Sicht kam.
»Das ist ja der Hammer!«, sagte er begeistert und ließ den Blick über die Häuserwand und das Libellendach schweifen. Als er den getarnten Wasserspeier entdeckte, stutzte er. »Nur das Ding ist irgendwie fehl am Platz.«
»Ja, das finden wir auch«, bestätigte ich. »Aber jetzt lasst uns reingehen. Drin ist es bestimmt brechend voll und wir haben nicht viel Zeit.«
Im Restaurant waren diesmal alle Tische in der Mitte besetzt, so dass uns nichts anders übrig blieb, als eine Nische anzusteuern.
»Man könnte meinen, hier gibt es was umsonst«, sagte Jo kopfschüttelnd, während er versuchte, seine Krücken nicht in einem Stuhlbein oder einer der Schultaschen zu verhaken, die überall auf dem Boden standen.
»Gibt es ja auch. Einen einmaligen Anblick.« Noah wies mit dem Kopf zum Tresen. Jo und ich sahen gleichzeitig hin und meine Augen trafen die von X. Er grinste und nickte mir zu. Mir wurde heiß und ich hob kurz die Hand.
»Uff! Und plötzlich fühle ich mich noch kleiner und hässlicher als sonst.« Jo ließ sich auf die Bank der Nische sinken, die wir gerade erreicht hatten.
»Erzähl keinen Blödsinn.« Ich setzte mich neben ihn und erklärte ihm das System des Restaurants.
Wenig später stand ich am Tresen, um unsere Bestellungen aufzugeben.
»Hallo Tina, was darf es denn heute sein?«, erkundigte sich X und sah mir tief in die Augen.
Ich spürte, wie ich rot wurde. Das hatte mir gerade noch gefehlt. »Du könntest für den Anfang aufhören, mit mir zu flirten. Schon vergessen, du bist nicht mein Typ«, sagte ich gereizt.
»Upps, schlecht gelaunt?«, erkundigte sich X.
»Nein, aber ich hasse es, rot zu werden«, erklärte ich, mit der für mich so untypischen Offenheit, die mich immer nur dann überfiel, wenn ich mit ihm sprach.
»Ich finde es nett, wenn Mädchen rot werden«, erwiderte X mit einem Lächeln.
»Nett ist der Bruder von Scheiße«, brummelte ich, ohne ihn anzusehen, und sagte dann deutlicher: »Ich hätte gerne die Kartoffelpuffer mit Apfelmus, mein Freund Jo, der genauso “ein“ Freund ist wie Noah, bevor du wieder falsche Schlüsse ziehst, hätte gerne Kartoffelsalat mit Frikadelle und Noah nimmt noch mal den Hamburger mit Lammfleisch.« Als X nicht reagierte, sah ich irritiert zu ihm hinüber. Er stand da und hielt sich die Seite.
»Nett ist der Bruder von Scheiße«, japste er. »Das habe ich ja noch nie gehört!«
Ich musste gegen meinen Willen grinsen. »Da stellt sich mir die Frage, wo du aufgewachsen bist.«
»Kannst du mal fertig werden, andere wollen auch noch bestellen!«, beschwerte sich das Mädchen hinter mir. Ich warf einen Blick über meine Schulter. Es war eine blonde Oberstufenschülerin, mit einer Figur, wie ich sie nie haben würde, und einem Fotomodelgesicht. Wieder wurde ich rot. Mein Gott, war das peinlich.
»Wenn du es eilig hast, bist du hier falsch«, sagte X kalt zu der Blondine und dann zu mir: »Bis gleich, Tina. Und nett ist nicht immer der Bruder von Scheiße.« Er grinste über das ganze Gesicht.
Ich nickte und ging zurück zu Jo und Noah.
»Der Typ scheint auf dich zu stehen«, sagte Jo. Es klang eifersüchtig.
»Ach was! Er kommt nicht damit klar, dass es hier ein Mädchen gibt, das ihn nicht anhimmelt und er versucht, meine Meinung über ihn zu verändern. Ich habe ihm nämlich bei unserem ersten Besuch gesagt, dass er nicht mein Typ ist«, klärte ich ihn auf.
>Ich glaube, Jo hat recht<, sagte die Wächterin. >Du bist scheinbar die Einzige, mit der er länger spricht. Bei allen anderen nimmt er nur lächelnd die Bestellung entgegen.<
»Bis ich ihn anhimmele. Dann bin ich ebenso uninteressant wie der Rest! So etwas nennt man Jagdtrieb«, erwiderte ich lautlos.
>Dann himmele ihn einfach nicht an.<
»Habe ich nicht vor!«
»Wie willst du Sylvia eigentlich dazu kriegen, dir zu glauben oder noch wichtiger, uns zu erzählen, was ihr passiert ist, falls es wirklich etwas Ungewöhnliches war?«, fragte Jo und unterbrach damit meinen stummen Gedankenaustausch mit der Wächterin.
»Das entscheide ich dann. Vorausplanen bringt nichts. Sicher ist nur, dass wir, wenn wir erst mal wissen, was Sylvia heimsucht, zu ihr nach Hause müssen, um es zu vernichten.«
»Du erwartest nicht nur, dass Sylvia uns glaubt, sondern auch noch, dass sie uns zu sich nach Hause einlädt?« Jo sah mich ungläubig an. »Was hast du vor? Sie unter Drogen setzen?«
»Christina, das Essen ist fertig«, unterbrach uns Noah und wies auf die blinkende Tischlampe. »Ich gehe es holen. Habt ihr das Geld passend?«
»Schaffst du das? Drei Teller?«, fragte ich.
»Falls nicht, gebe ich dir Bescheid.« Noah nahm unser Geld entgegen.
»Ich denke, wenn wir sie erst mal davon überzeugt haben, dass sie von einem dunklen Wesen heimgesucht wird, dann ist die Einladung ein Kinderspiel«, wandte ich mich wieder an Jo. Dabei sah ich zum Tresen, um mich davon zu überzeugen, dass Noah auch wirklich mit den drei Tellern klarkam. Wieder traf mein Blick den von X. Er wirkte verwirrt und leicht verärgert. Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Es schien ihm tatsächlich etwas auszumachen, dass Noah und nicht ich gekommen war, um das Essen abzuholen. Ich fühlte mich großartig und lächelte ihm kurz zu, damit er nicht dachte, ich sei sauer auf ihn.
»Wenn du das nächste Mal lieber alleine herkommen willst, lass es uns wissen«, sagte Jo, der meinem Blick gefolgt sein musste, beleidigt. »Wir wollen deinem Glück schließlich nicht im Wege stehen. Vielleicht geht Mr Schönling ja auch gleich mit dir Dämonen jagen, dann brauchst du dich nicht weiter mit uns abzugeben.«
Etwas machte „Klick“ in meinem Inneren und ich fuhr zu Jo herum. »Weißt du was, Jo, ich habe die Nase voll von deinem Gemaule. Wenn du etwas zu beanstanden hast, dann sprich nicht im Plural. Steh zu dem, was du sagst. Niemand hat vor, dich durch irgendwen zu ersetzen oder außen vor zu lassen, also komm über deinen Minderwertigkeitskomplex hinweg, der nervt nämlich. Wir sind nicht nur ein Team, wir sind Freunde! Und ja, das sagt die Richtige, aber ich versuche zumindest, an mir zu arbeiten.«
>Hart, aber herzlich<, bemerkte die Wächterin, >ich werde dich bei der nächsten Kleiderwahl daran erinnern.<
Jo starrte mich mit offenem Mund an.
»Was habe ich versäumt?«, erkundigte sich Noah vorsichtig, der mit einem voll beladenen Tablett zu uns getreten war.
Jo holte tief Luft und sagte ungewöhnlich ruhig: »Christina hat mir den Kopf gewaschen und wenn in ihrem Ausbruch nicht auch die Worte “Freunde“ und “Team“ vorgekommen wären, würde ich jetzt aufstehen und gehen.«
Ich spürte, wie ich rot wurde, hatte aber trotzdem nicht vor, auch nur ein Wort zurückzunehmen.
Noah stellte das Tablett auf den Tisch und setzte sich zu uns. »Ich weiß nicht, wer, was gesagt hat, und es ist mir auch ziemlich egal, aber ich weiß, dass wir unseren Gegnern in die Hände spielen, wenn wir uneins sind. Ich habe mich noch nie so getrennt von euch gefühlt, wie in diesem Moment. Das habe ich schon gespürt, als ich zum Tisch zurückkam.«
»Du meinst, jemand beeinflusst uns, um einen Keil zwischen uns zu treiben?«, erkundigte sich Jo.
»Das ist gut möglich, glaubt ihr nicht auch?«, erwiderte Noah.
»Das würde bedeuten, dass sich irgendwo hier ein dunkles Wesen befindet«, sagte ich leise.
Unbehaglich sahen wir uns um.
»Seht ihr irgendwo grüne Flecken?«
»Nein.« Noah schüttelte den Kopf.
»Und auch keine neongrünen Augen«, fügte Jo hinzu.
»Wir sollten essen und gehen.« Ich zog die Kartoffelpuffer zu mir herüber. Ich streute Zucker darüber, gab Apfelmus oben drauf und sah Jo an. »Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe«, erklärte ich ruhig. »Auch wenn ich es netter hätte formulieren können!«
»Ja, das hättest du, Vulkanchen. Aber ich verspreche trotzdem, dass ich an mir arbeiten werde.«
»Und ich verspreche, nicht mehr so zu explodieren. Sonst muss ich irgendwann zugeben, dass mein Spitzname doch zu mir passt.« Ich zog eine Grimasse und reichte Jo die Hand. Er drückte sie kurz.
»Der Kartoffelsalat ist übrigens großartig«, sagte er kurz darauf.
»Mein Reden«, entgegnete Noah. »Der Hamburger ist immer noch so gut wie beim ersten Mal. Wie sind die Kartoffelpuffer, Christina?«
»Leider inzwischen lauwarm, aber immer noch sehr gut«, sagte ich abgelenkt. »Wieso finden wir das Wesen nicht, das Unfrieden gestiftet hat? Ich müsste es doch erkennen.«
»Entweder ist es ein Meister im Tarnen oder es war nur ganz kurz im Raum und hat das Restaurant sofort wieder verlassen, sobald ihr angefangen hattet, zu streiten«, schlug Noah vor.
Ich merkte auf. »Oder es arbeitet in der Küche. Das gesamte Personal können wir von hier aus nicht sehen.«
Wir sahen unsicher auf unsere Teller.
»Euer Streit war schon vorbei, bevor wir gegessen haben. Es kann also nicht am Essen liegen«, sagte Noah.
»Diesmal nicht, aber wenn das Wesen in der Küche arbeitet, dann könnte das nächste Essen schlecht für unsere Gesundheit sein«, gab Jo düster zu bedenken.
»Ich weigere mich, so ein geniales Essen aufzugeben, nur weil vielleicht ein Troll in der Küche arbeitet.« Noah sah mich an. »Das muss doch herauszufinden sein!«





