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Erika Richter aus Pankow, Inhaberin des «Blumenhauses Erika», setzte sich als Letzte auf den wackligen Stuhl gegenüber Kappe, ihren kleinen Sohn Bernd an der Seite. Sie gab bereitwillig Auskunft. « Nee, da war niemand, hab niemanden kommen sehen. Is jeden Morgen das Gleiche: Erst kommt Wurst-Fritz, dann der alte Muffelkopp Schreiber und dann eben icke, die Blumen-Erika. Sie müssen wissen, den ersten Stand mit Blumen hat schon meine Großmutter Louise Auguste Friederike Lewerenz aus Wedding anno 1891 in der damals gerade erst gebauten Markthalle X eröffnet. Nach ihr war meine Mutter Helene Berg, verwitwete Runkwitz, geborene Lewerenz, aus Wandlitz an der Reihe. Hat ihr nüscht ausgemacht, dass sie jeden Tag so weit fahren musste. Na, und nun steht eben meine Wenigkeit bei den Blumen, Erika Berg. Und später, wenn ick mal alt bin, wird mein Berndchen hier übernehmen, wa, Bernd?»
Der Junge nickte. Er wirkte verstört. Kein Wunder, dachte Kappe.
«Muss der Bengel denn nich in die Schule?», erkundigte sich Kollege Hans-Gert Galgenberg.
Erika Berg schaute ihn anklagend an. «Klugscheißern, wa? Wenn Ihnen Schule so wichtich is, hätten Se uns auch früher drannehmen können. Aber nein, sie lassn ’ne alte Frau und ’nen kleinen Jungen warten bis zuletzt. Ick bin doch die Letzte, oder? Aba mal im Ernst, so einfach, wie Sie det sehen, is det nich. Jetze, vor Weihnachten, brauch ick jede Hilfe, die ich kriegen kann. Außerdem ist er krank. Nich wahr, Berndchen? Huste mal!»
Der Junge tat ihr den Gefallen.
«Und ab dem 22. sind sowieso Schulferien. Nach Weihnachten hat Berndchen dann noch bis 7. Januar Zeit sich zu erholen.»
Die Erfolglosigkeit der zurückliegenden Befragungen machte Kappe ungeduldig. Immer wieder die gleiche Prozedur: «Können Sie mir etwas zu dem Toten sagen? Kannten Sie ihn?»
«Na, Sie sind mir einer, Herr Kommissar! Wie sollte ick den überhaupt erkannt habn? Ick hab ja nur den Rücken gesehen und nicht das Gesicht.»
«Dann kommen Sie mit!», sagte Kappe ein weiteres Mal und marschierte los, um Blumen-Erika den Toten zu zeigen.
«Der Junge bleibt hier», meinte Lilli Lenné. «Ich pass so lange auf, bis Sie zurück sind. Das ist nichts für ein Kind. Schlimm genug, dass Ihr Sohn den Toten überhaupt gesehen hat.»
Blumen-Erika warf dem Kommissar einen zweifelnden Blick zu, auch sie schien nicht begeistert von der Aussicht, sich den erstochenen Clown noch einmal ansehen zu müssen. Als Kappe dann das Leinentuch von dessen Gesicht zog, schaute sie jedoch beherzt hin. Anschließend wiegte sie nachdenklich den Kopf.
«Wenn Sie ihn kennen, müssen Sie mir das sagen. Rücksichtnahme, auf wen auch immer, ist hier nicht angebracht.» Kappe hatte plötzlich das Gefühl, dass die Blumenfrau ihn einen Schritt weiterbringen könnte.
«Also, ick weiß nich. Könnten Sie nich mal die Schminke wegwischen, Herr Kommissar? Dann tät ick mehr sehen.»
Die aufgeflammte Glut der Hoffnung erkaltete. «Das geht nicht, er muss erst ins gerichtsmedizinische Institut.» Kappe machte eine Pause und dachte nach. «Was halten Sie von folgendem Vorschlag: Wenn der Tote untersucht worden ist, wischen wir die Schminke ab und machen ein Photo. Damit kommen wir bei Ihnen vorbei. Mein Kollege Galgenberg wird Ihre Adresse notieren.»
«Braucht er nich, ick bin sowieso jeden Tag hier. Oder glauben Sie, ick kann meine Blumen einfach so allein lassen? Die müssen gegossen werden.» Blumen-Erika stockte. «Na, hoffen wir mal, dass von den Schnittblumen wenigstens einige halten, bis die Halle wieder geöffnet wird. Wer zahlt mir eigentlich den Verdienstausfall?»
Das konnte ihr Otto Kappe auch nicht sagen, versprach aber sich zu erkundigen – obwohl er sich fast sicher war, dass eventuelle Verluste an den Händlern hängenbleiben würden. Er wollte sich jedochdas Wohlwollen von Blumen-Erika vorerst nicht verscherzen. Zumindest so lange, bis er ihr das Photo gezeigt hatte. «Ihre Adresse brauchen wir trotzdem», beharrte er. «Und außerdem müssten Sie zur Ansicht des Photos ins Revier 24, Oldenburger Straße 1, kommen.» Er blickte zu Hauptkommissar Schulz, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte. «Ist das in Ordnung, Herr Kollege?»
Schulz nickte. «Geht klar. Ich habe zwar keinen Dienst, aber ich werde meinen Stellvertreter informieren, Polizeikommissar Ernst Gehler. Sie kennen ihn.»
«Kenn ich, kenn ich. Frau Richter, kommen Sie morgen, sagen wir, gegen halb zehn, aufs Revier. Mein Kollege Galgenberg und ich stoßen am besten gleich dazu. Bis dahin sollten wir Abzüge des Porträtphotos haben. Und falls Sie uns nicht weiterhelfen können, müssen wir in den sauren Apfel beißen und auch die anderen Marktbeschicker einbestellen.»
Schulz sah nicht begeistert aus, nickte aber.
«O heiliger Bürokratius!», stöhnte Blumen-Erika, während sie gemeinsam mit Kappe zum provisorischen Vernehmungszimmer zurückmarschierte. «Als ob ick nüscht anderes zu tun hätte!»
«Haben Sie doch auch nicht», meinte Kappe nicht allzu freundlich. «Die Halle ist gesperrt, bis die Kollegen von der Spurensicherung fertig sind. Auch für Sie. Blumen hin oder her.» Dann fiel ihm auf, dass etwas mehr Verbindlichkeit angebracht wäre. Sie waren inzwischen wieder im Vernehmungszimmer angelangt. Kappe wandte sich Berndchen zu und meinte augenzwinkernd: «Du, mein Junge, kannst morgen also ruhig in die Schule.»
«Och, kann ich bei der Spurensicherung nicht zugucken?», fragte Bernd hoffnungsvoll.
«Nee, leider nicht», mischte sich Galgenberg ein. «Alle müssen raus aus der Halle, sonst werden noch mögliche Spuren verwischt. Aber ick denk mal …», er schaute in Richtung Otto Kappe, «… bis übermorgen müsste allet erledigt sein. Dann kannste zu uns kommen, und Fräulein Lilli Lenné wird dir allet haarklein erzählen. Bis dahin gehst du aber schön brav in die Schule.»
«Ehrlich?»
«Ehrlich.»
Lilli Lenné lächelte den Jungen an und nickte. «Klar.»
Bernd strahlte sie an, und Kappe dachte, dass Lilli anscheinend auf kleine Männer dieselbe Wirkung hatte wie auf große.
Am Abend, als Rechtsmediziner König mitsamt dem Toten längst abgezogen war, als sich die Abenddämmerung über die Halle senkte, in den umliegenden Häusern die Lichter angingen, die Stimmen der Menschen, die hektischen Rufe nach und nach verstummten und die Mäuse darauf warteten, dass auch die letzten Menschen endlich verschwanden, sagte Otto Kappe zum Kollegen Galgenberg: «O je! Viel Aufwand – und keinen Schritt weiter.»
«Lass man, Kappe, ick hab im Urin, det uns diese Blumen-Erika weiterbringen wird. Die hatte so was im Blick. Als würde sie den Toten kennen, aber nichts Falsches sagen wollen.»
«Meinst du?»
«Mein ick.»
Dienstag, 13. Dezember 1960
AM NÄCHSTEN TAG brachte Blumen-Erika die Ermittlungen tatsächlich weiter. Lange und ausgiebig betrachtete sie auf dem Revier in der Oldenburger Straße das Photo des Toten. Die blauen, etwas engstehenden Augen, die niedrige Stirn, die Nase, die auch ohne die rote Clownsknolle wie eine Kartoffel aussah. Die typische Nase eines Gewohnheitstrinkers. Nach einer Weile nickte sie. «Hab auch daheeme noch mal nachgedacht. Der kam mir irjendwie bekannt vor. Ja, den kenn ick. Der hat früher immer mal wieder als Bote in der Arminiushalle ausgeholfen. Hab ihn aber schon länger nich mehr gesehen. Der war etwas seltsam, und als dann bei einigen Händlern Geld wegkam … Na ja, wir konnten es ihm nie beweisen. Jedenfalls hieß der Ernst … ne, Erich … ne, irgendwas mit K. Genau, Karl Jarusch! Hat gesagt, er sei Alleinunterhalter in so einem Varieté, den Namen weiß ick nich mehr, und verdiene sich in der Halle nur was dazu. Na, Unterhaltung hatten wir jedenfalls mit dem, und das nicht zu knapp. Hat immer geprahlt, dass er ein berühmter Hochseilartist gewesen sei. Wird wohl vom Seil gefallen sein, womöglich auf ’n Kopp, bei den Mengen, die der gesoffen hat. Jedenfalls hat er gehinkt. Und neulich hat mir Wurst-Fritz, also der Fritz Fechner, gesagt, der Jarusch sei wiederaufgetaucht. Ganz plötzlich. Habe händeringend um Arbeit gebeten. Da ham se ihn bei der Stadt wieder als Boten genommen. Also, wenn Se mich fragen, ick hätte das nich getan.» Blumen-Erika biss sich auf die Lippen. «Aber über Tote soll man ja nicht schlecht reden, wa.»
Otto Kappe schaute nachdenklich. So so, Fechner hatte also erst unlängst mit Blumen-Erika über den Clown geredet – und wollte ihn als Toten trotzdem nicht erkannt haben? Hatte Wurst-Fritz vielleicht ein Motiv, den Kerl zu erstechen? Allerdings konnte er es kaum gewesen sein, er hatte ein Alibi: Zusammen mit Eugen Schreiber hatte er vor der Halle eine Zigarette geraucht, als jemand den Mann umgebracht hatte. Zumindest hatten die beiden das ausgesagt. Der Lage der Dinge nach, oder besser, der des Toten und der Anordnung und Konsistenz der Blutflecke nach, schied ein anderer Tatort als Fechners Fleisch- und Wursttheke aus.
Jarusch hieß der Mann also. War angeblich ein suspektes Subjekt gewesen. Schulz und seine Leute würden das Photo auf jeden Fall auch den anderen Standbetreibern vorlegen und diese eingehend befragen müssen. Die waren nicht aus dem Schneider. Von denen konnte sehr wohl einer zur Tatzeit in der Halle gewesen sein und sich dann verdünnisiert haben. Die Händler kannten sich in der Halle und deren Eingeweiden aus verschlungenen Gängen gut aus. Der Täter war nach dem Mord vielleicht sogar frech vor der Halle aufgetaucht und hatte Einlass begehrt. So hätte Kappe es jedenfalls gemacht. Und trotzdem – dass Fechner den Toten nicht kennen wollte, war schon seltsam. Nun ja, immerhin hatten der Tod und die Schminke dessen Gesicht verändert.
Es gab jedenfalls jede Menge Arbeit. Galgenberg und er würden sich mit dem Umfeld des Erstochenen beschäftigen. Jarusch war angeblich ein hinkender Bote und ein ehemaliger Artist gewesen, eventuell aus dem Varieté. Diesbezüglich tat sich in einer Stadt wie Berlin eine ganze Welt von Möglichkeiten auf.
Zurück im eigenen Büro in der Gothaer Straße, beraumte Kappe erst einmal eine Lagebesprechung an. «Wie viele Varietés mag es in Berlin wohl geben?», fragte er. Die Zahl der Angesprochenen war höchst überschaubar: Günter Kynast, Gerhard Piossek und Jürgen Rückert waren bis über die Halskrause mit anderen Fällen beschäftigt, es blieb also von der üblichen Truppe nur Hans-Gert Galgenberg. Dazu kam Fräulein Lilli Lenné von der Weiblichen Kriminalpolizei. Vorerst allerdings nur, um zu erläutern, was sie bisher herausgefunden hatte. Es war offiziell noch nicht vorgesehen, dass die Kollegin die Ermittlungen unterstützen sollte. Eigentlich. «Also, eine Idee?»
Kopfschütteln.
«Weiß einer von euch, wie viele Zirkusse es derzeit in Berlin gibt?»
Kopfschütteln.
«Die können sonst wo sein, viele ziehen ja rum», merkte Hans-Gert Galgenberg an. «Und det mit den Varietés is in Berlin och ein weites Feld.»
«Auf die Zirkusse trifft das eher nicht zu», meinte Kriminalmeisterin Lilli Lenné. «Die meisten sind momentan in ihrem Winterquartier, auch diejenigen, die in Berlin-West residieren. Und das können nicht viele sein, denn das Reisen ist von hier aus schwierig. Wagen und Tiere müssten durch die Zone, um in den Westen zu kommen. Mit Sonderzügen oder so. Mir fällt spontan jedenfalls nur einer ein: Zirkus Reiz. Ist ein Familienunternehmen, ’ne kleine Klitsche. Ich glaube, die haben ihr Quartier in Kladow, auf einem alten Bauernhof. Und soweit ich weiß, reisen die auch nicht aus, sondern tingeln durch die West-Berliner Stadtteile. Davon können die ganz gut leben, sie haben ja nicht allzu viel Konkurrenz. Sind übrigens alle weitläufig verwandt mit der berühmten Seiltänzerfamilie Ernst Jacob Reiz.»
Die Augen von Hans-Gert Galgenberg begannen zu funkeln. «Ist det der, der kurz vor der Jahrhundertwende als Multimillionär gestorben ist? Mein Großvater, der olle Gustav Galgenberg, hat mir viel von ihm erzählt, der mochte Zirkus bekanntlich in jeder Form. Reiz muss ’n beeindruckender Mann gewesen sein, er soll sogar ein Ehrengrab des Landes Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gekriecht ham.»
«Ach, der olle Galgenberg», sagte Otto Kappe mehr zu sich selbst und dachte an seinen Onkel Hermann Kappe, Kriminaloberkommissar a. D., der nun schon seit fast sechs Jahren im Ruhestand war und die Füße noch immer nicht stillhalten konnte, trotz Rheuma und allerlei anderen Gebrechen, die das Alter mit sich brachte. Galgenberg eins und Kappe eins waren ein legendäres Gespann bei der Berliner Kriminalpolizei gewesen. Jetzt hatten Gustavs Enkel Hans-Gert, also Galgenberg zwei, und er selbst, Hermanns Neffe Otto, also Kappe zwei, übernommen.
«Genau den Reiz meine ich», bestätigte Kriminalmeisterin Lenné. «Übrigens gibt es sicher ein Verzeichnis der in Berlin-West ansässigen Zirkusse und Varietés. Falls wir da nicht fündig werden, müssten wir in der Zone weitersuchen. Und dann wird’s kompliziert.»
«Hm», sagte Otto Kappe. «Aber auch dafür werden wir eine Lösung finden. Galgenberg, du klapperst erst mal die Varietés ab!»
Der schaute bedröppelt. «Alle? Ick meine, ick mag ja hübsche Damen und so, aber det könnte dauern.»
«Zunächst brauchst du nur anzurufen, den Namen des Toten haben wir ja. Der könnte natürlich falsch sein, muss aber nicht. Wenn wir damit nicht weiterkommen, müssen wir doch mit dem Photo die Etablissements aufsuchen.»
«Dann brauchen Sie aber Verstärkung», meinte Lilli Lenné.
Otto Kappe zog die Stirn in Sorgenfalten. «Sie sagen es, Sie sagen es. Da fangen die Probleme schon an. Ich hätte Sie bei diesem Fall gerne dabei. Meinen Sie, es gibt eine Möglichkeit, Sie für diese Ermittlungen von der Weiblichen Kriminalpolizei loszueisen? Sie kennen sich mit Zirkussen ja offenbar aus. Ich finde, sie sollten sich um diesen Zirkus Reiz kümmern.»
«Lassen Sie mich nur machen, ich krieg das schon hin.» Kriminalmeisterin Lenné sagte dies mit einer solchen Entschlossenheit, dass Kappe ihr sofort glaubte.
«Und du, wat machst du?», fragte Hans-Gert Galgenberg.
«Ich werde herausfinden, ob es über diesen Jarusch eine Akte gibt.»
Es gab keine Akte. Jarusch hatte keinerlei Vorstrafen. Und selbst nachdem Galgenberg alle Varietés in West-Berlin abtelefoniert hatten, waren sie kein Stück weiter. Kappe sah sich bereits mit schmerzenden Füßen und durchgelaufenen Sohlen durch die Stadt tigern und das Photo des Toten herumzeigen.
Die Einzige, die eine gute Nachricht mitbrachte, war Lilli Lenné. «Ich habe mich loseisen können und war auch gleich beim Zirkus Reiz. Dort habe ich einfach nach einem Karl Jarusch gefragt, natürlich ohne zu sagen, dass der tot ist. Eigentlich sind das ganz nette Leute. Der Herr Direktor gibt sich vielleicht ’n bisschen bombastisch. Die kennen tatsächlich einen Karl Jarusch. Der habe bei ihnen ausgeholfen, sei aber eines Tages ganz plötzlich unter Mitnahme der gesamten Wocheneinnahmen verschwunden, hieß es. Sie vermuten, dass er aus der Zone kam und dahin auch wieder verschwunden ist. Oder dass er sich einem reisenden Zirkus angeschlossen hat. Sie sagen, es passiere nicht selten, dass Leute, die etwas ausgefressen haben, sich bei einem Zirkus verstecken. Zirkusse ziehen weiter, Menschen mit ihnen, und auf diese Weise verschwinden sie. Natürlich lassen sich die Direktoren die Ausweise zeigen, und es finden Polizeikontrollen statt, trotzdem passiert es immer wieder.»
«Haben bei Reiz Polizeikontrollen stattgefunden, als sich dieser Jarusch dort aufhielt? Hat der Mann Familie, Freunde, hat er von sich erzählt? Weiß man mehr über ihn?»
«Nein», antwortete Kriminalmeisterin Lenné. «Nur, dass er sich offenbar gerne am Eigentum anderer Menschen vergreift.»
«Hat die Familie Reiz denn nicht Anzeige erstattet?»
«Hat sie nicht. Wie es aussieht, halten die bei Reiz nicht besonders viel von den Fähigkeiten der Polizei. Das scheint aber nicht auf schlechten Erfahrungen zu beruhen. Ich habe mal nachgeforscht, ob wir was über Reiz haben. Es gibt nichts. Der hat eine saubere Weste, weiß wie frisch gefallener Schnee, ich konnte das anfangs kaum glauben. Die Leute von Reiz blieben mir gegenüber übrigens ziemlich bedeckt. Bis auf den Herrn Direktor. Der hat mir angeboten, bei ihm anzufangen, wenn es mir bei der Polizei nicht mehr gefallen sollte.» Kriminalmeisterin Lenné hatte eine Art zu kichern, bei der einem nichts anderes übrigblieb, als unwillkürlich einzustimmen. Wenn andere das taten, missbilligte Kappe das allerdings entschieden. Er schalt sich einen Idioten, beschloss aber, künftig bei allem mitzumischen, was diesen Zirkus und dessen Direktor betraf.
«Können die sich vorstellen, warum jemand Jarusch abmurksen wollte? Andererseits, könnte det nich sein, dass die Leute vom Zirkus sich für den Diebstahl des Geldes gerächt und Selbstjustiz geübt ham?», sinnierte Galgenberg. «Vielleicht haben sie Jarusch in der Arminiushalle aufgetrieben, es kam zum Streit, und denn tauchte plötzlich ’n Messer auf. Falls hier jemand an meiner unmaßgeblichen Meinung interessiert is.»
Otto Kappe nickte. «Eine mögliche Theorie.»
Kriminalmeisterin Lenné schaute plötzlich sehr nachdenklich. «Zirkusdirektor Reiz ist ein ziemlich kräftiger Mann. Und er betätigt sich auch als Messerwerfer. Seine Frau steht dabei an der großen Scheibe. Ein bemerkenswertes Ziel.»
«Wieso bemerkenswert?», erkundigte sich Galgenberg.
Fräulein Lenné kicherte erneut. «Na, sie ist nicht die Schönste, ziemlich dürr dazu. So wie ich das sehe, ist der werte Gatte kein Kostverächter, was Frauen angeht. Der platzt bald vor lauter Eigenliebe und Selbstbewusstsein. Also, mit Messern kennt er sich jedenfalls aus. Ganz von der Hand weisen würde ich die Theorie des Kollegen Galgenberg nicht.»
«Nur, wie sollte einer von denen unbemerkt in die Halle rein- und wieder rausgekommen sein?», hakte der Gelobte selbst nach.
«Tja, das ist eine gute Frage. Das ist überhaupt die Schlüsselfrage. Mal abgesehen von der Frage, wer ein Motiv gehabt haben könnte, den Mann umzubringen. Unter Umständen gibt es noch mehr Leute, die er beklaut hat.»
«Aber wegen ein paar Mark bringste doch niemanden um», wandte Galgenberg ein.
«Wir hatten schon Fälle, da ging es um 50 Pfennige», meinte Kriminaloberkommissar Kappe. «Am besten bestellen wir einen nach dem anderen von diesem Zirkus zu uns. Vielleicht sind die Herrschaften hier auf dem Revier etwas zugänglicher. Haben wir eigentlich schon was von der Spurensicherung gehört? Haben die irgendeinen Anhaltspunkt in der Halle gefunden? Was sagt König? Gab es Besonderheiten an der Leiche, die uns weiterbringen?»
«Gibt noch nüscht wirklich Neues», antwortete Galgenberg. «König hat nur bestätigt – ziemlich widerwillig, soweit ick det beurteilen kann, den Kerl und seinen komischen Dialekt versteht ja keiner –, was wir schon in der Halle besprochen hatten: Der Clown kann erst wenige Minuten tot gewesen sein, als Fechner und Schreiber ihn fanden. Die Tat hat also maximal eine Zigarettenlänge gedauert, fünf Minuten oder so. Wenn man langsam pafft, vielleicht sieben. Mehr haben König und seine Leute noch nich zu bieten. So wat dauert eben.»
Das Gefühl hatte Otto Kappe auch.
Rückblende: Ostermontag, 18. April 1960
AM HAUPTEINGANG DES ZOOLOGISCHEN GARTENS an der Budapester Straße begrüßte das von Fritz Behn in Granit gehauene Denkmal des massigen Gorillas Bobby die Besucher. Während seines Daseins im Zoo von 1928 bis 1935 war Bobby zu einem Riesen von 266 Kilogramm herangewachsen und zum Liebling der Berliner geworden. Nun hütete er massig und unbeweglich seine ehemalige Wirkungsstätte.
Die Vögel zwitscherten, die Bäume begannen zu grünen. Noch gehörte der Zoo den Tieren. Doch bald würden die Berliner kommen, lachende Menschen mit glücklichen Feiertagsausflugsgesichtern. Holger Gericke nahm weder die ersten Anzeichen des Frühlings noch die gefärbten Eier an Forsythienzweigen wahr. Sein Kopf war so voll von Gedanken und Sorgen, dass er zu platzen drohte, sein Herz war schwer. Gericke war froh, dass er trotz des Feiertags Dienst hatte. Das lenkte ab.
Die Zeitungen hatten neulich gemeldet, dass die Kollektivierung der Landwirtschaft im anderen Deutschland inzwischen fast abgeschlossen sei. Holger Gericke hatte nur kurz darüber nachgedacht und sich gefragt, wie es den alten Freunden wohl gehen mochte, bei denen sie in der Nachkriegszeit hamstern gewesen waren. Auch in Westdeutschland bahnte sich bezüglich der Versorgung eine Veränderung an: Die Amerikaner stellten das Verschicken von Carepaketen ein. Doch diese Themen traten in den Hintergrund vor der einzig bangen Frage, die immer wieder in seinem Kopf kreiste: Wie sollte es mit der Familie weitergehen?
Sie waren hinterhältig betrogen worden.
Die Wohnung gehörte gar nicht dem vermeintlichen Freund Karl Jarusch. Der hatte sie nur von jenem wütenden älteren Herrn gemietet, der ihnen am ersten Tag begegnet war, und sich mit vier Monatsmieten im Rückstand, aber ohne Hinterlassung einer Adresse vom Acker gemacht. Friedrich Merz, so hieß der zunächst äußerst aufgebrachte Wohnungsinhaber, hatte die Mietrückstände anfangs bei den Gerickes eintreiben wollen. Als diese ihm jedoch ihre Geschichte erzählt und Merz erfahren hatte, dass sie bereits drei Monatsmieten an Jarusch gezahlt hatten und um ihre gesamte Habe geprellt worden waren, hatte sich sein Gesichtsausdruck von ärgerlich zu mitfühlend verändert. «Also gut», hatte er schließlich gesagt, «ich hab noch drei Matratzen, die können Sie haben. Bis auf weiteres. Ich bin Rentner, ich brauche das Geld und muss die Wohnung wieder vermieten. Bis ich einen neuen Mieter gefunden habe, können Sie aber bleiben. Ich sehe ein, dass Sie jetzt nichts zahlen können. Ich würde ihnen die Miete stunden. Haben Sie Arbeit?»
Ja, wenigstens das. Er hatte Arbeit.
Wie immer, wenn er morgens in den Zoologischen Garten kam, machte Holger Gericke einen kleinen Rundgang, vorbei an den Störchen, vorbei am Affenhaus gleich neben dem Affenfelsen, am «Vierwaldstätter See», am Gelände für die Schafe. Er begrüßte den Eisbären Schorsch und den Braunbären Schwips in der Bärenburg, sagte danach Nilpferd Knautschke und dessen Tochter Boulette hallo, ehe er nach einem Besuch bei Shanti, dem Elefanten, den der indische Ministerpräsident Pandit Nehru dem Zoo geschenkt hatte, seinem eigentlichen Ziel zustrebte: dem Raubtiergehege. Shanti schwenkte den mächtigen Schädel, als Gericke vorbeiging. Der Elefant war ein in sich ruhender Berg. Shanti bedeutete Friede. Und Frieden, hoffte Holger Gericke, würden er und seine Familie hoffentlich bald finden.
«Ah, da sind Sie ja! Haben Sie sich gut eingelebt bei uns? Ich höre viel Gutes von Ihnen. Wenn Sie sich weiterhin so geschickt anstellen, könnten wir Ihnen eine feste Stelle anbieten.»
Holger Gericke schrak aus seinen Gedanken hoch und sah sich Direktor Heinz-Georg Klös gegenüber. Hatte der Mann niemals frei?
Klös lächelte ihm zu. «Na, was sagen Sie zu meinem Ostergeschenk? Würde es Ihnen gefallen, von der Aushilfe zum Pfleger aufzusteigen und insbesondere die Verantwortung für unsere Löwen zu übernehmen?»
Gericke war wie vom Donner gerührt. Er konnte sein Glück kaum fassen und rang um die richtigen Worte. «Aber Fred … Ich meine, was ist mit ihm?»
«Fred Trautschke hat gekündigt, er wird zur bekannten Löwenzucht des Leipziger Zoos wechseln. Diese Herausforderung reizt ihn, was ich gut verstehen kann, auch wenn ich ihn ungern ziehen lasse. Er hat Sie uns als seinen Nachfolger empfohlen. Aber Sie sagen ja gar nichts. Wollen Sie nicht?»
Jetzt kam Bewegung in Holger Gericke. Damit wären alle ihre Probleme gelöst! Sie könnten die Wohnung von Merz mieten, er könnte seine Familie ernähren, und der größte Wunsch von Anita, endlich ein gemeinsames Leben mit einem Mann zu führen, der nicht monatelang mit einem Zirkus durch die Lande zog, würde sich erfüllen. «Doch», sagte er und schluckte. «Doch, sehr gerne!»
«Das ist fein. Sie hören in Bälde von uns», meinte Heinz-Georg Klös, nickte Holger Gericke freundlich zu und schlug den Weg in Richtung Karussell ein. Dann wandte er sich noch einmal um. «Übrigens, Sie sollten nachher gut aufpassen, Sultan hat ausgesprochen schlechte Laune: Zahnweh. Also sollten Sie nicht in den Löwenkäfig, wie Sie das sonst so gerne machen. Sie arbeiten hier nicht als Dompteur. Gleich kommt auch der Tierarzt. Sie werden ihm helfen müssen. Fred sagt, wir müssen den kaputten Zahn ziehen. Das bedeutet womöglich Betäubung. Könnten Sie so lange dableiben, bis Sultan wieder aufgewacht ist?»