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Anschließend legte er ganz sanft den Hörer auf die Gabel, so als befürchte er, dass der Mann am anderen Ende noch in der Leitung sein und durch ein Aufknallen erschreckt werden könnte. Dann wandte er sich erneut Kappe zu und zog die dicken Augenbrauen dabei noch weiter zusammen. «So, Sie haben mitgehört, Herr Kriminaloberkommissar? Gut. Der Fall fällt ab sofort in Ihre Zuständigkeit. Kann Ihnen aber niemanden mitgeben. Wir haben keine Leute. Kollege Rückert ist auf Lehrgang. Außerdem: Sie wissen doch selbst, dass ab 27. Mai das große Deutschlandtreffen der FDJ sowie der ›Kongress junger Friedenskämpfer‹ ins Haus stehen. Wir müssen dafür sorgen, dass es beim Frieden bleibt. Und dann noch die schrecklichen Morde in der Reichenberger Straße! Jede Menge Arbeit, da brauchen wir jeden Mann. Können doch den Kollegen Ost bezüglich der Aufklärungsquote nicht hinterherhinken. Schauen Sie sich diese Witwe mal an! Vielleicht ist nichts dran, und da will nur so eine einsame Oma jemanden zum Reden haben.»
Kappe sank in sich zusammen. Keunitz strahlte Zufriedenheit aus. Kappe konnte die Gedanken seines Chefs förmlich hören: Nun konnte ihm niemand mehr vorwerfen, er habe nicht angemessen reagiert. Immerhin, es ging um einen Fachmann im Fernmeldewesen. In Berlin, der geteilten Stadt, die zum Drehkreuz von Spionage und Gegenspionage geworden war, löste allein diese Berufsbezeichnung erhöhte Alarmbereitschaft aus. Kappe wusste, dass Keunitz Agenten jedweder Art und ganz egal, ob sie von den Sowjets, den Amerikaner, den Engländern oder den Franzosen kamen, keineswegs romantisch fand. Jedenfalls viel weniger romantisch als in diesem Film Der dritte Mann mit Orson Welles, der letztes Jahr herausgekommen war. Kappe hatte ihn zusammen mit Klara angeschaut. Gut, er spielte in Wien. Aber so anders lief es hier in Berlin auch nicht ab. Wien war ebenfalls viergeteilt, auch die Bürger der österreichischen Hauptstadt mussten sich mit dem Viermächtestatus abfinden.
Dieser Keunitz war eine bemerkenswerte Erscheinung. Er wirkte imposant. Das musste aus seinem Innern kommen, vermutete Kappe. Im Hinblick auf die Körpergröße hatte der Schöpfer ihn nämlich nicht übermäßig gut bedacht. Ähnlich war es wohl bei Napoleon gewesen, auch der musste innen imposanter gewesen sein, als er von außen aussah. Das Einzige, was an Keunitz äußerlich imposant war, waren seine mächtigen Augenbrauen und die Bartstoppeln, die seinem Gesicht schon nach einem halben Tag ein unrasiertes Aussehen gaben. Kappe hatte die Vermutung, dass Keunitz auch auf dem Kopf eine ziemliche Putzwolle spazieren tragen würde, wenn er seine Haare nicht militärisch kurz geschoren hätte. So etwas wie einen Mopp. Ansonsten wirkte er beim genaueren Hinschauen, als könne ihn der nächste heftige Windstoß umblasen, kurz und spillerig, wie er war.
«Wir haben keine Leute», hatte Keunitz gesagt. Klar, das wusste Kappe. Es gab schon seit Wochen in allen Westabteilungen einen Riesenaufstand wegen dieser FDJ-Veranstaltung. Mein Gott, das waren doch noch Kinder! Aber Kinder des Feindes. Hörte das denn nie auf?
Die Morde in der Reichenberger Straße waren wirklich eine scheußliche Sache. Am 17. Mai war im Südosten Berlins die Zigarrenhändlerin Charlotte Kunike erstochen aufgefunden worden. Sie sollte sogar ihren eigenen Tod vorausgeahnt und am Morgen ihres Todestages einem jungen Mann erklärt haben: «Ich habe etwas Furchtbares geträumt. Stellen Sie sich vor, im Traume hat mich ein Toter geküsst!» Eine halbe Stunde später war sie gefunden worden – mit einem Brotmesser im Hals. Und erst an diesem Morgen hatten sie gegenüber dem Schauplatz dieses Verbrechens die zerstückelte Leiche der viereinhalbjährigen Margit Holzhausen gefunden. Es gab Zeugen, die den Täter gesehen haben wollten. Und nun war die Jagd eröffnet. Ausnahmsweise arbeiteten in dieser Angelegenheit Kripo Ost und Kripo West mal wieder zusammen und nicht gegeneinander. Wenn es um Kinder ging, hatten die Ideologien zu schweigen. Ab und an jedenfalls.
Bei diesem Stand von Kappes Überlegungen gab der Fernsprechapparat auf Keunitz’ Schreibtisch plötzlich schrille Klingeltöne von sich, weshalb der Kriminalrat in Windeseile den Hörer von der Gabel nahm. Keunitz war noch sehr darauf bedacht, bei seinen Vorgesetzten nicht unangenehm aufzufallen. Er nickte, zog erneut die Augenbrauen zusammen und legte dann die Stirn in Falten.
In Kappe verfestigte sich die Überzeugung, dass mit diesem Gerhard Schmücke tatsächlich etwas nicht stimmte, dass die Besucher im Haus dieser Weddinger Witwe irgendwem aus den oberen Rängen im Polizeipräsidium West Unbehagen bereiteten. Und dass dieser gewisse Jemand aber lieber nicht wollte, dass der Fall an die große Glocke gehängt wurde, denn sonst stünde Kappe jetzt nicht noch immer allein im Büro des Chefs, sondern wäre längst Teil einer eiligst zusammengewürfelten Sonderermittlertruppe.
Mit wem Keunitz wohl telefonierte? Der sagte auch nach zwei Minuten noch immer nichts außer «Ja, ja ja, jawohl». Kappe vermutete, dass sich Polizeipräsident Dr. Johannes Stumm höchstpersönlich eingeschaltet hatte. Einen anderen als Keunitz hätte er einfach geradeheraus gefragt. Doch seinen neuen Chef kannte er noch nicht so gut.
Nun saß Kappe also bei dieser Witwe Wuttke. Seine Gedanken schweiften weiter. Natürlich – die Kattegatstraße lag nicht weit von der Wollankstraße entfernt, die jeden, der ihr in östlicher Richtung folgte, vom französischen in den sowjetischen Sektor Berlins führte! Und dann noch ein Fernmeldefachmann! Hatte es denn keinen anderen Kommissar treffen können? Kappes Nase juckte, und das bedeutete: Dieser Schmücke brachte Ärger.
Wilma Wuttke kam mit dem Schlüssel zurück. Kappe schreckte hoch. «Tut mia leid, Herr Oberhauptkommissar. Ick hab den Schlüssel nich gleich jefundn. Denn lassen Se uns mal nach oben gehen!»
Kappe schüttelte den Kopf. «Nein, gnädige Frau, das geht leider nicht. Sie müssten unten bleiben. Wer weiß, was ich da oben finde. Vielleicht ist Ihrem Nachbarn ja was passiert.»
«Mein’ Se? Nee, sicher nich hia. Den ham se doch mitjenomm.»
«Verstehe», sagte Kappe, der nicht sicher war, ob er das alles verstand, aber hoffte, in der Wohnung dieses Schmücke Aufklärung zu erhalten. «Jedenfalls ist es besser, ich gehe erst mal allein.»
«Na jut, wenn Se meinen, Herr Kriminaler.»
Dem Umstand, dass Wilma Wuttke ihm in der Anrede kurzerhand wieder alle Dienstränge weggenommen hatte, entnahm Kappe, dass sie sehr unzufrieden mit ihm war. Er nickte ihr zum Abschied zu und erklomm die Treppe in den Vierten. Er hörte, wie die Türe der Witwe zuknallte.
Der Schlüssel verschaffte ihm ohne Probleme Zutritt zur Wohnung dieses Schmücke. In der nächsten Sekunde stockte er in der Bewegung. Im Flur lag Papier herum. Ein Schränkchen war umgekippt, eine Schublade herausgerissen, die beiden anderen gähnten ihm geöffnet entgegen. «Hallo, ist hier jemand? Herr Schmücke? Kappe, Kriminaloberkommissar. Ist Ihnen etwas passiert?»
Keine Antwort.
Er ging vorsichtig weiter und spähte um die Ecke in die Stube. Nein, hier war niemand. Aber es war ganz sicher jemand da gewesen. Und dieser Jemand hatte in der Wohnung gewütet wie ein Berserker. Die Kommode, der Schrank, der Tisch und die Stühle waren nur noch Sperrmüll. Aus der Sofapolsterung und der Matratze im Schlafraum quollen die Gedärme in Form von Putzwolle und alten Lappen. Die Bilder an der Wand, zwei Drucke von Miró, hingen schief. Die Anrichte in der kleinen Küche bestand nur noch aus herumliegenden Brettern, das Geschirr war zerschlagen worden.
Es knirschte unter Kappes Füßen. Er bückte sich und hob einen silbernen Bilderrahmen hoch. Silber – oho! Das Glas war zersplittert, doch zwei der Personen auf der Fotografie waren noch gut zu erkennen. Eine ältere Frau, um die vierzig vielleicht, sowie ein junges Mädchen, beide mit lockigen blonden Haaren und hellen Augen, soweit er das auf der Schwarzweißaufnahme erkennen konnte. Offenbar Mutter und Tochter. Sie standen in Wintermänteln, dem Anschein nach umgeschneidert aus Wehrmachtsbeständen, vor dem Zaun eines gutbürgerlichen Einfamilienhauses mit Garten in einer Gegend, die Kappe nicht erkannte. Zwischen ihnen, den rechten Arm um die Schulter der Frau gelegt, stand ein Mann in der Uniformjacke der Geheimen Feldpolizei. Kappe vermutete, dass er etwa gleich alt sein könnte wie die Frau, konnte es jedoch nicht genau erkennen. Sein Gesicht war etwas zerkratzt, wahrscheinlich von den Glasscherben. Kappe nahm an, dass das Schmücke war.
Das Gefühl, dass dieser Schmücke Ärger machen würde, wurde noch intensiver. So, so, Geheime Feldpolizei … Das war die «Ordnungstruppe» der Nationalsozialisten innerhalb der Wehrmacht gewesen. Sie hatten spioniert, denunziert, Partisanen verfolgt, gefoltert und getötet. Insbesondere in den von den Deutschen besetzten sowjetischen Gebieten und kommandiert von Angehörigen der Gestapo oder der Kriminalpolizei. Wenn er es recht überlegte, wusste er nicht allzu viel über diese Leute. Alle Mitglieder der Geheimen Feldpolizei und auch ihre zivilen Helfer waren beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zu absolutem Stillschweigen verpflichtet worden. Kappe vermutete, dass diese Mauer des Schweigens bis heute mehr als nur einen fanatischen Nationalsozialisten schützte. Man redete nicht, auch nicht übereinander. Es war eine verschworene Gemeinschaft.
So, und dieser Schmücke war angeblich Fernmeldefachmann, hatte also mit Nachrichtenaustausch zu tun, und trug früher die Uniform der Geheimen Feldpolizei. Was für eine Mischung! Das konnte ja heiter werden! Kappes Blick wanderte zwischen der Frau und dem Mädchen auf dem Foto hin und her. Schmücke hatte also Familie. Nun mussten sie nur noch herausfinden, wo sie lebte. Und wo er selbst steckte.
Offensichtlich hatte der Mann Feinde, was bei der Vergangenheit eigentlich nicht weiter verwunderte. Möglichkeiten gab es da genug. Es konnte sich zum Beispiel um ehemalige Partisanen handeln, die es ins Nachkriegsberlin verschlagen hatte, oder um Bewohner von ehemals besetzten Gebieten, die nach Rache dürsteten. Wer auch immer in Schmückes Wohnung eingedrungen war, er musste sehr zornig gewesen sein. Wenn die Eindringlinge schon den Möbeln mit einer derartigen Brachialgewalt begegnet waren, bedeutete das nichts Gutes für die körperliche Unversehrtheit des Bewohners. Kappe überlief es siedend heiß. Und wenn gar die Familie zu Besuch gewesen war? Nein, die Witwe Wuttke hatte nichts dergleichen erwähnt. Er durfte aber nicht vergessen, sie demnächst danach zu fragen.
Doch zunächst war das hier ein Fall für die Spurensicherung. Hoffentlich konnte er Klingbeil von der Kriminaltechnik loseisen, einen etwas weichlich wirkenden Mann, aber einen der detailversessensten und stursten im Bereich Spurenauswertung, die er kannte. Er brauchte auch Gerhard Piossek, mit dem er sich das Büro teilte. Kappe arbeitete gerne mit dem Kollegen. Er hielt ihn für einen kompetenten Mann. Ansonsten betrachtete er Piossek eher mit zwiespältigen Gefühlen. Der Sohn eines Bäckermeisters aus der Lichtenberger Pfarrstraße galt bei vielen Kollegen als arrogant. Er konnte sehr hochfahrend sein und war einst mit einiger Begeisterung in die NSDAP eingetreten. Zum Glück hatten ihn gnädige amerikanische Offiziere beim Entnazifizierungsverfahren als «Mitläufer» eingestuft, deshalb hatte er seine Laufbahn bei der Berliner Kriminalpolizei fortsetzen können. Vermutlich war es hilfreich gewesen, dass bei den Kämpfen in Polen seine rechte Hand durch einen Granatsplitter verstümmelt worden war. Kappe akzeptierte Gerhard Piossek als Kollegen. Doch dass sie einmal Freunde würden, hielt er für ausgeschlossen, obwohl sie schon etliche gefahrvolle Situationen miteinander durchgestanden hatten.
Während Kappe die Treppen hinunterstürmte, vorbei an der Wohnungstüre von Wilma Wuttke, fiel ihm noch etwas auf. Seltsam, das Wüten in Schmückes Wohnung musste einen Heidenlärm gemacht haben. Normalerweise aber vermieden es Verbrecher, auf sich aufmerksam zu machen. Hatten sie es in diesem Fall vielleicht darauf angelegt, dass jemand aufmerksam wurde? Jemand wie Wilma Wuttke?
Kappe war schon an der Wohnungstür der Witwe vorbei, als diese geöffnet wurde und die Frau ihm hinterher schaute. Sie hätte ihm von dem Hintereingang erzählen sollen, von dem aus man durch den Hinterhof in den Keller des angrenzenden Trümmerhauses kam, dachte sie. Das hatte sie bei all der Aufregung vergessen. Nun ja, bei nächster Gelegenheit würde sie das nachholen.
KAPITEL ZWEI
in dem Marie Palmer kurzen Prozess macht
GEGEN MITTAG war Marie Palmers Selbstbewusstsein zur Größe eines Staubkorns zusammengeschnurrt. Was war sie heute Morgen noch stolz und glücklich gewesen! Nicht nur, dass sie es geschafft hatte, einen Platz als freie Mitarbeiterin der Redaktion des Berliner Tagesspiegel zu bekommen. Darüber hinaus hatte sie noch einen Auftrag als Gerichtsreporterin bei ebendieser Zeitung ergattert. Und nicht irgendeinen Auftrag, sondern diesen.
Chefredakteur Erik Reger höchstselbst hatte gestern das Bewerbungsgespräch mit ihr geführt. Dabei war sie doch ein Niemand, eine von vielen jungen Menschen, die derzeit nach Berlin strebten und hofften, dort trotz der Teilung der Stadt ihr Glück zu finden. Vielleicht weil er wie sie selbst aus dem Rheinland kam. Nach einem ersten kritischen Blick auf ihre kurzen, karottenrot gefärbten Haare und einem anschließenden, sehr positiv verlaufenen Gespräch hatte er ihr eine Broschüre in die Hand gedrückt, quasi als Begrüßungsgeschenk.
Im Vademecum waren die strengen Sprachregeln des Hauses aufgelistet. Verpönt waren unter anderem die Worte vornehmen und durchführen. Alle aus dem Griechischen stammenden Begriffe mussten mit ph und durften nicht mit f geschrieben werden.
Danach hatte Reger sein Asketengesicht leicht zu etwas verzogen, von dem Marie annahm, dass es ein Lächeln sein sollte, ihr auf die Schulter geklopft und gesagt: «Dann mal los, Mädchen!» Darüber hinaus hatte er sie auf ihre flehentliche Bitte hin als «Aushilfe zur Probe» zu dem Prozess ins Moabiter Kriminalgericht abgeordnet. «Also gut, wenn Sie das derart interessiert! Ist vielleicht nicht mal schlecht. Corvus ist unser Mann für die GladowProzesse. Passen Sie gut auf, von dem Können des Kollegen können Sie sich eine Scheibe abschneiden!»
Erst Tage später begriff Marie, dass der Tagesspiegel wegen der Insellage West-Berlins in diesen Tagen ums Überleben kämpfte. Die Anzahl der Abonnements war seit der Gründung der beiden deutschen Staaten und wegen der Schwierigkeiten während der Berlin-Blockade in den Keller gerauscht, im Osten lasen sie andere Blätter. Einige gute Leute waren gegangen, im Ullsteinhaus auf dem Tempelhofer Feld herrschte nicht nur ein finanzieller, sondern auch ein personeller Engpass. Sie war gerade im richtigen Moment aufgetaucht – eine Anfängerin zwar, deswegen aber auch nicht zu teuer. Und vor allem keine Festangestellte, sondern eine Freiberuflerin.
Hans Corvus war an diesem Morgen jedoch verhindert. Plötzlicher Zahnarzttermin, hatte er ausrichten lassen. Er würde aber bald nachkommen. Marie gestand sich ein, dass sie froh darüber wäre, wenn er endlich eintrudelte. Denn sie schwamm gehörig, obwohl sie sich gestern im Archiv noch schnell in die Fakten eingearbeitet hatte. Es war nämlich schon der zweite Prozesstag, auf der Tagesordnung standen Zeugenvernehmungen. Und sie verstand fast nichts. Wegen der schlechten Akustik im Gerichtssaal verrauschte jedes gesprochene Wort zu einem Raunen. Sie musste sich zusammenreißen. Vielleicht würde sie heute dem Mann begegnen, nach dem sie schon so lange suchte – ihrem Stiefvater, Dieter Krug, der heute als Zeuge aussagen sollte.
Die Angeklagte in diesem Verfahren hieß Sigrid Dehne. Ihr wurde schwerer Raub in Tateinheit mit versuchtem Mord vorgeworfen. Sie sollte Mitglied der berüchtigten Gladow-Bande gewesen sein und im April 1949 beim Überfall auf einen Kaufmann mitgemacht haben, zusammen mit dem Bandenchef Werner Gladow und drei Komplizen, darunter dem Henker-Hannes.
Inzwischen war es bald zwölf, und Marie wusste aus den laufenden Zeugenbefragungen immerhin, die junge Frau mit dem ziemlich unerotischen Namen Sigrid Dehne nannte sich im Berufsleben Jane, nach ihrem großen Vorbild, der US-Schauspielerin Jane Wyman, und war Prostituierte. Und zwar trotz ihrer Jugend – oder vielleicht gerade deswegen – eine Prostituierte der besseren Art und zudem sehr beliebt bei ihren Kolleginnen, von denen drei Stein und Bein schworen, dass die Jane so was nie und nimmer getan habe. Sie sei die Sanftmut in Person. So viel zumindest hatte Marie mitbekommen.
Sie starrte auf ihren Block. Da stand bisher nichts. Hoffentlich war dieser Hans Corvus nicht allzu streng. Sie kannte ihn noch nicht. Du liebe Güte – wenn er sah, dass sie bisher nichts notiert hatte, dann musste sie sich ja zu Tode schämen.
Sigrids Freier aus den gehobenen Kreisen, von denen an diesem Morgen immer mal wieder die Rede gewesen war, würden erst am Nachmittag aussagen, natürlich nicht öffentlich, damit die Herren nicht kompromittiert würden. Das galt auch für Dieter Krug. Bei diesem Namen krampfte sich wie immer ihr Magen zusammen. Irgendwann würde sie dem Mann heimzahlen, was er ihrer Mutter angetan hatte.
Da es sich bei der 5. Großen Strafkammer nicht um ein Jugendgericht handelte, musste diese Sigrid Dehne mindestens achtzehn Jahre alt sein. Sie sah jedoch aus wie sechzehn, ein halbes Kind. Vielleicht hatte sie sich auch älter gemacht, um zum Anschaffen gehen zu können, und kam nun aus der Nummer nicht mehr heraus. Arme Kleine. Zierlich und völlig ungeschminkt saß sie da auf ihrem Armesünderstühlchen und wirkte, als könne sie kein Wässerchen trüben. Marie betrachtete die junge Frau. Unvorstellbar – diese so verletzlich wirkende Jane sollte an einem derart brutalen Überfall beteiligt gewesen sein? Ob sie wohl die Gelegenheit erhielt, mit ihr zu reden? Wenn sie ihre Sache gut machte, würde sie vielleicht weitere Aufträge für diesen Prozess und andere Themen bekommen. Und die brauchte sie unbedingt, um in Berlin bleiben und mit Hilfe ihrer Stellung als Tagesspiegel -Reporterin auch noch ihre eigenen Nachforschungen anstellen zu können.
Marie wurde zunehmend nervös. Ob dieser angekündigte Zeuge wirklich der Dieter Krug war? Ob sie ihn trotz der nichtöffentlichen Vernehmung irgendwie zu Gesicht bekommen konnte? Sie musste in der Mittagspause unbedingt versuchen, den Referendar zu erwischen, den der Staatsanwalt mitgebracht hatte. Er sah nett aus.
Der Vorsitzende Richter donnerte mit dem Hammer auf den Tisch, Marie schreckte hoch. Mittagspause. Vielleicht kam jetzt eine Gelegenheit, etwas mehr zum Fall und zu den Zeugen zu erfahren.
«Na, Schwierigkeiten? Keine Bange, das wird schon. Das geht anfangs vielen so. Besonders bei Fällen wie diesem.»
Marie hatte ihren Sitznachbarn bisher nicht beachtet. Sie drehte den Kopf zu ihm. «Wie kommen Sie darauf?», erwiderte sie eisig.
Er ließ sich nicht beirren und tippte mit dem Finger auf ihren leeren Block. Dann grinste er. «Nun, da steht herzlich wenig.»
«Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram!», fauchte Marie zurück.
«Oh, entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein! Ich wollte nicht aufdringlich werden. Nur helfen. Gestatten Sie, John, John Weißbrot. Ich bin Amerikaner, Mitarbeiter von Generalmajor Maxwell Taylor, Sie wissen schon, dem Kommandanten des amerikanischen Sektors und der alliierten Truppen in Berlin. Ich kenne hier viele der Juristen. Ich hätte Sie mit einigen bekannt machen können, die Ihnen weiterhelfen. Aber wenn Sie keinen Wert darauf legen …»
Doch! Das war genau die Hilfe, die sie brauchte. Dafür würde sie sogar diesen unverschämten Kerl in Kauf nehmen, dachte Marie und schaute genauer hin. Eigentlich sah er ganz gut aus, trotz der GI-Frisur. Das spitzbübische Grinsen gab ihm etwas Jungenhaftes. Und ein Grübchen im Kinn hatte er auch. Sie schmolz in schöner Regelmäßigkeit dahin, wenn ein Mann ein Grübchen im Kinn hatte. «Doch, doch», sagte sie schnell und versuchte sich in einem versöhnlichen Lächeln.
«Na, dann wollen wir mal! Viele Anwälte, Referendare und Zeugen stehen in der Pause vor dem Saal auf der Galerie oben in der Haupthalle, nahe dem Scheitel der schönen Kuppel, you know. Dort, wo die Tierkreiszeichen weiß und golden blinken – sozusagen als Mahnung, dass über diesem irdischen Jammertal allein der Himmel regiert.»
«Auch noch ein Romantiker», erwiderte sie trocken und wunderte sich, dass er so gut Deutsch sprach. Das ließ in Verbindung mit seinem Nachnamen nur einen Schluss zu. Doch sie kannte ihn nicht, und sie konnte ihn wohl kaum fragen, ob er aus einer ausgewanderten jüdischen Familie stammte.
Vor dem Saal steuerte Maries neuer Bekannter auf den Verteidiger der Prostituierten Jane zu. Der stand auf einer der grünblau belegten, messinggefassten Steinstufen, hatte sich zur Saaltür hin ans Geländer gelehnt und sagte gerade zu einem kompakt wirkenden älteren Herrn: «Was meinen Sie, wie’s ausgeht, Herr Kriminaloberkommissar?»
Der Angesprochene zuckte die Schultern. «Selbst unsereiner hat es schwer, so was einzuschätzen. Ich kann nur sagen, was ich von diesem Zeugen, diesem Schlüter, gehört habe. Vielleicht hilft das ja Ihrer Mandantin.»
«Sie auch hier, Kappe? Lange nicht gesehen!», orgelte Maries neuer Bekannter und tippte dem untersetzten Kriminaloberkommissar auf die Schulter.
Der drehte sich um. «Ah, der Pilot! Schön, Sie mal wieder zu sehen. Schnieke Bomberjacke!» Eines seiner vergissmeinnichtblauen Augen zwinkerte dem Amerikaner zu.
Dieser Kappe musste um die sechzig sein, schätzte Marie. Aber das war schwer zu sagen, er hatte ein fast faltenloses, noch immer rundes Kindergesicht, und seine Nase war wie ein kleiner Knubbel. Der Mann wirkte gemütlich. Nur der Blick verriet, dass er schon viel gesehen haben musste. Marie hatte den Eindruck, dass diesen wachen Augen nichts entging.
Moment, wie hatte Kappe ihren Begleiter genannt? Pilot. Marie registrierte jetzt, was sie in der Aufregung übersehen hatte. Der Mann trug eine dieser Bomberjacken aus Schaffell der United States Air Force. Bomberjacke – das Wort schwang in ihr nach. Besonders der erste Teil. Sie bekam eine Gänsehaut. Den Schrecken der Bombennächte, als sie und die Mutter zum zweiten Mal vor dem Nichts gestanden hatten, mit vom Phosphor verbrannten Haaren, abgesengten Augenbrauen und nur noch im Nachthemd, hatte sie noch deutlich vor Augen. Die Haare waren nachgewachsen, aber die Alpträume geblieben. Sie rückte ein wenig von ihrem neuen Bekannten ab.
Der gab sich den Anschein, nichts zu bemerken. «Was höre ich da, der Arm des Gesetzes hilft heute der Angeklagten?», fragte er den Kommissar.
«Ich versuche nur, der Wahrheit auf die Sprünge zu helfen», erwiderte Kappe knapp.
«Im Zweifel für den Angeklagten», ergänzte der Verteidiger, ein noch recht junger Mann, hoch aufgeschossen, fast schlaksig, mit ziemlich langen Armen. Marie hatte das Gefühl, dass er nicht wusste, wo er seine Hände lassen sollte. Vermutlich ein Pflichtverteidiger, der versuchte, sich die ersten Sporen zu verdienen und Erfahrungen zu sammeln, dachte sie.
«Das ist der Doktor der Rechte Peter Ostertag. Peter, das ist … eine junge Dame, deren Namen ich nicht kenne, die aber offenbar den Auftrag hat, von diesem Prozess zu berichten. Doch sie ist neu hier und schwimmt. Zumindest habe ich das ihrer Art zu beobachten und ihrem leeren Block entnommen. Sie braucht einen Ansprechpartner, der ihr weiterhilft. Stimmt doch, oder, Fräulein …»
«Marie, Marie Palmer. Ich schreibe für den Tagesspiegel.» Es erfüllte sie mit – wie sie fand, albernem – Stolz, das sagen zu können. Dass sie in Sachen Gerichtsberichte eine vollkommene Anfängerin war, brauchte sie den Herren nicht unbedingt auf die Nase zu binden. Dann gab sie sich einen Ruck und strahlte den jungen Pflichtverteidiger an. «Es ist wahr, ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen.»
Weißbrod grinste. «Der Tagesspiegel residiert doch im Ullsteinhaus im amerikanischen Sektor, da unterliegen Sie sozusagen meinem Zuständigkeitsbereich. Grüßen Sie Reger und Karsch von mir!»
Marie nickte nur. Mit dem Namen Karsch konnte sie noch nichts anfangen. Sie sollte den bekannten Theaterkritiker und Kulturjournalisten des Tagesspiegel erst noch kennenlernen.
«Ich lese den Telegraf », warf Kappe ein. «Aber wenn ich Ihnen weiterhelfen kann, mache ich das natürlich trotzdem. Sehen Sie, da hinten, das ist Medizinalrat Doktor Waldemar Weimann. Eine Koryphäe sozusagen. Soll heute Nachmittag sein Gutachten zu unserer Jane abgeben. Er hat beim großen Prozess gegen Bandenchef Werner Gladow und seine Spießgesellen ausgesagt, das ›Doktorchen‹ sei ein armer, erblich belasteter Mensch. Und dass er es unter anderen Umständen weit hätte bringen können, hochintelligent und vielseitig begabt, wie er ist.» Kappe kniff die Lippen zusammen.