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«Sie sind mit seinen Einschätzungen nicht einverstanden?»
«Mein liebes Fräulein, hier geht es nicht um Kinderspiele, auch wenn manche die Verbrechen der Gladow-Bande wegen dieses Robin-Hood- und Al-Capone-Gehabes sogar ein wenig romantisch fanden. Aber dieser Gladow ist kein von den Räuberpistolen über Al Capone fehlgeleitetes Jüngelchen, sondern ein kaltblütiger Mörder und Räuber. 127 schwere und schwerste Straftaten, brutal ausgeführt, waren in der Anklage aufgelistet. Einem der Opfer wurden zum Beispiel die Füße angesengt, damit es sein Geldversteck preisgab. Das hat mit Romantik nichts zu tun. Insgesamt 60 Beteiligte gab es, die mit der Bande zusammengearbeitet haben. 26 wurden wegen geringerer Delikte vorerst freigelassen. Es blieben 34, darunter 7 Frauen. Das hier ist eines der vielen Anschlussverfahren, die derzeit noch laufen. Und meiner Meinung nach hat die Kleine, die sie hier vor Gericht gezerrt haben, nichts mit alldem zu tun gehabt. Jedenfalls deuten meine Ermittlungen darauf hin. Sie wissen, dass Gladow im Ostsektor lebte?»
Marie war verwirrt. «Warum betonen Sie das so?»
John Weißbrod antwortete an Kappes Stelle: «Vor der Teilung der Stadt, das war eine andere Zeit. Während der Verbrechen der Gladow-Bande und in den sieben Monaten, in denen die Staatsanwaltschaft unter Generalstaatsanwalt Berg die Anklageschrift zusammengestellt hat, sind immerhin zwei Staatsgründungen vollzogen worden. Einmal mit der Verkündigung des Grundgesetzes fast genau vor einem Jahr die der Bundesrepublik mit West-Berlin. Und dann die der DDR am 7. Oktober ’49, als unter Führung von Wilhelm Pieck in Ost-Berlin der Volksrat zusammentrat. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Justizbehörden. Jeder will den anderen mit noch besseren Ergebnissen und einer noch höheren Zahl an verurteilten Verbrechern übertrumpfen. Da kann es schon sein, dass einer in der Bewertung von Zeugen und Indizien übers Ziel hinausschießt. Auch Juristen sind nur Menschen.»
Kappe holte Luft, wollte offenbar etwas sagen, entschied sich dann aber anders.
«Natürlich weiß ich, dass Gladow aus dem Osten ist», erwiderte Marie. «Ich komme ja nicht vom Mond.» Der Mann schien ein Besserwisser zu sein, einer, der andere gerne belehrte. Besonders Frauen. Das ging ihr gegen den Strich. Sie lächelte bemüht verbindlich.
«Damals, als es um die Gladow-Bande ging, haben wir mit den Kollegen Ost noch gut zusammengearbeitet. Da konnte uns niemand so schnell gegeneinander ausspielen», schob Kappe jetzt doch noch düster nach. «Das gilt auch für angebliche Zeugen.» Er kniff erneut die Lippen zusammen. Offenbar war er der Meinung, er habe schon zu viel gesagt.
Marie schluckte. Die Träume der Menschen von einem friedlichen Miteinander nach dem Krieg waren ziemlich schnell zerstoben. Es gab schon wieder die Unterteilung der Welt in Freund und Feind, in «wir» und «die». Und schon wieder gab es eine Front. Sie zog sich mitten durch Berlin. Marie zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. «Und wie lauteten die bisherigen Urteile im Gladow-Prozess?»
«Drei Todesurteile», meldete sich jetzt der junge Jurist zu Wort. Wie hieß er noch mal? Irgendwas mit Pfingsten. Ach nein, Ostern. Dr. jur. Peter Ostertag. «Für Werner Gladow sowie seine Komplizen Gaebler und Rogasch. Und die werden auch vollstreckt, das garantiere ich Ihnen. Für die anderen gab es Zuchthausstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich.»
Marie war erschüttert. «Ist in der Bundesrepublik die Todesstrafe nicht abgeschafft?»
Kappe betrachtete sie nachdenklich. «Eher … ausgesetzt, würde ich sagen. Es gibt immer wieder Bestrebungen einflussreicher Leute, die Todesstrafe erneut aufleben zu lassen. Allerdings wird sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr vollstreckt.»
«Und in der Zone ist das anders? Haben Sie deshalb so betont, dass Gladow aus Ost-Berlin stammt?»
«Ja, im Osten ist das anders, da gibt es immer wieder Hinrichtungen», bestätigte Kappe.
Sie atmete tief durch und lächelte zaghaft. «Gut, dass Sigrid Dehne vor einem Westgericht steht. Also ist es wohl besser, Verbrechen im Westen zu begehen, was? Tut mir leid, das war eine dumme Bemerkung. Was hat die junge Frau denn nun genau getan?» Sie zückte Block und Bleistift.
«Sie soll an einem Überfall auf einen Kaufmann beteiligt gewesen sein», antwortete Ostertag. «Und der Herr Kriminaloberkommissar ist heute einmal Zeuge der Verteidigung.» Er warf Kappe einen kurzen Seitenblick zu.
Dieser nickte. «Ja, ich habe damals bei dem Überfall auf den Neuköllner Kaufmann den Passanten vernommen, der das Verbrechen gemeldet hat, einen gewissen Schlüter. Der hat aber nur männliche Täter beobachtet. Er hat mehrfach beteuert, dass keine Frau an dem Überfall beteiligt gewesen sei. Allerdings glaubt die Staatsanwaltschaft aufgrund der eidesstattlichen Versicherung eines wie aus dem Nichts aufgetauchten anderen Zeugen, dass sie doch dabei war.»
«Wann sagt dieser Zeuge aus?»
«Das tut er nicht, zumindest nicht öffentlich», antwortete Kappe. «Er kommt überhaupt nicht hierher. Es wird nur die eidesstattliche Erklärung von ihm verlesen.»
«Und wieso nicht? Ist er einer dieser ehrenwerten Herren, die nicht kompromittiert werden dürfen?»
Kappe warf dem Verteidiger einen hilfeheischenden Blick zu. «Es handelt sich wohl um eine Art V-Mann. Aber mehr weiß ich nicht.»
Marie erkannte, wie unangenehm ihm die Angelegenheit war. Dieser Mann schien sympathisch zu sein. Sachlich und sympathisch. «Einen Namen wird es doch wohl geben, wenn schon kein Gesicht dazu.»
«Krug, Dieter Krug. Der Name steht jedenfalls auf der Tagesordnung, die neben der Tür zum Gerichtssaal aushängt», meldete sich der Verteidiger zu Wort. «Das ist aber sicher ein Deckname. Der Herr Kriminaloberkommissar hat recht, es wird nur seine eidesstattliche Aussage verlesen. Krug behauptet darin, er kenne Sigrid Dehne und habe sie mit Gladow und seinen Leuten ins Haus des Kaufmanns gehen sehen. Das heißt, er müsste vor Ort gewesen sein. Der Zeuge, den Kriminaloberkommissar Kappe vernommen hat, hätte ihn also ebenfalls sehen müssen. Hat er aber nicht. Außerdem fragen wir uns, warum dieser Krug nicht schon für den Hauptprozess gehört worden ist, da er doch alles so genau beobachtet haben will.»
Krug, tatsächlich Dieter Krug. Maries Gedanken überschlugen sich. Also stimmten ihre Informationen, dass der Stiefvater in Berlin war? Sie war allen Hinweisen nachgegangen, die ihre Mutter ihr hatte geben können, war mit dem Foto von ihm, dem einzigen, das sie hatten, von Pontius zu Pilatus gelaufen. Niemand wusste etwas über den Mann zu sagen. Vielleicht auch, weil er auf dem Foto unter einem Baum stand und sein Gesicht im Schatten lag. Marie hatte manchmal das Gefühl gehabt, sie fahnde nach einem Geist. Sie hatte dennoch beim Roten Kreuz eine Suchanfrage aufgegeben. Manchmal geschahen ja Wunder. Doch nichts passierte. Immer wieder hatte sie der Mutter erklären müssen, dass sie ihren Stiefvater noch immer nicht gefunden hatte.
Nach Monaten des vergeblichen Suchens war sie schließlich an einen ehemaligen Kriegskameraden ihres Stiefvaters geraten, einen, der ihm unlängst bei einem Ehemaligentreffen in Berlin wiederbegegnet war. Der mochte den zweiten Mann ihrer Mutter nicht, wollte aber nicht damit herausrücken, weshalb. Nein, hatte er gesagt, die Berliner Adresse kenne er nicht, wolle sie auch nicht kennen. Er könne ihr nur noch einen Tipp geben: Demnächst stehe vor einem Berliner Gericht – vor welchem genau, wisse er nicht – ein Prozess gegen eine Prostituierte an, in den ihr Stiefvater irgendwie verwickelt sei. Der habe bei dem Treffen davon erzählt. Aber nur ganz am Rande. Mehr könne er wirklich nicht sagen. Und wenn er ihr einen guten Rat geben dürfe: Sie solle froh sein, mit diesem Mann nichts mehr zu tun zu haben, und ihn lieber aus ihrem Leben streichen.
Doch das ging nicht. Nicht mit einer Mutter, die sich vor Sehnsucht verzehrte, vor Gram halb verrückt geworden war, Wahnvorstellungen bekommen hatte und nun in einer Heilanstalt dahinvegetierte, mit irgendwelchen Mitteln ruhiggestellt, weil sie mehrmals versucht hatte sich umzubringen. Denn mit diesem Dieter Krug war all ihre Hoffnung, dieses nach dem Tod des ersten Mannes und den Bombenangriffen so mühsam aufrechterhaltene Fünkchen, verschwunden.
Marie hatte ihr Germanistikstudium kurzerhand abgebrochen, ihre Koffer gepackt, ihre kleine Wohnung hinter sich abgeschlossen, war letzten Monat aufs Geratewohl nach Berlin gereist und hatte sich bei verschiedenen Zeitungen beworben. Denn bei einer Zeitung, so ihre Hoffnung, hätte sie gute Möglichkeiten, den Spuren dieses Mannes zu folgen. Da gab es ein Archiv, da gab es Leute, die Gerichtsberichte schrieben, vielleicht sogar über jenen Prozess, von dem der Kriegskamerad ihres Stiefvaters gesprochen hatte. Der Tagesspiegel hatte sie genommen. Deshalb war sie hier. Als sie dann die Prozessankündigung und seinen Namen gelesen hatte, der auf der Zeugenliste stand, hatte sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu diesem Prozess geschickt zu werden. Und nun, nach all den Mühen, sollte sie ihn nicht zu Gesicht bekommen? Moment, hatte der Verteidiger nicht gesagt, Dieter Krug war ein Deckname? Es konnte trotzdem derselbe Mann sein. Vielleicht hatte er diesen Namen schon bei der Heirat mit ihrer Mutter benutzt. Gab es eigentlich viele Männer namens Dieter Krug in Berlin? «Krug? Dieter Krug, sagten Sie?», sagte sie gedehnt.
«Wieso fragen Sie so seltsam?», erkundigte sich Weißbrod. Da läutete der Gerichtsdiener. «Ah, es geht weiter.»
Marie schaute sich um. Wo blieb Corvus nur?
Ostertag lächelte. «Machen Sie sich keine Sorgen, das schaffen Sie! Was ist, John, treffen wir uns nach Abschluss des heutigen Prozesstages mit der jungen Dame in der Gerichtslinde? Schräg gegenüber in der Turmstraße. Dann kann ich ihr alle Fragen beantworten. Sie zieht ein Gesicht, als habe sie noch viele.»
John Weißbrod grinste. «Aber klar doch!»
In Marie machte sich trotz der Enttäuschung, dass sie den Mann, der Dieter Krug hieß, nun doch nicht sehen würde, eine gewisse Erleichterung breit. Wenigstens würde sie alles erfahren, was sie wissen musste, um einen guten Bericht zu schreiben. Und das auch noch aus erster Hand. Vielleicht konnte sie den Verteidiger auch bitten, für sie ein Gespräch mit seiner Mandantin zu arrangieren. Krug und Sigrid Dehne kannten sich angeblich. Also konnte diese ihr vielleicht weiterhelfen.
Der Saal, in dem die 5. Große Strafkammer tagte, war bis auf den letzten Platz besetzt. Aber auch eine halbe Stunde nach Weiterführung der Verhandlung war noch immer kein Corvus erschienen. Marie musste an den Rat denken, den ihr der Kolumnist Hans Neuhaus von der Redaktion des Berlin-Teils des Tagesspiegel gestern mit auf den Weg gegeben hatte: «Sie sollten sich mal im Archiv schlaumachen, Fräulein Palmer! Damit Sie wissen, wohin Sie müssen. Das ist schon ein besonderes Haus, das Moabiter Kriminalgericht. Fragen Sie den Kollegen Corvus, der kann Ihnen allerhand erzählen. Aber damit das klar ist: Sie arbeiten ihm nur zu! Sie können ja schon mal ’n bisschen texten, und wenn der Corvus sagt, es ist gut, dann stimmen Doktor Ewald Weitz als Leiter des Berlin-Teils und Chefredakteur Reger – ich meine das genau in dieser Reihenfolge – vielleicht zu, dass wir Teile ihres Geschreibsels in Corvus’ Bericht übernehmen. Versprechen Sie sich jedoch nicht zu viel!»
Geschreibsel! Hielt dieser Neuhaus sie für eine Analphabetin? Marie schwor sich, dass sie es allen beweisen würde. Sicherheitshalber war sie tatsächlich gestern noch nach Moabit gefahren, um sich das Gebäude des Kriminalgerichtes anzuschauen. Sie wollte wissen, in welchen Saal sie am nächsten Morgen musste, damit sie nicht zu spät kam, weil sie sich in dem riesigen Gebäude verlaufen hatte. Schon als sie durch die kolossale Haupthalle gegangen war, 29 Meter hoch, 3 Meter höher als das Brandenburger Tor, wie sie inzwischen wusste, hatte sie sich eingeschüchtert gefühlt. Ein netter Gerichtsdiener, den sie zufällig im Gang traf und der Corvus gut zu kennen schien – «Na, denn grüßen Sie den Meesta ma von mir!» –, hatte nämlich den Aktenstapel, mit dem er unterwegs war, schnell wieder in seinem Büro deponiert und sich Zeit genommen, der neugierigen Besucherin freimütig Auskunft zu geben. Er war unverkennbar stolz auf seinen Arbeitsplatz. Marie blätterte in ihrem Block zurück. Sie hatte eifrig stenografiert. «Wenn das größte Gericht Europas werktags gegen acht Uhr erwacht, treten unzählige Wachtmeister, Schreibkräfte, Putzfrauen, Kanzleiangestellte, Sachverständige, Archivare, Dolmetscher, Köche, Pförtner und viele, sehr viele studierte Juristen, Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, Nebenkläger ihren Dienst an.»
Jedenfalls war das Gebäude imposant. Das Haus blickte aus 158 Fenstern auf die Berliner Turmstraße. Als es um 1906 fertig dagestanden hatte, war es laut Maries Fremdenführer eines der ersten offiziellen Gebäude Berlins mit elektrischem Licht gewesen. «Fünftausend Glühlampen, sach ick Ihnen, da ist immer eine hin», hatte der Gerichtsdiener gesagt. Und es gab offenbar nichts zwischen Betrügereien, Sexualdelikten sowie Mord und Totschlag, was hier nicht schon vor den Richter gekommen wäre. Die Delinquenten wurden sauber abgeschirmt von der Welt, durch Geheimgänge vorgeführt, die das Gebäude wie Innereien durchzogen. Die riesige Haupthalle war von einem Reigen allegorischer Skulpturen bevölkert. Besonders die Figur der Lüge rechts in der Halle war Marie aufgefallen, wie sie, in Sandstein geschlagen und mit dem Fuchskopf bekrönt, hinter vorgehaltener Hand zur Streitsucht hinüberzischte. Aus deren Kopf hatte der kaiserliche Bildhauer Schlangen mit aufgesperrten Rachen wachsen lassen.
Maries Gedankenfluss wurde unterbrochen, denn der Gerichtsdiener rief jetzt diesen netten Kommissar Kappe als Zeugen auf. Corvus war noch immer nicht aufgetaucht. Ah, wenigstens redete der nette Kommissar laut und deutlich. Er sagte aus, was Marie schon vorher persönlich von ihm gehört hatte.
«Was ist Ihre Einschätzung? Glauben Sie, dass die Angeklagte etwas mit der Gladow-Bande zu tun hat?», fragte der Verteidiger.
«Einspruch!», meinte der Staatsanwalt. «Was Kriminaloberkommissar Kappe glaubt, ist hier nicht von Belang. Hier zählen nur Fakten.»
Der Vorsitzende Richter beugte sich vor. Marie notierte sich, dass sie noch nach seinem Namen fragen musste. «Namen sind wichtig, Regel Nummer eins», hatte Neuhaus ihr gestern in seinem Schnellkurs in Sachen Journalismus noch eingebleut und hinzugefügt: «Richtig geschriebene Namen. Lassen Sie sich alles buchstabieren! Immer! Auch wenn Sie meinen, Sie wissen, wie ein Name geschrieben wird. Das sind wir unseren Lesern schuldig. Da fängt die Glaubwürdigkeit einer Zeitung an, an solchen Sachen wird sie gemessen.»
«Einspruch abgelehnt», meinte der Richter. «Ich kenne Kriminaloberkommissar Kappe als erfahrenen Ermittler und vertraue seinen Einschätzungen. Haben Sie noch etwas dazu zu sagen, Herr Kriminaloberkommissar?»
Der Staatsanwalt zog ein beleidigtes Gesicht, der Verteidiger ein zufriedenes, und Kappe antwortete: «Ich habe jedenfalls nichts Nachteiliges und schon gar keine solche Vorgeschichte über die junge Dame herausfinden können. Gut, sie trifft in ihrem Beruf viele … Herren. Darunter sind sicherlich auch solche, die es mit unseren Gesetzen nicht so genau nehmen. Aber so, wie ich sie kennengelernt habe, ist sie ein anständiges Mädchen.»
«Ein anständiges Mädchen – dass ich nicht lache!» Die Stimme des Staatsanwaltes klang sarkastisch.
«Im Zweifel für die Angeklagte, Herr Kollege», meinte Verteidiger Peter Ostertag.
«Die Plädoyers sind jetzt noch nicht an der Reihe, Herr Doktor Ostertag», pfiff ihn der Richter zurück. «Außerdem fälle ich das Urteil. Und Sie werden mir wohl die Kenntnis der Gesetze zugestehen, oder?»
Peter Ostertag lief hochrot an. Marie begriff, dass er gerade gehörig in den Senkel gestellt worden war. Offensichtlich sah es der Richter als seine Aufgabe an, den Jungspunden vor Gericht gleich klarzumachen, wo hier der Hammer hing.
Gerade als sie das dachte, riss ein Gerichtsdiener die Türe auf. «Kommissar Kappe soll sofort kommen, ein aktueller Fall!», rief er in den Saal, ging dann zum Richtertisch und überreichte ein Schreiben. «Das kommt direkt aus der Friesenstraße.»
Der Vorsitzende Richter überflog es und nickte. «Dringliche Bitte des Polizeipräsidenten. Herr Kriminaloberkommissar, draußen warten zwei Herren auf Sie. Dann vertagen wir auf morgen. Acht Uhr, selber Ort. Und seien Sie bitte pünktlich, damit wir gleich als Erstes mit Ihrer Zeugenvernehmung weitermachen können!»
Marie schaute nachdenklich zu, wie der Kommissar aus dem Saal stapfte. Sie musste unbedingt noch einmal mit diesem Kappe reden. Vielleicht konnte er ihr in eher privatem Rahmen mehr zu diesem unvermittelt aufgetauchten Belastungszeugen namens Krug sagen. Andererseits – wieso auf morgen warten? Hier tat sich etwas Ungewöhnliches mehr. Und war sie nicht seit Neuestem Reporterin beim Tagesspiegel? Den Verteidiger konnte sie auch morgen noch treffen. Sollte doch dieser Corvus die notwendigen Fakten zusammensammeln! Irgendwann musste der ja vom Zahnarzt zurückkommen. Sie würde später versuchen, beim Tagesspiegel anzurufen und zu sagen, dass der Prozess vertagt worden war. Marie stand auf, warf John Weißbrod einen unschuldigen Blick zu und eilte aus dem Saal.
KAPITEL DREI
in dem Kappe sich mehrfach wundert
KAPPE besah sich den Toten auf dem Trümmergrundstück an der Wollankstraße. Die Haut hing ihm in Fetzen vom Gesicht, die Züge waren völlig entstellt, als habe jemand Säure darübergegossen. «Haben Sie den Mann schon mal gesehen, Jüterbog?»
Der Kollege vom Kriminalkommissariat Wedding war äußerlich der Typ Peter Pasetti. Immer wenn er ihn sah, musste Kappe an einen Film denken, den er letztes oder vorletztes Jahr zusammen mit Klara gesehen hatte: Die kupferne Hochzeit. Die Hauptrollen hatten Hertha Feiler und Hans Nielsen gespielt. Doch die Ähnlichkeit hörte auf, sobald Jüterbog den Mund aufmachte.
«Wie soll ich det sagn? So wie der aussieht, erkennt den selbst die eigene Mutter nich. Aber dit jibt Probleme. Wir ham mal so über’n Daumen jepeilt. Der liecht vamutlich halbe-halbe, die Sektorengrenze muss irgendwo zwischn Kopf und Beene verlaufn. Dabei ham wa schon Demse jenuch mit die vom Ostn.»
Kappe nickte gedankenverloren. Ja, dicke Luft herrschte schon eine ganze Weile zwischen ihnen und der Polizei Ost. Falls der Tote tatsächlich mit dem Kopf im französischen Sektor und mit den Beinen im russischen Sektor lag, würden die Kollegen aus dem Osten die Leiche auf jeden Fall für sich beanspruchen. Schon um den West-Berliner Kollegen eins auszuwischen. Aber abwarten. Erst mal musste die Frage geklärt werden, wo genau die Sektorengrenze verlief. In der Höhe des Brustkorbs, des Bauchs vielleicht oder weiter unten? Diejenigen, auf deren Staatsgebiet das größere Stück der Leiche lag, waren am Ende vermutlich die Zuständigen. Bis zur Klärung der Zuständigkeiten würden sie den Leichnam erst mal mitnehmen. Denn das konnte dauern.
Und so lange konnte der Tote ja nicht auf diesem Trümmergrundstück vor sich hin verwesen.
Kappe kannte und schätzte den Kollegen Jüterbog. Er hatte schon früher gut mit ihm zusammengearbeitet, unter anderem im Fall des Frauenmörders Kimmritz, der schließlich in der Badstraße gefasst worden war. «Dann ist er wohl aus dem Osten fortgelaufen und zumindest mit dem Kopf im Westen angekommen. Wissen wir schon, wann, woran oder wie der Mann gestorben ist? Und wer hat ihn gefunden?»
«Wie er gestorben ist? Vermutlich erschossen. Zwee Bengels ham ihn beim Spieln entdeckt. Wir ham sie schon vernommen. Stehn jetzt da drübn beim Kollegen Drewitz aus’m Osten. Sind völlig jeplättet. Ja, ja, die Ostler sind auch schon da. Der andere ist kurz wech, mal eben umme Ecke für, na, Sie wissen schon, nichtöffentliche Sitzung. Kommt aber gleich wieder.»
Warum sagte Jüterbog das so seltsam? Aber Kappe hatte jetzt andere Probleme, danach würde er sich später erkundigen. «Lassen wir die Jungs erst mal nach Hause gehn, wenn die Ostler mit ihnen fertig sind. Habt ihr denn schon damit angefangen, die Nachbarschaft zu befragen? Vielleicht hat der Mörder hier auf sein Opfer gewartet und ist dabei beobachtet worden. Wenn der Mann in den Westen wollte, wovon wir nach Lage des Körpers wohl ausgehen können, dann wohnt er vielleicht sogar hier im französischen Sektor.» Kappe sah sich um. «Nun ja, viel is hier nich mehr mit Nachbarschaft, wenn ich von den Ratten im Schutt mal absehe.»
Die Männer schauten sich einen Moment lang schweigend an, jeder mit seinen eigenen Erinnerungen beschäftigt. Der Bezirk Wedding hatte während des Krieges ziemlich gelitten. Und da 1945 bei der Schlacht um Berlin Schul-, See- und Badstraße tagelang die Hauptkampflinie gebildet hatten, waren am Ende des Krieges viele der Weddinger Gebäude zerstört oder schwer beschädigt.
Jüterbog schüttelte schließlich den Kopf. «Nee, hab noch niemanden losjeschickt. Ham uff Ihnen jewartet. Anordnung von oben.»
«Na, dann machen Sie mal! Ich denke, wir sollten auf jeden Fall die Nachbarn bis Stern- und Kattegatstraße befragen.»
Jüterbog nickte und sprach mit einem seiner Leute, der unverzüglich aufbrach.
Kappe und Jüterbog gingen hinüber zu den Kollegen aus der Friesenstraße. Piossek und Klingbeil, die ihn mit dem Mordauto vom Gericht abgeholt hatten, hatten sich, nachdem sie am Tatort angekommen waren, sofort an die Spurensicherung gemacht. Klingbeil von der Kriminaltechnik stellte gerade umständlich sein Stativ für die Tatortfotos auf.
Piossek untersuchte die Taschen des Toten und förderte eine Brieftasche zutage. «Na, da ham wir ja doch noch Papiere, wie es scheint. Komisch – jemand schüttet dem Mann erst Säure übers Gesicht, damit man ihn nicht so schnell erkennt, und vergisst dann, ihm die Papiere abzunehmen?»
Kappe ging in die Hocke, um sich den Fund anzusehen.
Ein Mann näherte sich der Leiche aus Richtung Osten und blieb bei den Füßen des Toten stehen. «Was machst denn du hier, Papa?», fragte er. «Das ist unser Fall.»
Kappe zuckte zusammen und richtete sich auf. «Haben sie dich jetzt strafversetzt in die Polizeiinspektion Pankow, ich meine das Polizeirevier 282 in der Breite Straße 41 a?», fragte er seinen Sohn, um Zeit zu gewinnen.
Hartmut Kappe blieb stumm.
«Was ich hier mache? Dasselbe könnte ich dich auch fragen, Hartmut», fuhr Kappe schließlich fort. Musste ausgerechnet sein Ältester hier auftauchen? Konnte es keiner der anderen ehemaligen Kollegen sein, die Dienst im Polizeipräsidium Ost taten? Doch es half nichts. «Das ist nämlich eindeutig unser Fall», fügte er dann energisch hinzu.
«Das sehe ich aber ganz anders! Nach Lage des Toten kam der Mann aus dem Osten. Also ist es ein Fall der Polizei Ost!»
«Aber Beine laufen nun mal nicht ohne einen Kopf. Also ist es ein Fall für die Polizei West, Junge. Das ist doch wohl klar!»
Beide Männer starrten einander schweigend an. Die anderen Kollegen hielten inne und beobachteten dieses außergewöhnliche Vater-Sohn-Duell. Vater und auch Sohn Kappe wussten, dass die Situation ihnen Probleme bereiten konnte. Weder im Osten noch im Westen sah man es gerne, wenn Kommissare Beziehungen zum Feind unterhielten – und schon gar nicht familiäre. Kappe senior war allerdings durch seine langjährige Polizeizugehörigkeit geschützt, während derer er seine dienstliche und politische Zuverlässigkeit mehr als einmal unter Beweis gestellt hatte. Er war nie in der NSDAP gewesen. Und mit Kappe junior, Kommissar bei der Kripo Ost, legte sich auch niemand gerne an. Ihm wurden besonders gute Beziehungen zu «seinem» Polizeipräsidenten nachgesagt.
Das Präsidium Ost residierte im Karstadthaus in der Neue Königsstraße unter Leitung von Paul Markgraf – die Westalliierten hatten ihn als Polizeichef abgesetzt, doch die Sowjets hatten ihn gehalten. Die Kriminalpolizei Ost war vorläufig noch in der Dircksenstraße geblieben, doch der Umzug war bereits abzusehen. Das Präsidium West in der Friesenstraße unter der Führung des früheren Markgraf-Stellvertreters Dr. Johannes Stumm hatte 1948 als eigenständige Institution die Arbeit aufgenommen, mit 9491 Polizeibeamten, 971 Hilfskräften und 2200 Wachpolizisten.
Inzwischen hatte sich Peter Drewitz demonstrativ zu Hartmut Kappe gesellt. Kappe senior nickte ihm zu. «Ah, Drewitz, Sie auch da! So sieht man sich wieder.»