Rückkehr zu Gott

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Der neue Orden prägte die Mystik des 12. Jahrhunderts maßgeblich.57 Die „signifikanten Neuerungen“58 begünstigten den Erfolg der Zisterzienser und beeinflussten indirekt auch das geistlich-spirituelle Leben des 12. Jahrhunderts59: Durch die „Carta caritatis“, die Ordensverfassung, wurden alle Klöster hierarchisch miteinander verbunden, im Gegensatz zu den Reformklöstern von Cluny, die nur einen losen Verband bildeten. Auch die Äbte der zisterziensischen Klöster trafen sich regelmäßig einmal im Jahr zu einem Generalkapitel in Citeaux, was ebenso den Zusammenhalt förderte.
Der Förderung einer Laienspiritualität dienlich war der Umstand, dass die Zisterzienser für die Handarbeit und Landwirtschaft statt Leibeigene, wie die übrigen Benediktinerklöster, sog. „Conversen“, d.h. bekehrte Laienmönche aufnahmen. Diese Laienmönche, die aus den armen unteren Schichten der Gesellschaft stammten, waren nicht für den Chordienst vorgesehen, konnten aber dennoch ein spirituelles Leben führen. Darüber hinaus schaffte der neue Orden das Institut der Oblaten ab: Ebenfalls im Gegensatz zu den Benediktinern lehnte der Zisterzienserorden es ab, bereits Kinder, die von ihren Familien zum Ordensleben ausersehen wurden, im Kloster aufzunehmen. Diese veränderte „Personalstruktur“, die Anwesenheit von Menschen, die an einem vertieft geistlichem Leben in Armut und Abgeschiedenheit interessiert waren, wirkte sich auf die monastischen Lehren und auf die Predigt aus.60 Menschen, die ein spirituelles Leben im Kloster führen wollten, benötigten die entsprechend kompetente Begleitung und Ansprache.
Bernhard von Clairvaux (1090 - 1153) kam den Ansprüchen und dem religiösen Sehnen seiner Zeit entgegen. Seine Spiritualität wirkte inspirierend auf die Frauenmystik.
„Bernhard ist die alles überragende Gestalt der Mystik im zwölften Jahrhundert. ... Unter den lateinischen Autoren des Mittelalters findet sich keiner, der Bernhard übertrifft.“61
Der Eintritt Bernhards in den Zisterzienserorden markiert deshalb einen Wendepunkt in der Geschichte der Zisterzienser. Mit Bernhard begann die Blüte des Ordens. Sein Wirken beeinflusste den Verlauf der europäischen Geschichte62 und die geistige Entwicklung des Abendlandes.63
III. Die Spiritualität des heiligen Bernhard von Clairvaux
Bernhards Spiritualität ist eine „Liebes- und Brautmystik“. Sie war „so bestürzend neu“64 und beeinflusste das religiöse Leben von Mönchen wie auch Laien maßgeblich.65 Vor allem sprach Bernhard die Frauen an, deren Seelen sich mit Christus vereinigen wollten, wie die Braut mit dem Bräutigam.66 Von dorther ist es nicht verwunderlich, dass die nach Religiosität strebenden Frauen die Nähe zu den Zisterziensern suchten.67
1. Bernhards Predigten über das „Hohelied“
Bernhard sah sich zuallererst als Prediger. Er benutzte die Predigt, um seine Theologie zu lehren. Genauso dachten auch Meister Eckhart und Tauler.68 Bernhards wichtigstes Hauptwerk für das neue religiöse Leben im Mittelalter sind seine Predigten über das „Hohelied“.69 Diese 86 Predigten70 haben, wie Ruh betont, die „aszetisch-mystische Literatur seines Jahrhunderts und der folgenden Jahre, sehr früh auch das volkssprachliche Schrifttum befruchtet und genährt.“71
„In seiner Auslegung des alttestamentlichen Liebesliedes bricht der Abt mit der traditionellen frühmittelalterlichen Deutung der Braut als Personifikation der Kirche.“72
Stattdessen identifiziert er die Braut mit der Seele des Menschen. Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist damit nicht mehr nur die Geschichte der Kirche, sondern sie verlagert sich „in den Bereich der seelischen Erfahrung des Einzelnen.“73
„Hört nun, was wir gestern aufgeschoben haben, hört von der großen Freude, die ich erfahren habe. Sie soll nun auch die eure sein: hört also voll Freude! Bei einem Wort der Braut habe ich sie empfunden. Ich habe sie gleichsam eingeatmet und verborgen, um sie heute desto artiger vorzutragen, je besser die Zeit gewählt ist. Die Braut sprach und sagte, der Bräutigam neige sich ihr zu. Wer ist die Braut, und wer ist der Bräutigam? Es ist unser Gott, sie dagegen, wenn ich es auszusprechen wage, sind wir.“74
Die Seele des einzelnen Menschen dürstet nach Gott. Die Seele, die Braut Christi, spricht: „ ‚Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes‘ (Hld 1,1).“75 Wer aber den Kuss eines Geliebten begehrt, der liebt:
„Wer Sklave ist, fürchtet sich vor dem Antlitz des Herrn, der Tagelöhner hofft auf die Hand des Herrn, der Jünger macht sein Ohr dem Meister bereit, der Sohn ehrt den Vater; die aber einen Kuss begehrt, liebt.“76
Wer ist es, der liebt? Wer ist diese Braut? „Die Seele, die nach Gott dürstet.“77 Wie aber kann die Seele den Kuss des Geliebten, seine Liebe, erlangen? Der Vers Hld 1,7 gibt die Antwort:
„ ‘Wenn du dich nicht kennst, du Schöne unter den Frauen, so geh hinaus und folge den Spuren der Herden deiner Gefährten und weide deine Böcklein neben den Hütten der Hirten.‘ “ 78
Diese Aufforderung enthält einen Tadel:
„So widerfährt es jetzt auch der Braut: Weil sie etwas Großes zu verlangen scheint, wird sie durch eine gewiss strenge, aber heilsame und ehrliche Antwort zurückgewiesen. Wer nämlich nach Höherem strebt, muss von sich niedrig denken, damit er nicht von seiner Höhe stürzt, wenn er sich über sich selbst erhebt, es sei denn, er wäre durch wahre Demut unerschütterlich in sich gefestigt.“79
Zu wahrer Demut gelangt die Braut durch Selbsterkenntnis:
„Ihr erinnert euch also, dass ich eure Zustimmung für meine Meinung besitze, niemand könne ohne Selbsterkenntnis gerettet werden. Aus dieser entspringt ja die Demut, die Mutter des Heiles, und die Gottesfurcht, die selbst der Anfang der Weisheit und ebenso des Heiles ist. ... Du sollst daher dich erkennen, um Gott zu fürchten; und du sollst ihn erkennen, um ihn in gleicher Weise zu lieben.“80
Die Braut wird im Hohenlied (1,4) als „schwarz aber schön“ beschrieben. Die dunkle, schwarze Hautfarbe bezeichnet nach Bernhard den Pilgerweg der Braut, den Weg der Nachfolge; die Schönheit die gottfarbene Ebenbildlichkeit.
„ ‚Schwarz bin ich doch schön‘. Liegt nicht in diesen Worten ein Widerspruch? Fern sei der Gedanke. ... Ohne Zahl jedoch sind die Dinge, bei denen du finden wirst, dass sie an der Oberfläche zwar entstellt, hinsichtlich der ganzen Gestalt aber von edler Schönheit sind. Vielleicht kann auf diese Weise die Braut gerade in Verbindung mit der Schönheit der ganzen Gestalt nicht des Makels der Schwärze entbehren: Das gilt aber für den Ort ihrer Pilgerschaft (Ps 118,54). Anders wird es sein, wenn der Bräutigam der Herrlichkeit sie in der Heimat vor sich erscheinen lassen wird, herrlich, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler (Eph. 5,27). ... Höre aber, weshalb sie schwarz und weshalb sie sich schön nannte. ... Sie schämt sich nicht ihrer Schwärze, denn sie weiß, dass diese zuvor auch der Bräutigam gekannt hat. Und gibt es einen größeren Ruhm, als ihm ähnlich zu werden? So glaubt sie, dass es für sie nichts Ruhmvolleres gibt, als die Schmach Christi zu tragen ... Es ist Schwärze, aber die Schönheit und Ähnlichkeit des Herrn.“81
Die Schönheit der Braut wird von Bernhard sodann mit den Tugenden verglichen, welche die Ebenbildlichkeit des Bräutigams spiegeln. Doch ist diese Schönheit nach Bernhard geistiger Art82, sie entspricht dem Schmuck des Brautkleides:
„Ihre Schönheit beispielsweise ist die Liebe ... . Sicher ist es auch Gerechtigkeit ... . Es ist auch Geduld ... . Wie ist es mit der freiwilligen Armut, wie mit der Demut? Verdient nicht die eine das ewige Reich, die andere in gleicher Weise ewige Erhöhung? Auch die heilige Furcht des Herrn gehört hierher, denn sie währt in alle Ewigkeit. So ist es mit der Klugheit, so mit der Mäßigung, so mit der Tapferkeit, und wenn es sonst noch andere Tugenden gibt: Was sind sie anderes als Perlen im Kleid der Braut, funkelnd in dauerndem Glanz? Dauernd, sage ich, denn sie sind die Stätte und das Fundament der Dauer. In der Seele kann ja nur dann ein Platz für dauerndes und glückseliges Leben sein, wenn in ihrem Innersten die Tugenden eingepflanzt sind.“83
Die Tugenden, die in der Nachfolge Christi gelebt werden, sind die Voraussetzung für die Vermählung mit Christus.
Bernhard vergleicht die Liebesgeschichte zwischen der Seele des Menschen und Christus immer wieder mit Formen der Geschlechterliebe, gleichsam Vorstufen für die Vereinigung von Braut und Bräutigam: „Es ist die Liebestrunkenheit, die Liebeskrankheit und der Liebesschlaf.“84 Die Trunkenheit beschreibt den Zustand der nach dem Bräutigam schmachtenden Seele, das Verlangen nach dem Kuss des Geliebten.85 Wie der Liebesrausch, die Trunkenheit die Anwesenheit des Geliebten zum Ausdruck bringt, so führt die Abwesenheit des Bräutigams zur Liebeskrankheit:
„Als sich der Bräutigam nach all dem seiner Gewohnheit folgend zurückzieht, sagt sie, sie sei durch Liebe krank, das heißt vor Liebe. Je beglückender sie seine Anwesenheit erfahren hat, desto bedrückender empfindet sie nachher seine Abwesenheit.“86
Der Liebesschlaf ist schließlich die Vollendung der Vermählung von Braut und Bräutigam, von Seele und Christus:
„Doch ist dieser Schlaf der Braut auch kein angenehmes Entschlummern des Leibes, das die Sinne des Leibes für eine Zeitlang sanft betäubt, noch das erschreckende Einschlafen, das gewöhnlich das Leben vollständig wegnimmt. Noch mehr unterscheidet es sich von jenem Entschlafen im Tod, wenn einer in einer Sünde, die zum Tod führt (1 Joh 5,17), unwiderruflich verharrt. Vielmehr erleuchtet dieser lebendige und wache Schlummer dagegen den inneren Sinn und verleiht durch die Vertreibung des Todes das ewige Leben. Er ist nämlich ein wahrer Schlaf, der dennoch den Sinn nicht betäubt, sondern entrückt.“87
Der „Liebesschlaf“ ist weder mit dem Tod noch mit einer Art von Betäubung zu vergleichen, sondern er entspricht im Gegenteil einer größeren Wachsamkeit und Aufmerksamkeit der Sinne. Es ist ein wachsames Ruhen im göttlichen Frieden.
2. Vom „geistigen Adel“ des Menschen
In der 80. Predigt zum Hohenlied fragt Bernhard nach den Bedingungen im Menschen für die Hochzeit zwischen Seele und Christus, dem Wort: „Was ist der Seele und dem Wort gemeinsam?“88 Für Bernhard ist die Seele des Menschen „ein geschaffenes Nachbild“ der „Imago dei“, des göttlichen Wortes (Christus):
„Erstens besteht eine solche Verwandtschaft der Naturen dadurch, dass das Wort Urbild („imago“, „Ebenbild“) ist (Kol 1,15), die Seele nach dem Urbild („ad imaginem“, „Nachbild“) geschaffen ist (Gen 1,27). Zweitens wird die Verwandtschaft durch die Ähnlichkeit (similitudo) bezeugt. Denn nicht nur nach dem Ebenbild, sondern nach der Ähnlichkeit wurde die Seele geschaffen.“89
Die Seele des Menschen ist ein nach dem Urbild geschaffenes Ebenbild des göttlichen Wortes, Christus. Deshalb ist die Seele des Menschen mit Gott „verwandt“; der Mensch hat seinen Ursprung in Gott. Diese ursprüngliche Verbundenheit, d.h. Ebenbildlichkeit, zwischen Gott und Mensch ist jedoch eine der Ähnlichkeit (similitudo). Wie ist das gemeint? Für Bernhard ist die Wahrheit des Wortes, seine Weisheit und Gerechtigkeit, die Wahrheit, Weisheit und Gerechtigkeit selbst90: „Dieses Ebenbild ist nämlich Gerechtigkeit von der Gerechtigkeit, Weisheit von der Weisheit, Wahrheit von der Wahrheit, geradeso wie es Licht vom Licht, Gott von Gott ist.“91 Das Wort als Ebenbild ist also „eines Wesens mit Gott, und alles, was diesem seinem Ebenbild mitgeteilt zu werden scheint, ist beiden wesenhaft, nicht zufällig eigen.“92 Das Wort als Ebenbild ist mit Gottes Wesen, der Wahrheit, Weisheit und Gerechtigkeit ist, identisch.
Anders steht es um die Seele des Menschen. Sie ist nicht Ebenbild, sondern Abbild Gottes.93 Als solches ist sie nicht identisch mit Gott; sie ist nicht, wie das Wort, „Wahrheit von der Wahrheit, ... Licht vom Licht, Gott von Gott“94:
„Nichts davon ist die Seele, weil sie nicht Ebenbild ist („imago“). Sie besitzt aber Fassungskraft („capax“, empfänglich für...) und Streben („appetens“) nach all dem: und daher ist sie wohl nach dem Ebenbild geschaffen.“95
Die Seele des Menschen ist deshalb ein geschaffenes, nicht natürliches Ebenbild, weil sie nach Gott strebt, nach dessen Wahrheit, Weisheit und Gerechtigkeit. Der Mensch trägt durch diese Empfänglichkeit für das göttliche Leben das „Siegel der Majestät“96 Gottes in sich. „Urbild“ (Ebenbild) und Nachbild (geschaffenes Ebenbild) sind zwar nicht identisch, doch sie entsprechen einander:
„Es gehört sich nämlich, dass das, was nach dem Bild ist, mit dem Bild übereinstimmt und dass es nicht ohne Grund den Namen des Bildes teilt, genauso wie auch das Bild nicht bloß mit einem leeren Namen Bild genannt wird.“97
Worin besteht aber der genaue Unterschied zwischen Ebenbild und geschaffenem Ebenbild? Dem geschaffenen Ebenbild wurde seine Würde durch „Schöpfung oder Begnadung zugeteilt, dem Bild durch Zeugung.“98 Das gezeugte Urbild oder Ebenbild ist mit Gott identisch, ist „eines Wesens mit Gott“.99 „Das Abbild empfing nur ´nach Maß´ (Eph. 4,2), das Bild aber nach Gleichheit.“100
Die Seele bleibt, da sie auch weiterhin nach Irdischem strebt und nicht die himmlischen Dinge sucht, „verkrümmt“101. Die Beziehung zu ihrem göttlichen Ursprung ist gestört. Dennoch verliert sie nicht ihre Fähigkeit, „aufnahmefähig für die Ewigkeit“102 zu sein: „Und diese Fähigkeit wird sie niemals verlieren, selbst wenn sie diese tatsächlich nie entwickelt.“103
Gott hat dieses „Abzeichen des göttlichen Adels“104 im Menschen geschaffen, die Ähnlichkeit der Seele mit dem Wort, damit die Seele niemals von Gott ganz getrennt werde, und sie „in sich selbst vom Wort her eine mahnende Stimme habe, treu beim Wort zu verbleiben oder zu ihm zurückzukehren“105, wenn sie sich von ihm wegbewegt habe.
„Die Seele beachte also, dass ihr aus dieser angeborenen göttlichen Ähnlichkeit jene natürliche Einfachheit ihres Wesens innewohnt, durch die ihr Sein und Leben dasselbe sind, wenn nicht auch dasselbe, wie gut oder selig zu leben, so dass nur Ähnlichkeit besteht, nicht Gleichheit. Eine nahe Stufe zwar, aber dennoch eine Stufe. Denn es bedeutet nicht die gleiche Auszeichnung und denselben Rang, ein Sein zu besitzen, das Leben ist, und ebenfalls dieses Sein zu besitzen, das aber seliges Leben ist. Wenn also letzteres wegen der Erhabenheit zum Wort gehört, das andere aber wegen der Ähnlichkeit zur Seele, dann ist offenbar die Verwandtschaft der Naturen, unbeschadet freilich der Überlegenheit des Wortes, und offenbar der Vorrang der Seele. Um das Gesagte verständlicher zu machen: nur für Gott allein bedeutet Sein soviel wie Seligsein: das aber ist das erste und reinste Einfache. Ein zweites aber ist diesem ähnlich (Mt. 22,39): nämlich dasselbe als Sein zu besitzen, was Leben ist. Das aber ist der Seele eigen.“106
Daraus schließt Bernhard:
„Von hier aus kann man, wenn auch auf einer niedrigeren Stufe, aufsteigen, und zwar nicht nur um gut, sondern um selig zu leben. Das bedeutet aber auch dann für den, der dorthin gelangt, noch nicht, dass für ihn Sein und Seligsein dasselbe ist.“107
Bernhard betont ausdrücklich:
„Wieviel er sich wegen der Ähnlichkeit rühmen mag, trotzdem muss er wegen des Unterschieds immer Grund haben, dass alle seine Gebeine sprechen: ‚Herr, wer ist dir ähnlich?‘ “108
Die Unähnlichkeit der menschlichen Seele mit Gott, die durch die Ursünde des ersten Menschenpaares verursacht worden ist109, jedoch „keine Zerstörung der Natur, sondern eine Beschädigung“110 hervorgerufen hat, kann auf einer niedrigen Stufe überwunden werden:
„Wodurch? In der Liebe. Paulus sagt: ‚Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder, und liebt einander, weil auch Christus euch geliebt hat.‘ “111
Die Seele des Menschen soll mit der Liebe des Wortes gleichförmig werden. Die Ähnlichkeit mit dem Wort, die der Seele in die Natur gelegt worden ist, soll durch Ähnlichkeit bzw. Gleichförmigkeit („conformitas“) im Willen vollkommener werden, indem die Seele liebt, „wie sie geliebt ist“112:
„Diese Gleichförmigkeit vermählt die Seele mit dem Wort. ... Wenn sie also vollkommen liebt, hat sie sich vermählt. ... Es ist eine Umarmung. Ja eine Umarmung, wo dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen aus zweien einen Geist macht.“113
Bei der Erwiderung der göttlichen Liebe des Wortes spielt für Bernhard der freie Wille des Menschen eine entscheidende Rolle: Der freie Wille ist nämlich der Teil der Seele, in dem die Ähnlichkeit mit dem Urbild Gottes aufscheint. Der freie Wille ist das Geschenk Gottes an die Seele114:
„Durch den freien Willen nämlich hat die Seele in sich Erkenntnis der Unterscheidung und die Möglichkeit der Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen Tod und Leben, zwischen Licht und Finsternis und anderen im Bereich des Sittlichen auftauchenden Gegensätzen im Gehaben des menschlichen Geistes. Zwischen all dem urteilt und scheidet ein unbestechlicher Schiedsrichter, dieses Auge der Seele, ebenso sachlich im Unterscheiden als frei in der Wahl. Daher sagt man ja auch ‚freies Wahlvermögen‘, weil es der Seele freisteht, sich hier nach dem Wahlvermögen des Willens zu bewegen. Von daher ist der Mensch fähig, verdienstlich zu handeln: alles nämlich, was du Gutes oder Böses tust, obgleich es dir freistand, es nicht zu tun, wird dir zurecht angerechnet. Und unverdientermaßen wird nicht nur der gelobt, der das Böse tun konnte, es aber tat. Ebenso wird zurecht wegen Missverdienst getadelt, wer das Böse unterlassen konnte und es trotzdem tat, als auch wer das Gute tun konnte und es nicht tat. Wo aber keine Freiheit ist, da ist auch kein Verdienst.“115
Deshalb können die Lebewesen, denen der freie Wille fehlt bzw., wie Bernhard einschiebt, die „der Vernunft entbehren“116, weder Verdienste haben noch wegen irgendwelcher sittlicher Verfehlungen gerichtet werden, da sie von ihren Trieben geleitet werden: „Allein der Mensch ist von Natur aus nicht diesem Zwang ausgeliefert, und daher ist er allein unter den atmenden Wesen frei.“117
Wenn der Wille des Menschen eins wird mit der göttlichen Liebe, die dem Menschen durch das Wort geschenkt wird, wenn die Seele des Menschen mit der gleichen Liebe liebt, mit der sie geliebt wird, dann vermählt sich die Seele mit dem Wort Gottes, Christus.
„Dazu kommt, dass dieser Bräutigam nicht nur ein Liebhaber ist, sondern die Liebe selbst. ... Aber ich habe gelesen: ‚Gott ist die Liebe‘ (1 Joh 4,16).“118
Diese Vermählung mit Christus ist eine Vereinigung im Geiste. Der Bräutigam ist nicht Christus in seiner irdischen Gestalt, die Einheit entspricht keiner Gleichförmigkeit in Leiden und Tod119, sondern es ist
„die heilige und keusche Liebe, die zarte und süße Liebe, die ebenso heitere wie lautere Liebe, die gegenseitige, innige starke Liebe, die nicht in einem Fleisch, sondern in einem Geist die beiden verbindet, die bewirkt, dass die zwei fortan nicht mehr zwei, sondern eins sind (Mt. 19,5), gemäß dem Wort des Paulus: ´Wer Gott anhängt, ist ein Geist mit ihm.´(1 Kor 6,17).“120
Es ist der nach Leiden und Tod auferstandene und beim Vater erhöhte Christus, die Göttlichkeit des Sohnes, die sich jedoch den Sinnenkräften des Menschen entzogen hat, mit dem sich die Braut, die menschliche Seele, vereinigt:
„Du siehst, wie sie in der Höhe steht und das Äußerste ihres Geistes nach oben erhebt, da sie den Herrn des Alls mit einem gewissen Besitzeranspruch als Geliebten bezeichnet. Beachte nämlich, dass sie nicht nur ‚Geliebter‘, sondern ‚mein Geliebter‘ sagt, um ihn als ihr eigen zu bezeichnen. Groß ist doch diese Schau („visio“), durch die sie den Herrn des Alls nicht mehr als Herrn kennt, sondern als Geliebten. Ich glaube nämlich, dass ihr dieses Mal keineswegs Bilder des Fleisches, des Kreuzes oder andere, die den körperlichen Begrenztheiten entsprechen, durch die Sinne vermittelt wurden. Bei diesen hatte er nämlich nach dem Propheten ‚keine schöne und edle Gestalt‘ (Jes 53,2). Sie aber preist ihn bei seinem Anblick als schön und edel und beweist damit, dass er sich ihr in einer besseren Gestalt gezeigt hat. ... So beschreibt sie ihn nämlich mit ihrem Mund, wie sie ihn auch in ihrem Geist erblickt, eben in einer erhabenen und beglückenden Erscheinung. Den König mit seiner ganzen Schönheit sahen ihre Augen, doch nicht als König, sondern als Geliebten. So sah ihn freilich einer auf einem hohen und erhabenen Thron (Jes 6,1), und ein anderer bezeugt, er sei ihm sogar von Angesicht zu Angesicht erschienen (Gen 32,30).“121
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Durch Bernhard von Clairvaux kam es in der Spiritualität der Kirche zu einer wesentlichen Erneuerung, nämlich zu einer „Emotionalisierung der Gottes- beziehung“122:
„Emotionalisierung in dem Sinne, dass nun mehr, ganz anders als im Frühmittelalter, eine Liebesbeziehung zu Gott aufgebaut wird.“123
Dadurch änderte sich auch das Christusbild.124 Aus dem Himmelskönig Christus wurde nun der Bräutigam, der Geliebte, und der Mensch wurde zur „Braut“:
„Vorher hieß es: ‚der König‘, jetzt: ‚der Geliebte‘, vorher: ‚auf dem königlichen Lager‘, jetzt: ‚an der Brust der Braut.‘ “125
Da für Bernhard die Liebe – wie wir gesehen haben – „fleischlich“, d.h. kreatürlich und sinnlich beginnt, muss auch Gott zuerst auf dieser Ebene geliebt werden. Diese Liebe beginnt mit der sinnlichen Liebe zur irdischen Gestalt Christi: Bernhard hat somit den
„entscheidenden Anstoß für die meditative Beschäftigung mit dem historischen Jesus gegeben. Die ungemein intensive Devotion zum leidenden Heiland und zum Christkind, die vom Spätmittelalter bis in den Barock hinein das erlebnismystische Leben prägen und, von dort übernommen, auch in der Volksfrömmigkeit dominieren sollte, ist in seinen Schriften in entscheidender Weise vorbereitet. Durch den weiten Umlauf seiner Werke wurden zahlreiche religiös empfängliche Menschen mit Meditationstexten konfrontiert, die sie in ihrem ekstatischen Erleben in visionäre Bilder umzuwandeln vermochten. Wenn man sich jetzt auf die Menschheit Christi konzentrierte, statt auf seine Gottesnatur, so ist dies ein zentrales Indiz für die mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen, die sich im hohen Mittelalter vollzogen.“126
Vor allem die Hoheliedpredigten Bernhards, die von seinen Mitbrüdern, dem sel. Wilhelm von St. Thierry (1085/90-1148/49)127 und Gilbert von Hoyland (+ 1172)128 ergänzt und kommentiert wurden, wirkten auf das religiöse (mystische) Leben129:
„Die spätmittelalterlichen Mystiker, die die erotische Symbolisierung der Gotteserfahrung in der Seele näher ausführten, kehrten immer wieder zu Bernhards Sermones super Cantica canticorum zurück. Sogar als sie die Einung mit Gott nicht mehr in der Form eines Hoheliedkommentars ausdrückten, behielten die Predigten Bernhards ihre Faszination.“130
Bernhards Gedanken wurden seit dem 13. Jahrhundert von den Frauen begeistert aufgegriffen131: „Manches in den Visionen der Frauenmystik scheint eine unbewusste Umsetzung seiner Metaphern in erfahrene Realität zu sein.“132
Mit Margarete Ebner wollen wir hierzu eine Mystikerin aus dem Umkreis Taulers zu Wort kommen lassen133:
„Ich het grozzen lust und begird, daz ich den kus enphieng mit minem herren sant Bernhart und umbvangen würde mit der minne siner arme, und daz er mir ain grif in daz hertz tät.“ 134
„Ich habe eine große Lust und (ein großes) Begehren danach, dass ich zusammen mit meinem Herren Sankt Bernhard den Kuss (Christi) empfange und von seinen liebevollen Armen umfangen würde, und dass er mir einen Griff in mein Herz täte.“