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Früher waren sie ebenfalls Kollegen gewesen, wenn auch nicht lange. Drewitz war im Bezirk Tiergarten aufgewachsen, dann aber zu seiner großen Liebe in den russischen Sektor gezogen. Cherchez la femme, wie die Franzosen sagten. Sie hatten letztes Jahr geheiratet. Das war der Grund dafür, dass er nun ebenfalls zur Markgraf-Truppe gehörte – und nicht etwa, dass er ein besonders linientreuer SEDler gewesen wäre. Soweit Kappe gehört hatte, war der langersehnte Sprössling unterwegs. Doch man wusste nicht mehr so viel voneinander wie früher.
Kappe betrachtete seinen Ältesten. Hartmut fühlte sich ebenso wenig wohl in dieser Situation wie er selbst. Kein Wunder, sie standen auf feindlichen Seiten. So weit war es gekommen. Es wurde unter der Hand erzählt, in Ost-Berlin, nun Hauptstadt der DDR, seien die Kommunisten dabei, ihre Polizei den «Oststrukturen» anzupassen. Das hieß, es entstanden militärisch geführte Einheiten.
Kappe dachte wieder einmal, wie leid er dieser ständigen Animositäten war. Anfangs hatten sich die altgedienten Kollegen hüben wie drüben noch ausgetauscht und die Köpfe geschüttelt über die Politiker. Inzwischen aber hatte sich die Beziehung zwischen Ost und West bis auf Eiskellernivau abgekühlt. Es galt, wachsam zu sein, denn der Osten sollte ins Präsidium Friesenstraße mehr als nur einen Spion eingeschleust haben. Umgekehrt natürlich auch. Da tröstete es Kappe nicht, dass er als Kriminaloberkommissar, sehr zur Freude seiner Klara, 150 Mark mehr im Monat verdiente als vorher. Denn dafür zog sich der durch die Teilung verursachte Graben nun durch die eigene Familie. Er freute sich inzwischen sogar auf seinen Ruhestand. Kappe hasste es, innerhalb des eigenen Präsidiums jedes Wort auf die Goldwaage legen, genau bedenken zu müssen, wem er was mitteilte. Von den alten Gewissheiten und der früheren Gemeinschaft war nicht mehr viel übrig geblieben. Sogar Kollegen, die früher lange und gut zusammengearbeitet hatten, vertrauten einander nicht mehr. Das gegenseitige Misstrauen hatte jedoch nicht nur mit der Teilung zu tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele bei der Polizei aufgenommen worden, die dort eigentlich nichts verloren hatten. Man hatte praktisch jeden nehmen müssen, auch völlig Berufsfremde, um die Reihen wieder aufzufüllen. Und das in vielen Fällen ohne große Überprüfung, denn anfangs waren zahlreiche Akten einfach verschwunden gewesen, irgendwohin ausgelagert. Dann waren die Akten jedoch nach und nach aufgetaucht, und sie hatten feststellen müssen, dass auch der eine oder andere Verbrecher die Gunst der Stunde zu nutzen versucht hatte, um auf diese Weise eine weiße Weste zu bekommen. Das alles erschwerte die Arbeit ganz erheblich – ganz zu schweigen davon, dass die Möbel im Büro zusammengewürfelt waren und Papier auch nach Aufhebung der Berlin-Blockade noch immer Mangelware war und ihnen jedes Blatt vorgezählt wurde.
Kappe wusste, dass das nicht ging, aber er hätte seinen Sohn am liebsten in den Arm genommen, um die vergangenen Jahre zu überbrücken, die lange Zeit des Schweigens und der Angst, während sein Ältester in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen war, und auch diese unglückselige Grenze, die sie noch weiter voneinander entfernte. Ihm tat das Herz weh. Doch Hartmut würde sich nicht erweichen lassen. Er brauchte seine Arbeit. Seine Frau, die blondgelockte Straßenbahnschaffnerin Ingeborg, geborene Kramer, machte zwar gerade eine Ausbildung zur Straßenbahnführerin, hatte also beste Aussichten, doch die beiden erwarteten Nachwuchs. Und der kostete bekanntlich eine Stange Geld.
Sie sprachen miteinander nicht über Politik, blendeten das Thema aus, so gut es ging. Kappe empfand es als Tragik, dass er während der Zeit des Nationalsozialismus mit seiner Familie wegen deren Sympathie für Hitler nicht über seine Abneigung gegen die Nazis hatte sprechen können. Jetzt musste er sich schon wieder linientreu geben. Ebenso wie Hartmut. Nur die Linien waren andere. Man musste sich wieder einmal durchlavieren, sich irgendwie arrangieren. Privat Vater und Sohn, dienstlich … ja, was?
«Halt! Das geht so nicht! Das wird Folgen haben!», protestierte Drewitz lauthals in seine Gedanken hinein.
Kappe sah sich um. Klingbeil und Piossek waren dabei, Fakten zu schaffen. Zusammen mit Kommissar Jüterbog luden sie den Toten kurzerhand in das Mordauto. Kappe schaute seinen Sohn und den ehemaligen Kollegen traurig an und wandte sich dann ohne ein weiteres Wort ab. Das würden sie später klären. Wer die Leiche hatte, hatte den Fall.
Plötzlich eine weibliche Stimme: «Was ist hier los? Ist das ein Mord?»
Kappe fuhr herum. «Was tun Sie denn hier, Fräulein Palmer?»
Marie machte ihr unschuldigstes Gesicht. «Ich bin doch Berichterstatterin beim Tagesspiegel. Deshalb interessiert mich das hier …»
«Und woher wussten Sie, wo Sie mich finden?»
Sie deutete auf Piossek. «Der Mann, der Sie im Gericht abgeholt hat, hat es einem Gerichtsdiener gesagt, und von dem habe ich es erfahren. Ein netter Mann, dieser Gerichtsdiener, sehr auskunftsfreudig. Schicken Sie mich jetzt weg?», fragte sie mit einem treuherzigen Augenaufschlag.
Kappe schmunzelte in sich hinein. So unlieb war ihm die Gegenwart einer Berichterstatterin gar nicht. Solange sie hier war, würde es sicher keine verbissene Ost-West-Auseinandersetzung um diesen Toten geben. Auch Hartmut und Drewitz wussten natürlich, dass die Westzeitung Tagesspiegel daraus eine böse Schlagzeile gemacht hätte. «Nun ja, da Sie schon mal da sind … Aber das darf nicht zur Gewohnheit werden, Frolleinchen!»
Sie nickte. «Wo wollen denn die anderen hin?»
«Welche anderen?»
«Die, die gesagt haben, dass das ihr Fall sei.»
Kappe wandte sich wieder um. Er sah von Hartmut und Drewitz nur noch die Rücken. Das bedeutete keineswegs, dass sie aufgeben würden. Wahrscheinlich lag bei ihnen in der Friesenstraße demnächst ein Auslieferungsgesuch für die Leiche auf dem Tisch. Aber bevor sie wussten, wer der Tote war, lief da gar nichts. Sie würden den Ostkollegen ganz sicher keinen Westbürger ausliefern, egal, ob tot oder nicht. Moment, da waren doch diese Papiere … Kappe ging zu dem Kollegen Piossek, der nach vollbrachter Leichenentführung wartend neben dem Mordauto stand. «Und – was steht in den Papieren?»
«Ein Ausweis aus der Zone, leider. Wollte nur vorhin nichts sagen. Der Ausweis ist neu, aber das Foto ziemlich unterbelichtet. Vermutlich stammt es noch aus Kriegstagen. Es wundert mich, dass die Behörden das haben durchgehen lassen. Da steht, der Mann heißt Krug, Dieter Krug. Wir haben auch noch einen aufgerissenen frankierten Briefumschlag gefunden, leer, adressiert an ebendiesen Dieter Krug. Der Mann lebt demnach trotz Ausweis aus der Zone hier im Wedding. In der Siedlung des Spar- und Bauvereins Eintracht, am Nachtigalplatz. Da baun se derzeit, was das Zeug hält. Durch Fliegerbomben is da ’44 viel von den Häuserzeilen kaputtgegangen. Sie wolln die Siedlung sogar erweitern, hab ich gehört.»
Kappe atmete tief durch. «Die Siedlung heißt doch seit letztem Jahr wieder nach Friedrich Ebert und nicht mehr ›Eintracht‹ wie unter den Nazis, soweit ich weiß. Und das ist Jüterbogs Baustelle. Also nix mit ausliefern, ehe wir nicht mehr wissen», knurrte Kappe. Dann hielt er inne. Dieter Krug? Der Tote sollte genau so wie der Zeuge heißen, der die Prostituierte Jane dabei beobachtet haben wollte, wie sie sich an dem Überfall auf den Kaufmann beteiligt hatte? Konnte das ein Zufall sein? «Moment! Kann ich den Mann noch mal sehen?»
«Da die beiden Ostler weg sind, können wir ihn wieder ausladen und den Leichenwagen bestellen», antwortete Piossek. «Muss schwierig sein für Sie mit einem Sohn bei den Kollegen im Osten.»
Kappe sagte nichts dazu. Aber seine Kiefer mahlten.
Klingbeil gesellte sich zu ihnen. «Kappe, was ist los?»
«Ich muss den Mann noch mal sehen.»
«Aber das Gesicht ist doch völlig unkenntlich.»
«Nu macht schon!»
Kollege Jüterbog half beim Ausladen. Sachte, als könnten sie ihn verletzen, legten sie den Toten auf den Trümmerschutt.
«Hm», brummte Kappe und ging um den Körper herum. Dann schüttelte er den Kopf. «Ich glaube nicht, dass der Mann Dieter Krug heißt. Das ist ein anderer.»
«Stimmt», erklärte jetzt auch Marie Palmer und schlug gleich darauf die Hand vor den Mund.
Kappe fuhr herum. «Woher wollen Sie das denn wissen?»
Marie Palmer biss sich auf die Unterlippe.
Kappe schaute sie einen Moment lang an und nickte dann bedächtig. «Nun, ich denke mal, wir ham da einigen Gesprächsbedarf, kleines Frollein. Ich muss jetzt hier weitermachen. Aber morgen will ich Sie bei mir im Präsidium sehen!»
«Ich kann aber erst am späten Nachmittag. Ich muss doch in die Redaktion.»
«Ich werde Sie wohl nicht davon abhalten können, über die Geschichte hier zu schreiben, was?»
Marie lächelte zuckersüß. «Nein, das werden Sie wohl nicht können.»
Kappe grinste. «Dann will ich aber ganz genau wissen, was das für ein Dieter Krug ist, den Sie kennen, junge Dame.»
«Versprochen», sagte Marie.
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