Rückkehr zu Gott

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II. Die Katharer 193
Wie viele Waldenser verstanden sich auch die Katharer als die „echten Nachfolger der Apostel.“194 Katharer (wörtlich: die „Reinen“) werden die Anhänger einer über Kreuzfahrer und Tuchhändler vom Balkan nach Europa eingedrungenen gnostisch-christlichen Bewegung genannt, die in Anlehnung an die bulgarischen Bogomilen eine manichäisch-dualistische Lehre entwickelte.195 „Ihr Name stand Pate für das deutsche Wort Ketzer.“196 „Als Lehre vertraten die Katharer (der Name kommt seit 1163 auf) einen manichäisch getönten Dualismus in der zweifachen Richtung einer absoluten und einer gemäßigten Form. Der gute Gott als Schöpfer der Geister, der böse Gott als Schöpfer der sichtbaren Welt vertreten Ordnungen, die durch das Wirken Satans ineinander verschlungen werden. Das Wirken St. Michaels und Christi, welche den Dämon besiegen und dadurch die Geister aus der Herrschaft des Satans erlösen, wird die alte (dualistische, in der Trennung existierende) Ordnung wiederhergestellt. So lehrt der absolute Katharismus. Der gemäßigte kennt einen Schöpfergott, dessen Ordnung durch die Revolte Satans, der die Engel verführt und sie als Seelen den Leibern der Menschen einfügt, gestört wird. Erlöst aus diesem Gefängnis des Fleisches werden sie durch Christus, der nicht Sohn Gottes ist, sondern ein Engel, der in Maria scheinbar Mensch wird. In einem Scheinleib lebt, leidet, stirbt dieser Christus. Der Geist nimmt bei der Taufe im Jordan in ihm Wohnung und bleibt dort bis zur Verherrlichung Christi, kommt dann auf die Apostel herab, teilt sich den Gläubigen durch die Taufe mit, die bei den Katharern keine Wassertaufe ist, sondern ein Exorzismus, Berührung mit den Evangelientext und eine Handauflegung: das Consolamentum. Den Vollkommenen (der führenden Elite) verleiht das Consolamentum Unsündlichkeit, während die einfachen Gläubigen von ihren Sünden jeweils durch das Apparellamentum, eine Art Buße, befreit werden können. Der Tod befreit die Engel für das Paradies, doch scheint auch eine Art Seelenwanderung nicht ausgeschlossen. Dämonen und Verdammte werden beim Weltende vernichtet, eine leibliche Auferstehung gibt es nicht. Gottes Sieg erscheint damit allumfassend. Die Trinität wird geleugnet, eine gottmenschliche Inkarnation nicht angenommen, viele altchristliche Häresien (Gnosis, Monarchianismus, Doketismus, Manichäismus u.a.) scheinen erneuert.“197 Der hohe Anspruch, in wirklicher Armut Christus nachzufolgen, so wie die Apostel dies taten, machte großen Eindruck auf die Menschen.198 Doch glaubten die Anhänger der Ketzerbewegung die einzig „wahren Apostel“, die einzig „guten Christen“ oder die „guten Menschen“ schlechthin zu sein. Dieser Absolutheitsanspruch aber führte zwangsläufig zum Bruch mit der Kirche.199 Aus drei Gründen ging die Kirche mit aller Härte gegen derartige Gruppen vor: „Erstens entwickelte sich aus der Idee, dass die Weisungen der Evangelien und der Apostelschriften der einzige für die Kirche und für Christen gleichmäßig verbindliche Maßstab des religiösen Lebens sei, eine entschiedene Kritik an den Lehren und Bräuchen der Kirche, die zur Ablehnung der meisten Sakramente in ihrer katholischen Form, ebenso der Heiligenverehrung, der Fürbitte, der Fegefeuerlehre usw. führte. Zweitens erkannten die Ketzer, die in der Armut das Leben der Apostel zu führen behaupteten, den Ordo der hierarchischen Kirche nicht an, sondern stellten die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Ordinierung in Frage und bildeten auf Grund ihres Bewusstseins, zur wahren Vollstreckung des Evangeliums berufen zu sein, geradezu eine Konkurrenz-Kirche der ‚guten Christen‘, die in genauer Analogie zur katholischen Kirche in den ‚Vollkommenen‘ oder ‚Erwählten‘ ihren Klerus, in den ‚Gläubigen‘ ihre Gemeinden hatten und sich sogar in einer Art Bistumsverfassung ausgestaltete. Drittens endlich hat sich die Armutsidee und die apostolische Wanderpredigt im Laufe des 12. Jahrhunderts in manchen Kreisen, besonders in Südfrankreich und in der Lombardei, mit dualistischen Weltlehren verbunden und ist, ohne Zweifel vom griechischen Osten her, immer mehr von spekulativen Ideen durchdrungen worden, in denen ein großer Teil der manichäischen Kosmogonie und Mythologie seltsam wieder auflebte.“200
Die katholische Polemik richtete sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts vor allem gegen die manichäische Weltsicht. Der Name „Manichäer“ wurde zum Synonym für den Ketzer schlechthin, obwohl nicht alle Ketzerbewegungen diese dualistische Weltanschauung vertraten, diese sogar teilweise scharf bekämpften.201 Dennoch übte der manichäische Dualismus auf manche Teile der Bevölkerung202 eine große Anziehung aus: „Der Dualismus sagt dem Menschen eindeutiger, was zu tun sei... . Für Menschen, die aus religiösem und ethischen Drang zum Nachdenken über das Wesen der Welt erwachten, war die katholische Weltlehre unendlich viel schwerer zugänglich und begreiflich als die manichäische.“203
III. Die „freien Geister“204
Johannes Tauler und auch andere Mystiker des 14. Jahrhunderts, wie z.B. Taulers Ordensmitbrüder Meister Eckhart (1260 – 1328) und Heinrich Seuse (1295 – 1266) sowie Jan Ruusbroec (1293 – 1381) mussten sich mit einem Gedankengut auseinandersetzen, das einer Gruppierung unter dem Namen „freie Geister“ zugeschieben wurde.205 Der Verdacht, der freigeistigen Häresie anzugehören, richtete sich oftmals gegen Beginen und Begarden.206 Darüber hinaus gerieten Eckhart, Seuse und Tauler durch ihre Lehre vom Zunichtewerden des Menschen, um ganz mit Gott eins zu sein, selbst in eine gefährliche Nähe zum freigeistigen Gedankengut.207
Bei den „freien Geistern“ handelt es sich allerdings nicht um eine organisierte Sekte mit einer einheitlichen Lehre, sondern „allenfalls um eine Häresie“208. Eine Sekte
„ ‚entstand‘ nur deshalb, weil die Verdächtigen [von der Inquisition] immer wieder nach dem gleichen Fragekatalog abgefragt wurden, einem Fragekatalog, der von der Aufzählung der Irrtümer der ´Sekte´ im Dekret Ad nostrum des Konzils von Vienne abgeleitet worden war.“209
Die „freien Geister“ sind deshalb eine „imaginäre Sekte“210, eher eine religiöse Unterströmung, die man jedoch in den verschiedenen religiösen Gruppen oder bei Einzelpersonen fand.211 Weil man diese Häresie aber gerade deswegen nicht konkret bekämpfen konnte, unterstellte man den Anhängern der Freigeisterei häufig auch ein amoralisches Verhalten, wie z.B. unerlaubte Sexualpraktiken.212 Es zeigt sich, dass die Quellen über die „freien Geister“ nicht unproblematisch sind, da die meisten Aussagen aus den Protokollen der Inquisition stammen. Dass diese Aussagen deshalb kritisch gelesen werden müssen, liegt auf der Hand.213 Aus diesem Grund können wir nicht wirklich sagen, wer die „freien Geister“ eigentlich sind.
1. Möglicher historischer Ursprung und Verbreitung
Das Gedankengut der „freien Geister“ hat vermutlich seinen Ursprung in der Ketzerei der „Amalrikaner“ in Paris.214
Die 1210 durch eine Pariser Synode verurteilten Ketzer, Kleriker und Magister der Theologie215, waren Schüler des Theologen und Philosophen Amalrich von Bena (+ 1206). Schon Amalrich wurde gezwungen, seine Lehre zu widerrufen. Grund für seine Verurteilung war nicht sein Hauptgedanke, dass jeder Christ ein Glied Christi sei („Membra sumus corporis Christi“216), sondern die Hintergründe seines Denkens, der Einfluss des Neuplatonismus durch Johannes Scotus Eriugena sowie der Schriften des Aristoteles mit seinen arabischen Kommentatoren. Wahrscheinlich versuchte Amalrich, wie seine Schüler, „die neuplatonische Identitätsphilosophie mit Hilfe der Schriftexegese, vor allem der Deutung paulinischer Sätze zugleich als die wahre Theologie zu erweisen. Denn gerade diese Überzeugung, dass die richtige Philosophie zugleich die wahre Religion sein müsse, ist auch in Eriugenas Denken das treibende Motiv.“217 Das neuplatonische Gedankengut in Verbindung mit der paulinischen Theologie Amalrichs wurde zum Ausgangspunkt der Ketzerei der sog. Amalrikaner. Aber erst durch Amalrichs Schüler, die seine Theologie und Philosophie mit anderen Lehren verbanden und in die Seelsorge einfließen ließen, wurde daraus eine in den Augen vieler in der Kirche gefährliche Irrlehre.218 Amalrichs Schüler lehrten nämlich ein Geschichtsverständnis, „die jenen Gedanken erst ihre ketzerisch-revolutionäre Wendung gab.“219 Ihr Verständnis von Geschichte, das mit dem Denken des Abtes Joachim von Fiore (+ 1202) „auffallend übereinstimmt“220, nämlich der Anbruch vom dritten Zeitalter des Heiligen Geistes nach dem des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament). Diese für sie epochale Wende „entwerte“ und wandele alles Bisherige221: Im neuen Zeitalter des heiligen Geistes beanspruchten sie als die „Spiritualen“ der neuen Epoche, selbst „inkarnierter Gott zu sein wie einst Christus.“222 Der „Spirituale“ in besonders hervorgehobener Weise, aber auch die übrige Welt ist von Gott erfüllt. Aus diesem Grund verlieren die kirchlichen Sakramente ihre Gültigkeit.223 In jedem beliebigen Stück Brot finde man Gott. Also sei die Eucharistie überflüssig.224 Genauso leugneten die Amalrikaner die Sünde: Denn wenn alle Welt von Gott erfüllt ist, muss auch alles Böse von Gott sein. Deshalb kann der Mensch auch kein Sünder mehr sein.225 Daraus schlossen sie, auch das Bußsakrament sei überflüssig.226 Die neue Epoche des Heiligen Geistes verstanden sie als das Zeitalter einer grundlegenden Erkenntnis: „Diese Erkenntnis ist die Auferstehung und eine andere Auferstehung gibt es nicht.“227 Wissen und Erkenntnis sei das Paradies – Nicht-Wissen dagegen die Hölle.228 „Die Ketzer von Paris setzen die wahre Philosophie, die Erkenntnis der ´Spiritualen´ im Zeitalter des Geistes an die Stelle der sakramentalen Formen der Kirche, die der vorhandenen Epoche angehören.“229
Die Lehren der Amalrikaner begegnen uns im freigeistigen Denken wieder: Der „Freigeistige“ sieht sich mit Christus, d.h. mit Gott identisch, wenn sein menschlicher Geist vollkommen frei für Gottes Geist ist, so dass dieser ihn ganz erfüllt. In dieser vollkommenen Einheit und Identität kann der Mensch kein Sünder mehr sein. Hieraus wiederum leiten die Freigeistigen die Lehre von der ledigen, ungebundenen Freiheit230 ab: Der freie Geist kann theoretisch tun, was immer er will, da er eins mit Gottes Geist ist.
Obwohl die Ketzerei der Amalrikaner 1210 verurteilt und Vertreter ähnlicher Lehren, z.B. der Magister Godinus (+ 1212 in Amiens), verurteilt und verbrannt worden waren, tauchten bereits wenige Jahre später, 1220, deren Gedanken, vermutlich verbreitet von männlichen Wanderpredigern, in den religiösen Bewegungen auf, unter anderem auch in nichtsesshaften, umherwandernden Frauengemeinschaften. Darin ist auch ein Grund zu sehen, warum Beginen, ihr männliches Pendant, die Begarden, sowie Vaganten oftmals mit der Ketzerei der Amalrikaner bzw. Godianer gleichgesetzt wurden.231
Um die Mitte des 13. Jahrhunderts – 1261 erstmals historisch überliefert232 – traten in Süddeutschland die ersten freigeistigen Prediger auf und verkündeten, man könne Gott besser „in der Freiheit des Geistes“233 dienen, ohne eine feste (ordensähnliche) Regel zu befolgen.234 Viele Zeitgenossen235, die den religiösen Bewegungen und auch der Frauenfrömmigkeit wohlwollend zugewandt waren, warnten vor dem Einfluss dieses Denkens. Sie kritisierten in diesem Zusammenhang vor allem aber die Maßlosigkeit im geistlichen Leben, die Sucht nach Ekstasen und Visionen.236 Gerade hierin und in dieser Form des freigeistigen Denkens lagen die größten Gefahren für die religiösen Bewegungen im Mittelalter.237
2. Die freigeistige Irrlehre im Schwäbischen Ries (1270/73)
Aus einem Gutachten238 Alberts des Großen (1193/1200 – 1280) über ungefähr 100 Aussagen von sog. Ketzern aus dem schwäbischen Ries (Bistum Augsburg), können wir die Tragweite erahnen, welche die freigeistige Lehre in den religiösen Bewegungen eingenommen hat. Dass das freigeistige Denken auch mit den religiösen Frauenbewegungen in Verbindung gebracht wurde, zeigt Alberts Kommentar zu den Berichten über teils wahnhaft religiöse Übersteigerungen von Frauen, z.B. Schwangerschaftssymptome oder Aussagen, sie hätten Christus selbst gesäugt. Dazu bemerkt Albert nur lapidar, „das sei keine Ketzerei, die man widerlegen, sondern eine Albernheit, die mit Prügel bestraft werden müsste.“239 Solche Übersteigerungen endeten aber nicht selten in der theologisch und historisch bedeutsamen Aussage von der „Vergottung des Menschen“240: „Der Mensch kann Gott werden, … und die Seele kann in der Vereinigung mit Gott göttlich werden.“241 Dieser mit Gott vereinte, vergöttlichte Mensch steht im Brennpunkt aller Aussagen der im Ries verurteilten Ketzer.
Der Gedanke von der Vergottung des Menschen ist jedoch nicht neu242, allerdings meinten wohl einige Irrlehrer, der Mensch könne naturaliter, d.h. aus eigener Kraft, Gott werden und er sei mit Gott identisch. Die rechtgläubige katholische Mystik vertrat dagegen die Meinung, der Mensch könne nur aus Gnade vergottet werden.243 Die Irrlehren im Ries haben die dogmatische Scheidung von Natur und Gnade nicht eindeutig formuliert.244 Diese in den der Ketzerei verurteilten Kreisen nicht gelöste Frage war jedoch an sich nichts Ungewöhnliches. Auch in der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts ist die Unterscheidung zwischen Gnade und Natur auf den ersten Blick nicht immer so eindeutig feststellbar.245 Mechthild von Magdeburg spricht beispielsweise davon, dass die Seele des Menschen „mit Gott ein Gott“246 werden kann, „ein menschlicher Gott mit Christus“247 und „ein geistlicher Gott mit dem Heiligen Geist“248 – kurz: „eine ganze Person mit der Heiligen Dreifaltigkeit“249. Das geht so weit, dass Mechthild den Eindruck vermittelt, zwischen Gott und Mensch gäbe es eine vollkommene Identität in der Natur: „Ich muss von allen Dingen weg zu Gott hingehen, der mein Vater ist von Natur.“250 Und den Bräutigam ihrer Seele, Christus, lässt sie schließlich antworten: „Frau Seele, ihr seid so sehr in mich hineingestaltet, dass zwischen Euch und mir nichts sein kann.“251 Ein der Irrlehre Verdächtiger hätte das genauso sagen können. Möglichen Vorwürfen, sie verstoße gegen die katholische Gnadenlehre, antwortet Mechthild:
„Ich sprach in diesem Buche an einer Stelle darüber, dass Gott von Natur mein Vater ist. Dies hast du nicht verstanden und sagst: ‚Alles, was Gott mit uns getan hat, ist von Gnaden und nicht von Natur.‘ Du hast Recht, und ich habe auch Recht. Nun höre ein Gleichnis: Wie gute Augen ein Mensch auch hat, er kann über eine Meile Weges nicht hinaussehen. Wie scharfe Verstandessinne der Mensch auch hat, er kann unsinnliche Dinge nur mit dem Glauben verstehen, (sonst) tappt er wie ein Blinder in der Finsternis. Die liebende Seele, die alles liebt, was Gott liebt, und alles hasst, was Gott hasst, besitzt ein Auge, das Gott erleuchtet hat. Damit sieht sie in die ewige Gottheit, wie die Gottheit mit ihrer Natur in der Seele gewirkt hat. Er hat sie nach sich selbst gebildet, er hat sie in sich selbst eingepflanzt, er hat sich ihr unter allen Geschöpfen am allermeisten vereint; er hat sie in sich geschlossen und hat von seiner göttlichen Natur so viel in sie gegossen, dass sie nichts anderes sagen kann, als dass er in aller Vereinigung mehr als ihr Vater ist.“252
Von einer Identität zwischen Gott und Mensch, so Mechthild, kann nur im Sinne einer Identität des Willens gesprochen werden, „so dass das, was er [Gott] will, (auch) sie [die Seele] will, und anders können sie nicht in ganzer Einung vereint sein.“253
Im Unterschied zu den Ketzern im schwäbischen Ries ließen sich Mechthild und andere Beginen oder Klosterfrauen aber auf geistliche Begleitung ein, um nicht im Gegensatz zur Kirchenlehre zu stehen.254 Gerade dieser Dialog zwischen neuer Frauen- bzw. Laienspiritualität und kirchlicher Lehr- und Ordenstradition befruchtete das geistliche Leben der Kirche.255
Die Rieser Irrlehren wurden, wie das Gutachten Alberts weiter zeigt, von verschiedenen Seiten aus beeinflusst. Sie sind nicht einfach aus den Erfahrungen von ekstatischen Frauenerlebnissen zu erklären.256 Es finden sich Einflüsse der Amalrikaner; es gibt Übereineinstimmungen mit Katharern:
„Wie die Katharer haben die Ketzer im Ries gesagt, Christus habe bei seiner Passion nicht gelitten und sei nicht verletzt worden; auch über den Fall der Engel haben sie ähnliche, wenn auch unter sich nicht widerspruchslose Ansichten geäußert wie die Katharer, die mit den Gedanken der Frauenmystik und mit dem Vergottungserlebnis nicht das geringste zu tun haben. Andere Anschauungen haben die Rieser Ketzer ebenso mit den Katharern wie mit den Amalrikanern gemeinsam, teilweise sogar auch mit den Waldensern: sie glauben nicht an die Hölle und Fegefeuer, halten Engel und Dämonen nur für moralische Personifikationen menschlicher Tugenden und Laster, glauben nicht an die Auferstehung, auch nicht an die Auferstehung Christi.“257
Die im Ries als Ketzer Verurteilten vertraten, entgegen katharischer Lehre, keinen Dualismus von Gut und Böse, von Gott und Materie und einer daraus gefolgerten Läuterungsethik, sondern einen Pantheismus und teilweise wohl einen moralischen Indifferentismus258, welcher der Rechtfertigung einer bloßen Willkür dienen konnte.259
IV. Das freigeistige Denken im 14. Jahrhundert260
Im 13. wie im 14. Jahrhundert stand im Mittelpunkt des freigeistigen Denkens das „Erlebnis der Einigung des vollkommenen Menschen, des ‚guten Menschen‘ mit Gott, seine Gott-Werdung.“261 Durch die Gottwerdung werde der Mensch vollkommen und erlange einen freien Geist, die vollkommene Freiheit.262 Die freigeistige Lehre unterschied, wie in der rechtgläubigen christlichen Tradition, zwischen dem Anfänger und dem Vollkommenen. Der Vollkommene war der „freie Geist“. Für den Anfänger galt zunächst das Leben Christi als „Rahmen und Maßstab der ‚Verminderung‘ und ‚Vernichtung‘ des Eigenlebens“263: Wer die Freiheit des Geistes erlangen will, muss zunächst das eigene Selbst besiegen. Die oberen, geistigen Lebenskräfte sollen die niederen, sinnlichen Kräfte beherrschen.
Über das Leben der Freigeistigen im 14. Jahrhundert berichtet Johann von Brünn 1335. Er lebte zwanzig Jahre in einer freigeistigen Begardengemeinschaft („die willigen Armen“) in Köln, davon acht Jahre als „Vollkommener“. Später distanzierte er sich von seinem freigeistigen Leben, versöhnte sich mit der Kirche und trat in den Dominikanerorden ein.264 In Protokollen der Inquisition265 vermittelt er aus der Perspektive eines ehemaligen Eingeweihten einen Blick in das Leben einer vom freien Geiste beeinflussten Begardengemeinschaft.266 Über seinen Weg in die Begardengemeinschaft und sein Leben als „Anfänger“ berichtet er:
„Als ich in Brünn lebte und dort gesetzlich verheiratet war, hatte ich einen vertrauten Bekannten, den ich fragte, wie ich zu einem vollkommenen Leben gelangen könne. Er belehrte mich, dass das Leben der Begarden, die in der Armut lebten, vollkommener sei als jeder Stand auf der Welt. Denn sie lebten der Wahrheit des Evangeliums vollkommener nach als alle anderen Menschen, seien es Priester, Mönche oder Laien.“267
Der Bekannte rät Johann, alles Hab und Gut zu verkaufen, sich von seiner Frau zu trennen und den „willigen Armen“ beizutreten. Gegen den Willen seiner Frau verkauft Johann seinen ganzen Besitz, entlässt seine Frau und gibt ihr die Hälfte vom Erlös des Verkaufs. Mit der anderen Hälfte reist er nach Köln zum „Haus der Armen“. Dort bittet Johann um Aufnahme in die Gemeinschaft:
„Am Morgen aber fragte mich der Vorsteher, was ich bei den Armen und Verachteten mache, ob ich die freiwillige Armut befolgen und von allen verachtet werden wolle. Demütig antwortete ich ihm: ‚Gewiss, Bruder, ich wünsche bei euch zu bleiben, bis mich Gott zur Stufe der Vollkommenheit führt.‘ (Da sagte der Vorsteher:) ‚Bruder, wenn du bei uns bleiben willst, musst du alles in unsere Hände geben, das Geld und alles, was du hast. Wenn du vor die Brüder trittst, sollst du alles vor ihnen auf den Tisch legen, und wenn sie dir dann gebieten zurückzutreten, darfst du nicht stehen bleiben und noch irgendetwas von dem Geld zurücknehmen.‘ Als das geschehen war, nahmen sie mich in ihrem vollkommenen Leben auf. Darauf erklärte mir der Vorsteher folgendes über die Strenge des Ordens: ‚Der wahre Befolger der Armut hat nichts Eigenes, sondern ist ebenso entblößt von allen zeitlichen Dingen wie Christus am Kreuz.‘ “268
Daraufhin zieht sich Johann nackt aus und übergibt alles, was er besitzt, der Gemeinschaft. Mit einem aus hundert Flicken bestehenden Hemd bekleidet, wird er zusammen mit einem anderen Bruder zum Betteln in die Stadt geschickt. Um Christi willen sollen beide Verachtung und Spott der Menschen ertragen.
Wie bei den Irrlehren im Ries glauben die „freien Geister“ im Gegensatz zur kirchlichen Lehre, dass die „Gotteinung nicht aus Gnade, sondern aus eigener Fähigkeit“269 erfolge. Aus eigener natürlicher Kraft, ohne Gottes Hilfe, sei es dem Menschen möglich, seine Seele zu vergöttlichen, d.h. zur „Gleichwerdung des Menschen mit Gott“270 ohne jeglichen Unterschied zu gelangen. Der menschliche Geist wird ganz von Gottes Geist aufgesogen. Deshalb sind Mensch und Gott identisch.
„Die ‚Vergottung‘ stellen sich die freien Geister, genauer besehen, als einen Zustand der Vollkommenheit vor, wie die Seele ihn vor ihrem Eintritt in einen Leib besaß, als im ‚Abgrund der Gottheit selbst‘ ... . Diese Gotteinung ist den freien Geistern eine Vorwegnahme dessen, was den Seligen im ewigen Leben zuteil wird.“271
Der Mensch ist, um mit Seuses freigeistigem „Wildem“ zu sprechen272, „im ewigen Nicht (d.h. Gott) zunichte geworden“.273 Da der „freie Geist“ nun „von jedem Geschöpf abgesondert ist, geht er unmittelbar darauf in die göttliche Erhabenheit über, so dass er der göttlichen Natur gleich wird.“274 Hat der „Anfänger“ auf seinem Weg zum freien Geist seine äußere, menschliche Natur nach Christi Vorbild eingeschränkt, d.h. völlig in „Christi Dienst verzehrt“275, so soll der „freie Geist“ seine irdische Natur nun wieder herstellen, er könne dabei seinen Trieben nun freien Lauf lassen, um jenen Dienst zu vollziehen, „der innerlich im Geiste geschieht“276: „Wenn du dein Leben nach der Form von Christi Leben ´ausgegeben´ hast, so wie ich es tat, dann bist du frei von deinem Leben.“277 Der„freie Geist“ ist frei, zu tun und zu lassen, was er will, da er frei wie Gott ist. Er braucht auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen:
„Ich bin frei in meiner (sinnlichen) Natur. Allem, was meine Natur begehrt, gebe ich nach und erfülle es ... . Denn mein Geist ist frei geworden, und da ich mit Geist und Natur Mensch bin, ist es nur billig, ihr Genüge zu tun. Denn dies ist vollkommene Freiheit, dass die Hand alles das ergreift, was das Auge sieht und begehrt. Stellt sich ihm (dem ‚freien Geist‘) dabei etwas in den Weg, so darf er es vernichten.“278
Aus ihrer Vergottung leiten die Anhänger des „freien Geistes“ ab, so Seuse, dass ihnen eine „ledige“, d.h. eine „ungebundene Freiheit“ geschenkt worden sei, die Freiheit, die Gott selbst ist, und die den Menschen über alle rechte irdische Ordnung „hinwegsehen“ und sie zu „verachten“ erlaube.279 Alle Strömungen des freigeistigen Denkens lassen sich unter dem Ruf nach „ungebändigter Freiheit“280 zusammenfassen:
„Dass der Mensch ganz nach seinem Antrieb lebe, ohne Gott und die Welt zu unterscheiden, ohne nach vorwärts oder rückwärts zu schauen.“281
Dabei kann sich die Beziehung zum Sohn, zu Jesus Christus, grundlegend verändern: Christi Menschsein, sein Leiden, seine Armut und sein Kreuz, gerade für die Armutsbewegung im Mittelalter so bedeutungsvoll, und Jesu Gottsein können für einen Freigeistigen ohne Belang sein.282 Denn der freie Geist „wird Gott gleich und übertrifft den Sohn oder steht ihm wenigstens gleich.“283 Das „namenlose Wilde“ bei Seuse erklärt, „ein solcher Mensch wirke alles wie Christus selbst“284 und „alles, was Christus gegeben ward, sei auch mir gegeben.“285 Solche Aussagen haben bei manchen freien Geistern auch dazu geführt, dass sie die kirchlichen Sakramente als nicht mehr notwendig für ihr Seelenheil ansahen und offen ablehnten.286 Das ging sogar so weit, wie aus dem Gutachten Alberts des Großen hervorgeht, dass sie glaubten, nicht mehr sündigen zu können. Als freier Geist sei er jetzt kein Sünder mehr.287 Die „Vergottung“ des Menschen könne sogar soweit gehen, dass der Mensch: