Frei sollst du sein – Take your time

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Elisa war in Polen geboren. Sie wollte in die Welt hinaus. Schon als kleines Kind saß sie oft am Fenster und schaute den weißen Wolken nach.
Wo ziehen sie hin? Ich möchte auf einer dieser Wolke sitzen und mit ihnen ziehen in ein Land, in dem die Sonne scheint. Das werde und will ich eines Tages machen. In Polen ist es kalt. Es ist nicht mein Land.
Als sie Fünfzehn war, hatte sie sich in einen jungen Mann verliebt. Die Eltern verboten ihr den Umgang. Die beiden jungen Menschen sahen sich nicht wieder, blieben aber in Kontakt. Elisa beendete die Schule und begann eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Gegen den Wunsch der Eltern. Es war ein ständiger Kampf zwischen ihr und ihrem Vater. Als sie achtzehn war, fuhr sie mit ihrem Freund nach Thailand. Sie nahm jede Arbeit an, die sich bot. In einem Vier-Sterne-Hotel wurde sie Hausdame. Die Selektion der Gäste ergab sich durch die Preisgestaltung. Das Hotel war außerdem Vertragshotel für einige Fluglinien. Ein Friseur, der hier seinen Salon betrieb, suchte eine Mitarbeiterin. Sie bewarb sich und erhielt den Job. Ganz bald konnte sie ihre Kosmetikkenntnisse einbringen. Mutig etablierte sie hier ihren ersten Salon und hatte Erfolg. Mit der Hoteldirektorin begann sie eine Beziehung, die nach einigen Jahren zerbrach.
Ich werde sie nie vergessen. Aber ich bin noch jung, habe genügend Geld und werde mich selbstständig machen. Ich brauche ein eigenes Haus, ich will unabhängig sein. Mit Kosmetik versuche ich, zurecht zu kommen.
Aber das ist schwierig. Vielleicht muss ich etwas anderes finden. Dann fand sie Sara aus Spanien und eine neue Beziehung begann.
„Lass’ uns ein Haus etablieren für Menschen, die so empfinden wie wir.“
Und so hatte es begonnen.
Madam Elisa – sie war eine sehr gepflegte, Respekt fordernde Dame. Sara und Elisa etablierten das erste Etablissement für Damen. Mit persönlichem Einsatz und äußerster Disziplin konnten sie die Schulden abtragen und nach einem Jahr schrieben sie schwarze Zahlen. Ihre Kunden kamen aus den großen Städten im In- und Ausland.
An einem sonnigen Tag klingelte es an der Türe. Ein weißgekleideter Herr wollte ein Zimmer buchen, da er annahm, in einem Hotel zu sein. Elisa bat den Herrn einzutreten, servierte ihm einen Kaffee und erklärte ihm, dass ihr Haus kein Hotel sei. Der Herr ließ sich aber nicht abweisen. Elisa hatte immer ein Gästezimmer frei und so blieb der Herr. Er verlängerte seinen Aufenthalt sogar. Elisa fand es schön, sie hatte sich an den Herrn gewöhnt. Abends tranken sie gemeinsam einen Wein und erzählten sich ihre Geschichten. Abdul kam aus Abi Dabi, war sehr wohlhabend und hatte sich in Elisa verliebt.
Zwischen Sara und Elisa bestand inzwischen nur noch eine Freundschaft. Sara hatte sich entschieden, wieder nach Spanien zurückzugehen. Für beide war die Zeit als Lesbe vorbei. –
Für Elisa und Abdul begann eine innige Verbundenheit, die zu einer Liebe führte.
„Ich habe eine Familie in meiner Heimat. Aber du bist etwas Besonderes für mich. Daher möchte ich nicht, dass du mit mir kommst. Du sollst nicht eine von Vielen werden. Ich muss irgendwann zurück, mich um mein Business kümmern. Wir werden uns immer wieder sehen, denn ich werde zurückkommen. Wirst du das verstehen?“
„Hier ist mein Salon, mein Business. Hier sehe ich meine Lebensaufgabe. Meine Mädchen und meine Kunden kann ich nicht verlassen. Mit viel Energie und persönlichem Einsatz habe ich dies alles aufgebaut. Nein, ich kann nicht hier weg. Wenn du wiederkommst, freue ich mich natürlich sehr…
Aber für meine Kunden bin ich da. Es ist ein Stück Familie geworden. Weißt du, es sind überwiegend Frauen aus der Upper Class. Sie sind in ihrem öffentlichen Leben, in ihrem Alltag, verheiratet. Niemand weiß um ihre Neigung zu Frauen. Sie sind meist unglücklich in ihrem Dasein. – Sie sind wohlhabend aber unglücklich. Auf Kreuzfahrten in fremde Länder suchten sie den Sinn des Daseins, konnten ihn jedoch nicht finden. Sie sind durch die ganze Welt gereist. Für ihre Bekannten sind sie auf Reisen, wenn sie zu mir kommen. Hier verbringen sie ihre glücklichste Zeit wie sie sagen. Sie vertrauen mir. Niemand erfährt von ihrem Doppelleben.
Für das Glück und die Liebe, die sie hier finden, sind sie dankbar. –
Mein Haus ist ein kleines Haus. Es ist für mich wichtig, meine persönliche Atmosphäre einzubringen, die meine Kunden schätzen. Ich kenne alle Damen persönlich, bin für die meisten Kosmetikerin und eine psychologische Beraterin. Sie vertrauen mir. Ich hoffe, sie finden hier ein kleines Stückchen Glück, nur ein kleines Glück, aber immerhin…
Du siehst, meine Aufgabe finde ich hier, jeden Tag aufs Neue.
Und nun gibt es dich, Abdul – wie sollte, wie könnte ich das alles verlassen?
Abdul kommt regelmäßig zu Besuch. Er und Elisa leben ihre Liebe und sind glücklich, denn es gibt zwischen ihnen keinen Alltag. Jeder Tag, den sie zusammen sind, ist ein Fest. Seine Großzügigkeit genießt Elisa. Selbst die Mädchen profitieren davon. So ergibt sich wenig Wechsel bei ihrem Personal. Sie bedauert es sehr, dass Ana Sue gehen musste. Dieser Zuhälter ist ein Mafioso, mit ihm möchte sie sich nicht anlegen. So musste sie Ana Sue gehen lassen, quasi opfern.
WEG INS UNGEWISSE
In den letzten Stunden hatte Ana Sue erfahren, dass es noch andere Menschen gibt. Nicht nur die Besucher, die sie bisher kannte. Sie muss schnell handeln bevor der Inhaber sie vermisst, muss sie weg sein. Am besten untertauchen im Nirgendwo.
Einer inneren Intuition folgend geht sie zum Hafen, sieht die großen Schiffe. Ralf hatte gesagt, sein Kahn würde hier im Hafen liegen. Aber wie sollte sie unter den unzähligen Schiffen dieses besondere Schiff finden? Zumal sie nicht einmal den Namen weiß. Zum ersten Mal hier am Hafen fühlt sie sich klein und verlassen. Sie setzt sich auf die große Treppe, die zu den Anlegestellen führt. Hier will sie auf Ralf warten. Sie wird ihn sofort erkennen – sollte er denn kommen - ‥
Stunden vergehen. Es ist dunkel geworden. Sie fragt einen der Hafenarbeiter, ob er weiß, wann das nächste Schiff ablegt.
„Heute gegen Mittag ist der letzte Kahn rausgefahren. Kurs Cape Town glaube ich. Heute Nacht wird kein Schiff mehr ablegen. Mädchen, dein Warten ist also umsonst. Und du solltest heute Nacht nicht hierbleiben. Es ist gefährlich für eine junge Frau hier alleine.“ Er wendet sich zum Gehen. Nach kurzem Zögern dreht er sich um.
„Hast sicher keine Bleibe für die Nacht? Du kannst mit zu mir kommen.“
Ohne zu überlegen hatte er ihr eine Übernachtung bei sich angeboten.
„Meine Frau wird nichts dagegen haben, wenn ich ihr sage, dass du „sozusagen Treibgut“ bist. Nichts für ungut. Ich meine es nicht böse. War nur so eine unüberlegte Bemerkung.“
Er wartet auf ihre Antwort.
Ana-Sue hat keine Möglichkeit, wenn sie nicht hier im Freien und in der unsicheren Hafengegend übernachten will, dann muss sie das Angebot annehmen.
„Ja, ich komme mit.“
„Gut, dann lass uns gehen.“
So geht Ana-Sue mit in ein fremdes Haus zu fremden Menschen. Ihre Angst erzeugt ein ungutes Gefühl im Bauch. Ob das mit seiner Frau wirklich stimmt? Oder wollte er sie lediglich zu einer Zusage bewegen? Na, sie könnte ja immer noch gehen. Könnte sie das wirklich? Wenn sie erst einmal in seiner Wohnung war?
„Hinter der nächsten Straßenkreuzung ist es nicht mehr weit. Nur noch wenige Minuten. Hier ist ein Supermarkt. Wenn du etwas Bestimmtes zum Essen kaufen willst? Bei mir gibt es nur Brot am Abend. Und eine Banane dürfte auch noch für dich da sein.“
Ana-Sue schaut ihn unsicher von der Seite an. Gibt es sie wirklich - seine Frau? Dann hätte er doch sicher gesagt bei uns…
„Willst du nun etwas kaufen oder nicht?“
„Nein danke, ich habe keinen Hunger.“
Nun stehen sie vor seiner Wohnungstür. Er schließt die Türe auf.
„Komm, hier ist mein Zuhause.“
Zögernd folgt sie. Sie weiß nicht einmal seinen Namen, geht mit einem „fremden Mann“ in ein fremdes Haus. Aber sie kann es sich nicht leisten wählerisch zu sein.
Zögernd folgt sie ihm. Der Korridor ist schwach beleuchteten, fast dunkel. Es dauert einige Sekunden bis ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt haben. Ein kurzes Klopfen, dann tritt er ein.
Ana-Sue bleibt an der Haustüre stehen. Noch kann ich umkehren, geht es ihr durch den Kopf, die Haustüre im Rücken. Nur wenige Schritte trennen sie vom Ausgang.
Dann hört sie eine Frauenstimme.
„Du bist spät.“
„Ich habe Besuch mitgebracht. Eine junge Frau, die am Hafen saß und auf ein Schiff wartete, keine Bleibe hat. Sie kann auf dem Sofa schlafen, habe ich gedacht.“
Ana-Sue bleibt vor der Türe stehen.
Ich muss etwas sagen, geht es ihr durch den Kopf.
„Hallo, sorry, dass ich so ungebeten zu Ihnen komme. Ich warte auf meinen Freund, der wollte heute am Hafen sein.“
Spontan kommen die Worte aus ihrem Mund. Ohne zu überlegen, einfach so.
Die Frau schaut sie prüfend an.
„Ich bin Ana-Sue“,
mit diesen Worten streckt sie der Frau ihre Hand entgegen, die diese aber übersieht.
„Hier am Hafen warten viele auf ihren Freund.“
Sie wirkt wirklich nicht wie eine, die es auf meinen Mann abgesehen hat,
geht es ihr durch den Kopf
Dann wendet die Frau sich dem vorbereiteten Essen zu, legt noch ein Gedeck für Ana-Sue auf.
Ana Sue wendet sich zur Tür. Sie will weg, nur weg von hier. Die Frau misstraut ihr. Sie ist ein ungebetener Gast. Ana Sue kann es irgendwie verstehen. Woher soll diese Frau auch wissen, dass sie, Ana Sue, soeben ihre erste, ihre einzige, ihre große Liebe verloren hat. Sie hat die Hand an der Tür, will sie öffnen und verschwinden.
Da kommt die Frau auf sie zu,
„ich bin Mona, komm, iss’ mit uns. Du kannst heute Nacht bei uns bleiben.“
Ungläubig schaut Ana-Sue in ihre gütigen Augen.
Mona nimmt Ana-Sues Hand und führt sie zu ihrem Platz am Tisch.
„Danke.“
Es gibt Geflügel mit Reis. Ana Sue verspürt keinen Hunger. Eine unendliche Traurigkeit, die sie bisher verdrängt hat, bemächtigt sich ihrer. Tränen steigen ihr in die Augen. Ihre Stimme versagt. Bewegungslos sitzt sie am Tisch
„Sorry, es duftet köstlich. Aber ich kann nichts essen.“
Langsam löst sich die Spannung bei Ana-Sue und ihren Gastgebern.
Dann kann Ana Sue ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie laufen ihr übers Gesicht, zum Hals und tropfen auf das T-Shirt. Sie schluchzt. Kann es nicht vermeiden, dass sie bei diesen fremden Menschen von ihrem Schmerz überwältigt wird. Überwältigt von dem gestern Erlebten, von ihrem bisherigen Leben überhaupt. Was bleibt ihr? Sie steht vor einem Nichts. Hoffnungslos, verzweifelt… sie zittert am ganzen Körper.
Mona nimmt ihre Hand und führt sie zur Couch.
„Leg’ dich hin. Du bist müde und erschöpft. Schlaf erst mal. Wenn du später Hunger bekommst, steht eine Schüssel für dich in der Küche. Die kannst du dir im Mikro Ofen aufwärmen. Lass dich durch unser Essen nicht stören. Wir haben leider keinen anderen Raum. Wenn wir gegessen haben, gehen wir ins Bett. Dann kannst du schlafen.“
„Warum sind Sie so gut zu mir?“
„Frag’ nicht so etwas. – Ich kann nicht anders.“
Der Mann, sie kennt immer noch nicht seinen Namen, bringt eine Decke. Ana Sue legt sich hin. Innerhalb von wenigen Minuten ist sie eingeschlafen.
Egal, was mit mir geschieht, ich kann nicht mehr, nur noch Schlafen
Von Ralf träumen und nicht mehr aufwachen…
Am nächsten Morgen erwacht sie erst, als die Sonne schon hoch am Himmel steht. Sie schaut sich um. Allmählich kommt die Erinnerung an den gestrigen Tag zurück. Sie schaut nach ihrem kleinen Beutel, der ihre ganze Habe enthält. Sie findet die Tasche zu ihren Füßen und schaut nach, was sie in der Eile eingepackt hat. Im Bad, das sie mit ihrer Kollegin teilte, hat sie alles liegen gelassen. Nicht mal eine Haarbürste hat sie mitgenommen. Einen frischen Slip und ein zweites T- Shirt. Eine rote Hose, dann noch die Hose, die sie trägt. Das ist alles, was sie hat.
Man braucht so wenig zum Leben
Das waren die Worte ihrer Mutter, bevor sie ihr Zuhause verlassen hatte.
Sie schaut sich um. Niemand ist in der Nähe. Es ist ganz ruhig hier. Auf dem Tisch findet sie ein Gedeck, zwei Scheiben Brot, Butter und etwas Marmelade.
Sie geht in die Küche. Hier steht eine Kanne mit einem Teebeutel. Sie beschließt, zu frühstücken, und dann wird sie das Haus verlassen.
Aber zuerst brüht sie Tee auf. Sie muss etwas essen bevor sie geht. Weiß sie doch nicht, wann sie heute noch einmal etwas zu essen bekommt.
Eine Nacht kannst du bleiben, hatte die Frau gesagt.
Die Nacht ist vorbei. Während des Frühstücks überlegt sie, was sie nun machen soll. Wieder zurück in das Etablissement? Nein!
Aber wohin?
Noch während sie ihr Brot isst, hört sie, dass die Haustüre geöffnet wird.
Hoffentlich ist es nicht der Mann.
Dann steht die Frau vor ihr, die ihr gestern eine Übernachtung angeboten hatte.
„Hast du gut geschlafen? Das Frühstück hast du gefunden, gut.“
Mit diesen Worten geht Mona zur Garderobe und hängt ihre Jacke auf. Dann setzt sie sich zu Ana Sue an den Tisch.
Sie steht noch einmal auf und holt sich eine Tasse. Ana Sue gießt Tee in Monas Tasse.
„Wo willst du hingehen?“
Kurz und knapp, fast unfreundlich, aber auch ein wenig besorgt, klingt die Stimme der Frau, die gesagt hat, dass sie Mona heißt.
„Danke für alles. Ich weiß noch nicht genau, wohin ich gehe. Aber danke, dass ich die Nacht hier sein konnte.“
Mona schaut das Mädchen lange an. Dann geht sie ohne ein Wort zu sagen in die Küche.
Ana Sue will weg. Hier gehört sie nicht hin. Sie gehört nirgends hin. Zu niemandem. Sie hat kein Zuhause. In dieser Stadt kennt sie niemanden.
Sie muss Geld verdienen, also Arbeit suchen. Sie räumt den Tisch ab, bringt das Geschirr in die Küche, kehrt zurück und packt ihren kleinen Beutel.
„Ana-Sue, so heißt du doch. Geh’ ins Bad, ich habe die ein paar Sachen zurechtgelegt. Du kannst duschen und alles was du brauchst, kannst du mitnehmen.“
Ana-Sue schaut verwundert zu Mona.
„Komm schon“, mit diesen Worten nimmt Mona ihre Hand und bringt sie ins Bad. Der Ton verrät, dass Mona keine Antwort und schon gar keinen Widerspruch erwarten oder dulden würde.
Als Ana-Sue erfrischt aus dem Bad kommt, gibt Mona ihr den kleinen Beutel. Eine Flasche Wasser und eine Banane als kleinen Imbiss für den Tag, hat sie für Ana Sue in den Beutel gelegt.
„Wenn du heute keine Bleibe hast, kannst du hierherkommen“, mit diesen Worten verabschiedet Mona ihren Gast.
Sie sieht so verloren aus. Ich hoffe, sie kommt heute Abend wieder.
Mona schüttelt den Kopf, um ihre unwirschen Gedanken zu vertreiben.
Was ist nur los mit mir? Erst gestern kam dieses fremde Mädchen zu uns und heute vermisse ich es schon.
Ana-Sue steht auf der Straße.
Nun bin ich frei, frei wie ein Vogel. Die Welt steht mir offen. Aber wo ist die Türe, die in die Welt führt? Was ist es für eine Welt?
Eins weiß sie. Wenn sie heute am ersten Tag ihrer Suche nichts findet, dann ist diese Türe hier offen für sie. Aber sie will nicht von Almosen leben. Sie muss es alleine schaffen.
Es gibt keinen Weg zum Glück –
Glücklichsein ist der Weg
Buddha
CAPE TOWN
Ralf sitzt im Bus, der ihn zur Waterfront bringen soll. Seit zwei Wochen ist er in Cape Town und wartet auf ein Schiff, das nach Bangkok fährt. Er will anheuern, zurück nach Bangkok. Dort will er bleiben bis er Ana-Sue gefunden hat. Er wird sofort in dieses Etablissement gehen. Sicher wird sie dort sein. Denn sie hat ja keine Chance in der Stadt eine andere Arbeit zu finden. Sollte sie aber wider Er- warten dort nicht mehr sein, wird er in einer anderen ähnlichen Höhle nach ihr suchen, so lange suchen bis er sie gefunden hat.
Noch hat er keine Ahnung, wo er seine Suche dann beginnen soll. Aber er ist zuversichtlich, er wird sie finden. Bisher ist nicht ein Tag vergangen, an dem er nicht an Ana-Sue gedacht hat.
Eine Nacht in einem Etablissement in Bangkok hat sein Leben verändert.
Es ist so, als sei Schwarzes plötzlich weiß geworden.
Was früher dunkel war, wird bei jedem Gedanken an Ana-Sue hell und leuchtend.
Nicht, dass er nun nicht mehr traurig sei! Immer wieder hört er die leise Stimme von Ana-Sue. Sie singt ihm ein Lied. Er hat einen Teil der Worte vergessen, aber die Melodie klingt in seiner Seele.
Fremder Mann, schau mich an…
Das Schuldgefühl über sein Verhalten quält ihn täglich. Der einzige Weg, so scheint es ihm, ist der, Ana Sue zu finden. Dann kann er den Traum von einem Leben mit ihr verwirklichen. Das ist sein Ziel.
Die Sonnenstrahlen lassen ihre angenehme Wärme auf der Haut spüren.
Um diese Zeit ist es in Deutschland kalt. Winterzeit. Nein, da möchte er jetzt nicht sein. Er geht zur Waterfront in ein Restaurant, von denen es zahlreiche hier gibt.
Er bestellt einen Eiskaffee. Noch während er den Eiskaffee auf seinem Tisch zurechtrückt, bemerkt er einen Herrn, der ihn beobachtet.
Mit einem gewinnenden Lächeln bittet dieser Herr um einen Platz an seinem Tisch.
„Kein Problem, bitte, der Stuhl ist noch frei.“
Schnell entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden, bei dem Ralf erfährt, dass der Herr aus Holland kommt. Er lebe nun in Cape Town. Seine Frau sei vor einem Jahr gestorben. Er lebe alleine. Eine junge Frau versorge seinen Haushalt. Sie sei gewissenhaft und anspruchslos. Sein Bauch habe ihm nach kurzer Zeit gesagt, er könne ihr vertrauen, obwohl er sehr wenig von ihr wisse. Aber er respektiere ihr Privatleben.
„Bei wichtigen Entscheidungen höre ich auf meine innere Stimme. Kennen Sie Ihre innere Stimme?“
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich glaube, ich habe keine bestimmte, innere Stimme. Wahrscheinlich habe ich mehrere innere Stimmen.“
Er lacht.
„Dann ist es an der Zeit, dass Sie Ihre Stimmen oder ihr Innerstes sortieren. Das sollten Sie wirklich angehen. Es ist wichtig. Finden Sie Ihre eigentliche, innere Stimme.“
„Und wie kann ich meine eigentliche Stimme finden? Oder wie kann ich die anderen Stimmen zum Schweigen bringen?“
„Sehen Sie, Sie haben verstanden. Gehen Sie es an. Es ist nie zu spät. Sie spüren selber, welches die Stimme ist, die bei Entscheidungen den richtigen Weg zeigt.“
„Ich habe nichts verstanden. Wenn es so etwas wie eine innere Stimme bei mir geben sollte, dann scheint es sehr schwierig zu sein, sie wahrzunehmen“
„Mein Junge, ich darf Sie doch so nennen“, der sympathische, ältere Herr macht eine Pause, „Sie sind schon längst auf dem Weg. Sie haben es nur nicht bemerkt. Ich sehe und spüre es.
Auch ich war ein Suchender. Als ich während des Meditierens meine innere Stimme vernahm, wurde ich von einer positiven Energie durchströmt, sodass ich mich plötzlich leicht und frei fühlte.
Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Loslassen, was sinnlos ist. Es ist ein Zauberwort. Aber das alles werden Sie selbst erfahren.“
„Wenn ich Ihnen nun sagen würde, dass ich Sie verstanden habe, so wäre das eine Lüge. Zu gerne würde ich Ihnen glauben, Sie verstehen. Eines jedoch haben Sie erreicht bei mir in diesem kurzen Dialog, ich bin neugierig geworden.“
„Dann haben Sie für sich selber viel erreicht, mehr als ich erwartet hätte.
Ich habe es gewusst.“ Der „ältere Herr“ lächelt.
„Was haben Sie gewusst? Bitte lassen Sie mich teilhaben an Ihrem Wissen.“
„Das werde ich, aber nicht heute“.
Lachend klopft der ältere Herr Ralf auf die Schulter.
„Aber nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss nach Hause. Meine Mittagsruhe möchte ich nicht versäumen. Meine innere Stimme, Sie wissen schon, sagt, dass es gut ist, eine tägliche Ruhezeit einzulegen. Morgen um diese Zeit bin ich wieder hier, ok? Bye bye.“
Mit jugendlichem Elan und einem Lächeln verabschiedet sich der Herr, dessen Name ich nicht weiß, von dem ich so wenig weiß und doch so viel…
Ralf denkt noch lange an den älteren Herrn –
Ralf will noch zum Hafen. Er wartet jeden Tag auf ein Schiff, dass ihn zurück nach Thailand bringen soll. Am Abend denkt Ralf an das Gespräch mit dem älteren Herrn. Soll er wirklich morgen wieder zur Waterfront gehen?
Eigentlich glaubt er nicht an dieses Bauchgefühl oder die innere Stimme.
Sicher nur die Fantasie eines Herrn, der in die Jahre gekommen ist. Vielleicht ist dieser ältere Herr zu viel alleine, hat keinen Gesprächspartner. Dann werden die Menschen wunderlich. Das habe ich schon mal irgendwo gehört.
Meditieren, er solle meditieren. Nein, das hat er nicht gesagt. Er selber habe meditiert.
Er solle seinen Weg finden.
Ich kenne meinen Weg. Ich will Ana-Sue finden. Das ist mein Weg. Also, dazu brauche ich kein Bauchgefühl und keine innere Stimme. Das weiß ich selber.
Aber wo soll ich sie suchen und finden? Bangkok ist groß. Eine Millionenstadt. Dabei weiß ich nicht, ob sie noch in der Stadt ist. Vielleicht ist sie zu ihrer Familie in den Norden gefahren?
Höre auf deine Stimme.
Aber was willst du mir sagen? Weißt du es, Stimme, wo ich sie finden kann?
Sei ein wenig geduldig. Werde ruhig und höre mir zu. Vielleicht verstehst du dann.
Alle diese Gedanken ermüden Ralf so sehr, dass er nun nur noch schlafen möchte. Anders als gestern und all die vielen Tage nach der Trennung von Ana-Sue denkt er heute an sie. Er ist nicht traurig und nicht glücklich.
Chaotisch nennt man das, was ich im Augenblick empfinde.
Morgen ist ein neuer Tag…
Ralf ist am frühen Morgen zum Hafen gegangen und hat erfahren, dass vorerst kein Schiff nach Thailand fährt.
Er überlegt, soll er einen Flieger nehmen? Das wäre sicherlich eine annehmbare Alternative. Das Warten auf ein Schiff scheint für den Moment aussichtslos. Warum also nicht den Flieger nehmen?
Er schaut sich die Angebote in den Reisebüros an, findet aber zu keiner Entscheidung. Er muss nachdenken.
Einem inneren unbewussten Impuls folgend fährt er mit dem Bus zur Waterfront. Das Gespräch mit dem älteren Herrn gestern lässt seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Beim Aufwachen am Morgen glaubt er, Wortfetzen aus dem gestrigen Dialog in seinen Träumen gehabt zu haben.
Als er an der Waterfront den Bus verlässt, sieht er von Weitem schon den Herrn von gestern wartend an seinem Tisch sitzen. Wie Freunde begrüßen sich die beiden. Dabei spürt Ralf, wie gut es ihm dabei geht. Er registriert mit einem Mal, dass er in dieser großen Stadt sich bisher doch ziemlich alleine fühlte.
Das „Hallo“ klingt fast vertraut.
„Ich bin John, und ich freue mich, Sie zu sehen.“
„Ralf, ja ich freue mich auch.“
„Wir sollten das Sie vergessen und zum Du übergehen.“
Also Ralf, trinken wir auf eine gute Bekanntschaft, die vielleicht zu einer Freundschaft führen kann.“
Mit diesen Worten winkt John den Service und bestellt zwei Aperitif und zwei Cappuccinos.
„Nun besiegeln wir das Ganze mit einem Prost oder Sheers.“
„Sheers, Ralf, auf eine gute Zeit. Vielleicht findest du, da ich ja aus Holland komme, meinen Namen etwas unüblich. Meine Eltern gaben mir den Namen Johann, den ich nie mochte. Da habe ich aus Johann John gemacht.“



